Warten auf den Zug. Statt einer geschlossenen Schranke blinkt ein Rotlicht mitten in einem Andreaskreuz, dazu tönt aus einem Lautsprecher das monotone Warngeräusch. Der Bahnübergang liegt direkt neben der gut ausgebauten Europastraße 576, die von Klausenburg/Cluj-Napoca nach Norden führt, Richtung Waldkarpaten. Gemütlich tuckert ein Personenzug vorbei; die grünlich-grauen Waggons mit ihren vielen Beulen und Kratzern sind bereits in die Jahre gekommen. Als das Warnsignal verstummt, tauchen gleich hinter den Gleisen zwei rumänische Ortsschilder auf: „Jucu“ steht auf einem, und, in einem deutlich größeren Schriftzug, „Nokia – Tetarom 3“ auf dem anderen.
Die Zufahrt zum Industriepark Tetarom 3 erscheint mir wie eine Art Geisterstraße: Breit ausgebaut, kämen hier Riesen-Lkws mühelos aneinander vorbei. Und dennoch ist auf der neu asphaltierten Fahrbahn in der zweiten Dezemberwoche 2011 kaum ein Auto unterwegs. Schließlich taucht in der Ferne ein riesiger, silbrig-blauer Flachdachbau auf. Erst beim Näherkommen schält sich die Struktur heraus: Drei ineinander verschachtelte, dunkelblau-metallische Fabrikhallen. Eher dezent der Schriftzug unterm Dach: Nokia.
Statt Produktion Umschulung
Später Nachmittag, kurz nach 16 Uhr: Auf dem riesigen Parkplatz vor dem Nokia-Werkgebäude stehen rund 20 einheitlich-weiße Reisebusse mit der Aufschrift „Cento-Trans“, alle mit geöffneten Türen – und das, obwohl die Produktion im Werk der Finnen seit Anfang Dezember stillsteht. Erregt diskutieren die Mitarbeiter. Ich mache einen Mitschnitt:
„Die meisten nehmen an den Umschulungskursen teil, die sie hier jetzt anbieten, ja hier, direkt in der Fabrik. Manche lernen Koch, Kellner, andere pauken Englisch oder machen einen Computerkurs. Und ein paar wenige arbeiten noch: Sie bauen die Produktionsbänder ab, die Maschinen, ja die ganze Ausrüstung hier im Werk.“
Octavian, ein junger Mann Mitte 20, trägt einen dicken Pullover und Lederjacke. Wie alle anderen rund 2000 Mitarbeiter bekommt er bis einschließlich Ende März sein reguläres Gehalt, zuzüglich drei Monatslöhne als Abfindung. Dann erst ist bei Nokia-Rumänien endgültig Schluss. „Für uns ist das wirklich eine Tragödie. Ich hatte hier einen sehr guten Arbeitsplatz. Und der geht jetzt futsch. In Zukunft, glaube ich, wird es sehr schwierig werden, in dieser Region wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Das bedeutet: Schlimme Zeiten für die meisten hier!“, sagt er.
Die ersten Busse fahren los; unter den Frauen und Männern auf dem Parkplatz breitet sich Hektik aus. Alle halten ein blaues Paket in der Hand.
Octavian: „Das ist ein Telefon, ein Nokia 500. Das hat man uns heute als Abschiedsgeschenk überreicht. Aber ich muss jetzt gehen. Der Bus fährt gleich.....“
Als der junge Mann das Mikrofon sieht, reagiert er mit einer abwehrenden Handbewegung. Wie viele seiner Kollegen hat er Angst, zu viel über die Schließung des Nokia-Werkes auszuplaudern.
