Der Autor dieser Aufzeichnungen wurde 1929 in Oradea Mare/ Großwardein/ Nagyvarad geboren. Die Kindheit und Jugend erlebte Andras bzw. Andreas Varady in Temeswar/Timișoara, wohin die Familie 1930 übersiedelte, weil der Vater eine gut dotierte Stelle bekommen hatte. Die Zeit im Banat macht den ersten Teil der Erinnerungen aus, den zweiten die Studienjahre in Bukarest an der Architektur-Hochschule, der abschließende dritte die Berufsjahre als junger leitender Architekt im siebenbürgischen Neumarkt/ Târgu Mureș. Ursprünglich nur für die Familie gedacht, hat der Verfasser einer Veröffentlichung der fast 200 Manuskriptseiten zugestimmt, weil die authentischen Zeit- und Gesellschaftsbilder weit über das Familiäre hinaus reichen. Leider erlebte der Autor die Veröffentlichung nicht. Er verstarb 2019 unerwartet in Deutschland, wo die Familie nach der Ausreise aus Rumänien 1970 eine zweite Heimat gefunden hat. Der folgende Abschnitt ist dem zweiten Teil entnommen. Die Erinnerungen hatte der Autor unter dem Titel „Meine rumänischen Jahre“ zusammengefasst.
Das Leben in Bukarest lief nach festgesetzten Regeln: morgens Vorlesungen, nachmittags und abends Atelier. Morgens kam ich meistens mit Joska, der dank seiner Position über einen Dienstwagen mit Fahrer verfügte und mich mitnahm. So stieg ich jeden Tag vor der Schule aus einem nagelneuen schwarzen Buick aus und hoffte, dafür von jedem beneidet zu werden.
Das Studium war hart. Es bestand aus zwei Teilen – aus einem mehr und einem weniger wichtigen. Wichtig war das Zeichnen, das Entwerfen am Reißbrett. Der Zeichensaal war eine Schinderei. Wir saßen achtzig Leute dicht nebeneinander, die Luft war stickig, der Professor ging zwischen den Reihen auf und ab. Wenn er bei jemandem stehen blieb, um sich eine Zeichnung näher anzusehen, sagte er meistens – „Schmeißen Sie das weg und fangen Sie von vorne an“. Die Vorlesungen am Vormittag dienten eher der Erholung. In diesem Gedränge, wo der Zigarettenrauch die schon trübe Luft in einen dichten, milchigen Nebel verwandelte, saß unmittelbar hinter mir ein Mädchen, hübsch, kräftig, gesund, meine erste Bekanntschaft in diesem wildfremden Dschungel. Unser Verhältnis war sozusagen unkonventionell – sie nutzte jede Gelegenheit, ihre überlegene körperliche Stärke mir gegenüber in Ringkämpfen zu beweisen, in denen ich immer den kürzeren zog. Ich dagegen versuchte es auf die lyrische Art und rezitierte ihr ungarische Gedichte. Sie verstand zwar kein Wort, fand aber Gefallen an meinem Bemühen. Mit solchen kleinen Versuchen beschritt ich den mühsamen Weg der Assimilation.
Ich hatte es anfangs schwer, mich in die neue Umgebung einzuleben. Bukarest war groß, laut, orientalisch. Mein Eindruck war, hier haben es alle sehr eilig und rennen wie die Irren, am Ende aber verspäten sie sich alle. Es wird überall gestritten und lauthals geschrien, aber zu einer richtigen Schlägerei kommt es nie. Die Busse waren voll, die Straßenbahnen auch. Das große Gedränge hinderte die Leute aber nicht daran, sich jedes Mal zu bekreuzigen, wenn die Straßenbahn an einer Kirche vorbei fuhr. Ich hatte ständig den Eindruck, ich werde übers Ohr gehauen, aber wenn es tatsächlich geschah, merkte ich es nicht. Sogar der Busschaffner hat mich bei der Ausgabe des Wechselgeldes betrogen.
Im Laufe des Jahres fing ich an, Bukarest kennenzulernen. Hier war alles anders – die Essgewohnheiten, die zwischenmenschlichen Kontakte. Die exuberante Offenherzigkeit fand ich abstoßend, da ich wusste, es steckt eigentlich nichts dahinter. Viele Menschen waren grundsätzlich unzuverlässig und machten auch keinen Hehl daraus. Im Gegenteil, ich mit meiner Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit galt als Spießer und naiv. Andererseits bin ich nirgendwo so vielen künstlerisch begabten Menschen begegnet wie hier. Wenn es nur darum ging, aus einem Fetzen Stoff mit paar Nadelstichen einen hübschen Rock über Nacht zu fabrizieren, daran waren die Mädchen aus Bukarest unnachahmlich. Man war jung, chic, flott, weltgewandt.
