„Sti-hi-lle Nacht – hei-lige Nacht“, dröhnt es schrill statt still durch alle Kanäle. Und Rudolf, das rotnasige Rentier, beeilt sich, den Weihnachtsmann im roten Plüschoverall mit seinem reichbeladenen Schlitten rund um die Erde zu ziehen (wirklich rundum, oder beschränkt er sich auf ausgewählte Teile der Nordhalbkugel?), damit er sich durch Schornsteine in die Wohnzimmer der Wohlstandsgesellschaft quetsche und – das Christkind spiele. Weihnachten als Fasching, oder auch Halloween, von Santa Claus? Hohoho!
„Winnetou“ ist ins Kreuzfeuer geraten, weil der edle, aber halt zu einfach gestrickte und wenig authentische „Indianerhäuptling“ die Würde der amerikanischen Ureinwohner verletzt. Er aber darf Jahr für Jahr wiederkommen: der Coca-Cola-Weihnachtsmann, Phantasieheld des schnöden Kommerzes, der das heilige Fest gekidnappt und das Jesulein nackt aus der Krippe verjagt hat, mit dem omnipräsenten Geplärr vermutlich, Ochs und Esel in Panik hinterhergestürzt. Statt dessen steht eine abgehackte Tanne mit Blinkerkerzen und Glitzerlametta im Zentrum der stillen Nacht. Und wir brüllen aus vollen Hälsen Dschingelbell!
Und wundern uns, dass so viel schiefgeht in der Welt... All die Scheinheiligkeiten: Putin, der die „armen Ukrainer“ von den „bösen Nazis“ befreien soll und dabei nur alles kaputthaut wie ein böses Kind, dem man das ersehnte Spielzeug nicht geben will. Supermächte und Supermöchtegerne, die sich gegenseitig mit ihren Atomböllern drohen. Dabei geht es nur um eines: Wer „den Größeren“ hat! Toxische Fake News, millionenfach versandt von digitalen Kanonen in den sozialen Medien, gesteuert von Tech-Giganten, mit radikalisierenden Algorithmen. Werbung, die vorgaukelt, was wir haben wollen sollen: Glück im Glücksspiel, berauschenden Kaufrausch, Wohlgefühl aus kleinen blauen Pillen – rosa Brillen.
Aber was erwartet man von einer Gesellschaft, die mitten in der globalen Energiekrise ihre Städte einen Monat lang in blinkende Lichter taucht, wo so mancher weihnachtliche Vorgarten der Flughafenbeleuchtung einer Millionenmetropole Konkurrenz macht? Und dann einmal im Jahr für eine Stunde die „Earth Hour“ zelebriert...
Weihnachten, Fest der christlichen Liebe: Die geht vor allem durch den Magen. Stanniolverpackte Nikoläuse drücken schon Wochen vorher wie pawlowsche Glöckchen auf die Drüsen. Ach, die liebgewordenen Bräuche – Geschenke vor allem: aufreißen, Glanzpapier wegschmeißen. Weihnachtskarten: dasselbe! Ein echter Beitrag zum wachsenden Plastikkontinenten und zum schrumpfenden Amazonas-Regenwald. Aber wehe, man schenkt nicht und schreibt nicht...
Ich habe nichts gegen das Weihnachtsfest. Aber sie schmerzt, diese scheinheilige Doppelmoral, die einem zum Fest der Liebe und Einkehr wie eine schallende Ohrfeige ins Gesicht klatscht – und dies zuverlässig alle Jahre wieder, zur gar nicht mehr stillen, aber doch hoffentlich immer noch heiligen Nacht.