Im Juni 1971, nach der Rückkehr Ceausescus von seinem Nordkorea-Besuch, fand in Rumänien die sogenannte kleine Kulturrevolution statt, was den Anfang einer unendlich langen Eiszeit für das freie Denken bedeutete. Ich studierte damals Französisch an der Universität Temeswar und schrieb gerade eine Seminararbeit über die bitteren Aphorismen des nihilistischen Philosophen Emil Cioran, als der zuständige Professor mir bei einer Sprechstunde bedrückt mitteilte, ich müsse leider das Thema ändern und mich einem optimistischeren Sujet zuwenden. Eine solch trübe Weltanschauung hatte ab sofort in einem auf die goldene Zukunft zustrebenden Staat nichts mehr zu suchen, und so hatte man den Dozenten eine Liste fragwürdiger Autoren vorgelegt, die sie vom Lehrplan zu streichen hatten, darunter auch Cioran.
Ich wünschte mir damals nichts sehnlicher, als ein anerkannter Schriftsteller zu werden, ich hatte schon einige Texte veröffentlicht und war stolzer Autor einer etwas längeren Geschichte in Kafka-Manier. Es ging darin um einen jungen Mann auf der Flucht, der nachts die Orientierung verloren hatte, er irrte einsam und verängstigt herum, auf labyrinthischen Straßen. Ich schickte den Text an die Redaktion der Kulturzeitschrift „Orizont“, die es auch heute noch gibt. „Ich gratuliere, das ist ein prima Text“, sagte mir der damalige Literaturredakteur nach der Lektüre, „aber nimm ihn bitte schnell wieder mit nach Hause, ich möchte ihn nicht in meiner Schublade aufbewahren.“
Die Zensoren waren oft Meister der Realgroteske. Herta Müller erzählte kürzlich, ihr Zensor sei mehreren strengen Kriterien gefolgt. Eins davon war, dass jedes Wort nur ein einziges Mal pro Seite vorkommen durfte, mit Ausnahme von Artikeln und Präpositionen. Erzählte man beispielsweise etwas über eine Katze, durfte man das Wort Katze nie zweimal pro Seite verwenden, was sich bei der begrenzten Anzahl der zur Verfügung stehenden Synonyme ziemlich problematisch auf den Erzählstil auswirkte.
Doch über eine Zensur wurde offiziell nie gesprochen, es ging zu, wie in diesem Radio-Eriwan-Witz: „Gibt es in diesem Land eine Zensur?“ „Im Prinzip nein. Es ist uns aber nicht möglich, näher auf diese Frage einzugehen.“
Kritik und schwarze Gedanken zu äußern war also ein Tabu, aber wer sich als optimistisch und glücklich bezeichnete, war womöglich zwischen den Zeilen ein Spötter.
Daher entschloss sich mein damaliger Kommilitone Florin, Regisseur beim Temeswarer Studententheater, das absurde Stück „Die Stühle“ von Eugène Ionesco zu inszenieren. Wenn man schon in jedem einzelnen Wort etwas Verdächtiges witterte, dann hatte diese Farce doch wohl eine reelle Chance auf der Bühne, denn dort wurde am Ende, im wichtigsten Teil des Stücks, überhaupt nicht gesprochen. Ein taubstummer Redner, der eine lebenswichtige Botschaft vermitteln sollte, brachte keine Worte, sondern bloß ein heiseres Gestammel vor einem Saal hervor, in dem bloß leere Stühle standen.
Nun ja, sie haben es schon erraten, das ging erst recht daneben. War mit dem Redner denn nicht vielleicht der verrückte Diktator gemeint? Das finale Schweigen wurde vom Publikum zwar heftig akklamiert, aber nach der Premiere verpasste man dem teils stummen Einakter einen Maulkorb.
Das Stück ist heute aktueller denn je, es war zum Beispiel in Luc Bondys Inszenierung bei den Wiener Festwochen zu sehen. Wo man es demnächst noch überall vorführen wird, weiß ich nicht, doch einer Sache bin ich mir sicher: im Iran, in Nordkorea oder China auf keinen Fall. Denn in solchen Ländern ist ein Stuhl bloß zum Sitzen da und damit basta!