In ihrem Äußeren spiegelte die Stadt den Charakter ihrer Bewohner wieder. Sie war lebendig, schnelllebig, steckte voller Widersprüche. Bezeichnend für den Pragmatismus der Leute war, dass ich zur Weihnachtszeit in der Straßenbahn Sternsingern begegnete, die an ihren Stern statt Heiligenbilder Stalins Porträt klebten und anstelle der Jungfrau Maria die Genossin Maria besangen.
Die Stadt war eine eigenartige Mischung aus Modernität und alter balkanischer Atmosphäre. Das großstädtische Ambiente der dreißiger Jahre, mit acht- bis zehn- geschossigen modernen Wohnhäusern, traf oft unmittelbar auf verschlafene Plätzchen mit kleinen, alten byzantinischen Kirchen und türkisch anmutenden Häuschen. Man hatte das Gefühl, dass hinter einer Ecke bald ein Eselsgespann auftauchen würde, getrieben von einem orientalisch gekleideten alten Mann, mit rotem Fez auf dem Kopf und zertretenen Sandalen an den Füßen.
Als nach dem Krieg, in den Zwanzigern und Dreißigern, die intensive Bautätigkeit ihre volle Entfaltung erreichte, war die Moderne schon da. Die meisten rumänischen Architekten haben aus der Moderne zwei Merkmale verstanden: die Horizontalität der Fenster und die Farblosigkeit der Fassaden. Daraus ergaben sich die vielen großen, weißen und grauen Häuser, Block genannt, dessen Aussehen von der Begabung des jeweiligen Architekten (oder von dem für ihn schuftenden anonymen Studenten) abhing.
In dieser Zeit hat man, nach dem Beispiel von Hausmann, mit strenger Hand Achsen in Form von langen und breiten Boulevards in das lebendige Fleisch der Stadt geschlagen. In der Verlängerung nach Norden befand sich das eigentliche moderne und elegante Bukarest mit breiten Chaussées, reichlich bepflanzt mit doppelten, manchmal vierfachen Baumreihen und Blumenbeeten mit dunkelroten Rosen. Flankiert wurden sie von herrschaftlichen Villen und eleganten Zweifamilienhäusern. Den nördlichen Abschluss bildeten groß angelegte Parks und künstliche Seen. In einem dieser Häuser, wo die neue führende Klasse der Gesellschaft dabei war, die alte abzulösen, wohnte ich als Untermieter der Familie Cova.
Die Rumänen sind Genießer. Sie lieben das Leben, sie lieben ihre (und anderer) Frauen, sie lieben schöne Kleider, das Theater, die Oper, aber am meisten lieben sie das Essen. An Ständen boten Straßenverkäufer alles Mögliche an, was man im Gehen verzehren konnte – knusprige, frische Brezel, kühle Buttermilch mit frischen Brötchen, frische, an Ort und Stelle gebackene Krapfen, in Öl gebratene Kartoffelchips, Joghurt, kalte Getränke aus vergorener Kleie, gekochte Maiskolben im Sommer und gebackene heiße Maronen im Winter. In offenen Auslagen mit Durchreiche in Blätterteig gebackene Köstlichkeiten aus Hackfleisch oder Schafskäse, am Spieß gebratenes Fleisch und überall roch es betörend nach Rumäniens Nationalspeise – die Mititei. Sie waren kleine, mit Knoblauch reichlich versehene gegrillte Würstchen, den serbischen Cevapcici ähnlich, nur unvergleichlich saftiger und schmackhafter. Die Menschen rannten auf der Straße und jeder Zweite kaute an irgend etwas. Man konnte auf jedem Preisniveau essen, von den einfachsten Gaststätten bis zu den teuren Lokalen. Die Krönung der kulinarischen Möglichkeiten waren die „Großen Restaurants“, die Tempel der hohen Kochkunst, die sich mit den besten Lokalen in Paris hätten messen können.
Trotz aller Müdigkeit war ich, so oft ich konnte, im Theater. Die Bukarester Theater hatten ein reichhaltiges Programm und das auf sehr hohem Niveau. Im Rahmen meiner Möglichkeiten besuchte ich manche Konzerte, selbstverständlich die Sonntagvormittagsvorstellungen mit Studentenpreisen im prächtigen neoklassizistischen Konzertsaal von Bukarest. Die leichte Muse, die Varietés mit ihren Schlagersängern, Tanzmusik und Jazz lebten noch, sie führten eine scheinbar sichere Existenz, man merkte kaum, dass ihre Tage gezählt waren. Mein Leben war abwechslungsreicher und reichhaltiger als in Temeswar, obwohl die Schule fast meine gesamte Freizeit in Anspruch nahm.
