Die Stichwahl in Rumänien ist kein gewöhnliches Duell. Sie ist ein Bekenntnis zu den Grundlagen der freien Gesellschaft. Am 18. Mai stehen sich zwei Männer gegenüber, die kaum gegensätzlicher sein könnten: Nicușor Dan, Mathematiker, Bürgerrechtler, ein leiser Technokrat mit westlicher Orientierung – und George Simion, ein nationalistischer Populist, laut, aggressiv, anti-europäisch, getragen von Wut und Straßenprotest.
Doch diese Stichwahl ist mehr als ein personelles Kräftemessen. Sie ist ein Votum über die Grundlagen, auf denen Rumäniens Zukunft gebaut werden soll: die Westbindung, die Zugehörigkeit zu EU und NATO, die Marktwirtschaft, die Demokratie, den Rechtsstaat, den politischen und gesellschaftlichen Pluralismus. Diese Werte sind nicht verhandelbar. Wer sie erhalten will, hat nur eine Wahl: Nicușor Dan.
Man muss die Dinge beim Namen nennen: George Simion ist kein Kandidat wie jeder andere. Simion schrie einer Frau, seiner zeitweiligen Allierten Diana [o{oac˛, öffentlich ins Gesicht: „Ich belästige dich sexuell, du Schlampe.“ Es ist bezeichnend – und bedrückend –, dass gerade erwachsene Frauen versuchten, diesen Ausbruch mit plumpem Victim-Blaming kleinzureden. Simion bedrängte Minister im Parlament, schrie sich mit Megafon ins Rampenlicht, setzte sich mit Leuten ins Boot, die Putin als „Patrioten“ loben, europäische Gelder ablehnen, nationale Autarkie propagieren und mit wirtschaftlichen Fantasien spielen. Besonders alarmierend: Simion positioniert sich als Steigbügelhalter für Călin Georgescu, den offensichtlich irren Extremisten, der offen russlandfreundliche Positionen vertritt, Verschwörungstheorien verbreitet und vom Westen als Gefahr wahrgenommen wird. Simion möchte Georgescu zum Premierminister machen – eine Personalie, die Rumäniens internationalen Ruf irreparabel beschädigen und innenpolitisch eine autoritäre, nationalistische Wende einläuten würde.
Eine Regierung mit Călin Georgescu an der Spitze würde Rumänien auf Konfrontationskurs mit der Europäischen Union und der NATO bringen. Georgescu hat mehrfach durchblicken lassen, dass er Rumänien aus internationalen Verpflichtungen herauslösen will, dass er eine radikale „nationale Erneuerung“ anstrebt, die auf Isolation, Abschottung und antiwestlicher Rhetorik beruht. Die Folge wäre nicht nur ein politischer Kurswechsel – es wäre ein massiver wirtschaftlicher und diplomatischer Schaden: ausbleibende europäische Gelder, eine Schwächung des Rechtsstaats, der Verlust internationaler Partner, ein rasanter Machtzuwachs nationalistischer Netzwerke im Inneren. Ein Premierminister Georgescu würde all jene Bestrebungen bündeln, die Rumänien aus der europäischen Ordnung herausbrechen lassen wollen.
Doch der Vormarsch des Autoritarismus geschieht nicht nur, weil Nationalisten lauter werden. Er geschieht auch, weil viele, die ihn verhindern könnten, müde geworden sind.In Rumänien sind es die urbanen, gebildeten, progressiven Schichten – oft als „Tefelisten“ bezeichnet –, die nach Jahren der Enttäuschung in eine gefährliche Lethargie verfallen. „Wir wandern aus.“ „Es hat doch alles keinen Sinn.“ „Wir wussten es ja.“ Diese Haltung verkennt: Demokratie garantiert kein Happy End. Sie ist kein Automat, der zuverlässig die besten Ergebnisse liefert. Sie ist ein mühsamer, ständiger Kampf. Wer sich enttäuscht zurückzieht, überlässt das Feld jenen, die mit einfacheren Antworten, härterem Ton und größerer Lautstärke antreten. Besonders problematisch ist das Lager derer, die sehr wohl wissen, was Simion bedeutet, aber trotzdem nicht für Dan stimmen wollen. Weil Dan einmal eine Genehmigung verweigert hat. Weil er als technokratisch und elitär gilt. Weil man irgendwo gelesen hat, er sei „Soros-finanziert“ und deshalb Teil einer „Soros-Verschwörung“. All diese Gründe sind nachvollziehbar – und in diesem Moment doch irrelevant. Wenn die Alternative der Sieg einer Bewegung ist, die fundamentale demokratische Regeln ablehnt, wird die eigene Kränkung zum Luxusproblem. Es geht nicht darum, ob Dan sympathisch oder perfekt ist. Es geht darum, ob Rumänien als freie Gesellschaft überlebt.
Rumäniens Parteienlandschaft ist nicht am Ende, weil Parteien als Institution versagen. Sie ist am Ende, weil sich die großen Parteien – PSD und PNL – in einem Netz aus Verwandtschaften, alten Seilschaften, Abhängigkeiten verfangen haben. Berufspolitiker ohne Qualifikation, ohne Überzeugungen, ohne Zukunft im Privatsektor besetzen die Machtstrukturen. Das macht das System anfällig für populistische Angriffe. Solange Parteien keine fähigen Köpfe nach vorne lassen, werden Populisten wie Simion die Unzufriedenheit aufgreifen. Das ist eine gefährliche, aber logische Entwicklung.
Dabei hätte George Simion in dieser Stimmung eine große Chance gehabt. Doch er hat sie selbst verspielt. Seine Kampagne war so schrill, aggressiv und inhaltsleer wie er selbst. Es gibt nur eine begrenzte Zahl an „Vaterland“ und „Familie“-Parolen, die man in einen Satz packen kann, bevor die Botschaft leerläuft. Dass Simion Debatten verweigert, obwohl er zuvor sein ganzes politisches Leben mit dem Megafon in der Hand bestritten hat, wirkt nicht wie Souveränität – sondern wie Feigheit. Das ist Nicușor Dans Chance: nicht, weil er makellos wäre, sondern weil er der einzige Garant ist, dass die demokratischen Spielregeln überhaupt weiter gelten.
Fast neun Millionen Rumänen haben in der ersten Runde nicht abgestimmt. Sie sind der Schlüssel zu dieser Wahl. Sie blieben nicht aus Gleichgültigkeit zu Hause, sondern aus Frust, aus Abscheu gegenüber der Politik, aus Ohnmacht. Aber diesmal steht mehr auf dem Spiel. Diesmal geht es nicht um die persönliche Enttäuschung. Diesmal geht es um die Frage, ob man bereit ist, über den eigenen Frust hinauszuwachsen, um die Grundlagen der eigenen Gesellschaft zu verteidigen. Es gibt Momente, in denen Gesellschaften sich entscheiden müssen, was sie nicht verhandeln. Viktor Frankl, der Holocaust-Überlebende, schrieb:„Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“ Am 18. Mai wird Rumänien genau diese Freiheit ausüben: zu wählen, was nicht verhandelbar ist. Es geht um die Westbindung. Um die Zugehörigkeit zu EU und NATO. Um Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Demokratie, gesellschaftlichen Pluralismus. Es geht nicht um Nicu{or Dan oder George Simion als Privatpersonen. Es geht darum, auf welcher Seite Rumänien steht – und welche Richtung es einschlägt. Diese Wahl, daran darf kein Zweifel bestehen, wird über Jahrzehnte nachhallen.