Während der Woche hatte ich praktisch keine freie Minute, der Sonntag gehörte mir. Ich traf mich mit meinen neuen Freunden im Freien oder in einem Café, wir tratschten, erzählten, sangen. Wir waren von unserem Alltag so sehr in Anspruch genommen, dass es uns gar nicht auffiel, wie wenig wir von der Außenwelt wussten. Ich nahm das wichtigste Ereignis des Jahres 1948, die Gründung des Staates Israel, nur am Rande wahr. Die führenden politischen Köpfe der westlichen Welt wurden uns als Karikaturen oder in böswilligen Zeitungskommentaren präsentiert. Wir befanden uns mitten im Kalten Krieg und waren buchstäblich in eine aussichtslose kleine Welt eingemauert. Es war nicht nur das Studium, es war auch das politische Umfeld, das Tag für Tag, ohne dass ich es merkte, von meinem Leben Besitz ergriff. Das System war nicht nur autoritär und herrschsüchtig, eifersüchtig war es auch: „Du sollst außer mir keine anderen Götter haben!“
Das erste Jahr ging langsam zu Ende, wir haben unser erstes großes Projekt abgeschlossen, die Prüfungen standen uns bevor. Die Prüfungen, die man im Juni nicht geschafft hat, konnte man im September wiederholen. Jeder hatte seinen eigenen taktischen Schlachtplan – wie viele Prüfungen im Sommer und wie viele im Herbst. Ich hatte solche Probleme nicht, ich war einfach zu faul, um den Sommer mit büffeln zu verbringen. Ich wollte alle Prüfungen im Juni ablegen, Hauptsache ich komme durch. Die wichtigste Prüfung war Mathematik, verhasst bei allen Architekturstudenten, die für alles, was mit Zahlen oder exakten Wissenschaften zu tun hatte, nur Verachtung übrig hatten. Die statistische Durchfallquote lag bei 80-90 Prozent. Von den zwölf glücklichen aus den achtzig Kandidaten, die es doch schafften, war ich der Zwölfte.
Nun dachte ich, die Ferien habe ich reichlich verdient, es war aber nicht so. Kurz vor der letzten Prüfung hat uns die kommunistische Jugendorganisation aufgerufen, uns freiwillig an der Nationalbaustelle „Salva-Vișeu“ zu melden, um eine Eisenbahnlinie für die neue, optimistische, rosige Zukunft des Vaterlandes zu bauen. Selbstverständlich freiwillig. Wir haben uns alle gemeldet, nachdem man uns ausführlich erklärte, was die Partei von uns erwarte und was sie unter Freiwilligkeit verstand. Wir waren zur Teilnahme nicht verpflichtet, allerdings war die Hochschule auch nicht verpflichtet, uns unter allen Umständen weiter zu unterrichten. Wir fuhren mit unserer zügellosen Begeisterung in der Brust, Rumäniens jüngste Eisenbahnlinie zu bauen. Die neue Linie diente dazu, Rumäniens nördlichste und entlegenste Provinz „Marmarosch“ mit dem übrigen Land zu verbinden. Die Reise war lang, unbequem, man musste mehrmals umsteigen. Die Unterbringung erfolgte in nassen Holzbaracken, zweihundert Mann in einem Schlafsaal, das Essen war abwechslungsreich – es bestand entweder aus großen Blöcken gesalzener Schafskäse oder aus großen Blöcken gepresster Marmelade. Mir schmeckten sie beide, es war nur schade, dass der Käse ein klein wenig verfault war.
Die „Eingeborenen“, Bauern aus den hohen Bergen der Umgebung, wussten nicht, wer wir sind und was wir hier suchten; der letzte ihnen bekannte Repräsentant der Staatsmacht war der im Jahre 1928 verstorbene König Ferdinand. Diese Leute wollten wir mit der Bahnlinie an uns binden und ich vermute, sie dachten, wir wären ein bisschen verrückt.
Die Arbeit war schwer, uns fehlten die Erfahrung und die Kondition. Um die Tagesnorm zu erfüllen, mussten wir eineinhalb Kubikmeter steiniger Erde ausheben und mit dem Karren abfahren. Die Fäulnis des Käses tat das ihrige dazu und nach vier Tagen wurde ich krank – bettlägerig – wenig-stens in den kurzen Pausen zwischen den Rennereien auf die Latrine. Nach einer Woche gaben sie auf und schickten mich zusammen mit den übrigen Maroden nach Hause. Zu Hause war es wie immer schön. Meine Eltern waren da, meine Freunde, meine Liebe. Der Druck aus dem Zeichensaal und der Prüfungsdruck waren wie weggeblasen. Ich verfügte alleine über meine Zeit, ich war frei. Es war Sommer, ich konnte schwimmen, rudern, Rad fahren, ich war jung, die Welt war mein.