Nicht so die 31-jährige Cornelia: Sie trägt ihre blonden Haare zum Zopf geflochten, hat die Hände erregt zur Faust geballt – und nimmt kein Blatt vor den Mund: „Das, was sie uns da als Abfindung angeboten haben, das reicht ja hinten und vorne nicht aus. Und unsere geschätzten Gewerkschafter – die haben sofort klein beigegeben. Na, wahrscheinlich haben sie dafür genügend Geld in ihre eigenen Taschen gesteckt. Was haben die Gewerkschaften denn für uns getan? Nichts, so gut wie nichts! Naja, jetzt mache ich einen Computerkurs, um mich weiter zu qualifizieren. Ich glaube, da finde ich wieder einen Job; es gibt ja genügend hier. Und ich bin ja noch jung.“
Bei Dănuţa in der Dorfkneipe
Gespräche nach Feierabend in der kleinen Dorfkneipe, im Zentrum der Gemeinde Jucu, fünf Kilometer vom Nokia-Werk. Schon einige Kilometer vor dem Ortseingang geht die breite, gut ausgebaute Zufahrtstraße in eine renovierungsbedürftige Schlaglochpiste über. Pferdefuhrwerke traben gemütlich hinter alten, halb verrosteten Dacias her. An den kalten Metalltischen sitzen unrasierte Männer vor Flaschenbier und Cognac, tragen Käppis und Zipfelmützen. Die 23-jährige Kellnerin Dănuţa wird beim Thema ‚Nokia‘ energisch:
„Das merken wir natürlich überall, hier in der Bar, aber auch im Ort. Wir verkaufen hier längst nicht mehr so viel. Die Leute haben deutlich weniger Geld zum Ausgeben übrig. Mein Schwager hat bei Nokia gearbeitet und sucht jetzt auch einen Job. Naja, die Arbeitskräfte in Asien sind halt billiger als bei uns.“
Das ist das Stichwort für die Männer an den Tischen. Während die Werkleitung auf Anfrage eine Stellungnahme ablehnt, nehmen viele der Männer kein Blatt vor den Mund. Einige erinnern an die Aufbruchstimmung kurz vor der Werkgründung vor viereinhalb Jahren. Andere reden über die Versprechungen der Geschäftsleitung: Bis zu 5000 Menschen sollten nach den ursprünglichen Plänen bei Nokia in Jucu einen Job finden. Aber eigentlich, meint Mariana Oprea, eine resolute Frau Mitte Anfang 50, hätten nicht die Mitarbeiter, sondern ganz andere von der neuen Fabrik profitiert:
„Also, Nokia war ja mal in erster Linie hilfreich für eine Menge von Leuten, die den Braten rechtzeitig gerochen haben. Die haben damals erfahren, wo das Werk gebaut werden soll, und haben sich dann die Grundstücke unter den Nagel gerissen und danach mit fantastischen Gewinnspannen wieder verkauft. Und bei der ganzen Diskussion über die Auswirkung der Schließung vergisst man allzu leicht die Zulieferer. Die Mitarbeiter dort sind jetzt ja genauso die Dummen: Also da sind nicht nur 2200 Menschen bei Nokia direkt betroffen, sondern insgesamt etwa 4800.“
Für einen kurzen Augenblick blickt sie nachdenklich in die Runde. Mit dem Zeigefinger zeigt sie nach oben, wie ein Politiker bei einer Wahlkampfansprache.
„Immerhin hat Nokia das Gelände für seine Fabrik fast umsonst bekommen, über 60 Hektar. Und jetzt sagen sie ganz einfach: Der Gewinn stimmt nicht mehr – und hauen ab. Also das ist alles andere als korrekt. Aber die Rumänen sind auch selber Schuld an dem Dilemma. Sie haben keine Klauseln in den Vertrag eingebaut, wie das zuvor die Deutschen mit Nokia gemacht haben und wo sie bei der Schließung des Werkes langjährigen Mitarbeitern bis zu 80 Monatsgehälter Abfindung zahlen mussten. Und bei uns? Da speist man die Leute pauschal mit drei Monatsgehältern ab.“
Ein Leben nach Nokia
Zustimmendes Gemurmel an den Nebentischen; einige nicken. Ohnehin, grummelt einer, hätten die Nokia-Arbeiter im Durchschnitt nur rund 240 Euro pro Monat bekommen, also deutlich weniger als in Deutschland. Und dann würden die Rumänen auch noch mit drei Billig-Löhnen als Abfindung abgespeist.
Ein stämmiger junger Mann in der Runde hält sich auffällig zurück. Florin hat selbst bei Nokia als Techniker gearbeitet.
„Soweit ich weiß, haben sie einfach Managementfehler gemacht und dabei erheblich an Marktanteilen verloren. Andere Firmen haben viel schneller neue Handys auf den Markt gebracht, zum Beispiel die Smartphones, die viel mehr Funktionen haben wie die Modelle von Nokia, die wir hier in Rumänien gefertigt haben. Ok, die Gewerkschaften haben als Abfindung drei Monatslöhne ausgehandelt. Und wir haben zum Abschied noch zwei Telefone bekommen. Also ich finde, das war großzügig. Denn die Firma gab’s hier ja nur vier Jahre lang.“
Florin nippt entspannt an seinem Bier. So sieht keiner aus, der sich um seine Zukunft sorgt. Doch auf Nachfragen gibt Florin zu: Für ihn gibt es ein Leben nach Nokia – er hat seine Zukunft bereits organisiert, allerdings weit weg von dem kleinen Jucu.
„Ich geh’ zurück nach Irland. Ich hab da ja schon elf Jahre lang gelebt, in Dublin. Ein Großteil meiner Familie ist dort, meine Schwester, meine Mutter. Ich bin zurückgekommen, weil unsere Familie hier in Jucu ein Haus hat. Und ich wollte einfach versuchen, mir in meiner rumänischen Heimat eine Existenz aufzubauen. Aber jetzt ist es eben anders gekommen. Mit Nokia hat es eben nicht geklappt. Ich muss aber sagen: Das war eine seriöse Firma. Sie haben uns immer pünktlich bezahlt. Sie haben uns zusätzliche Essensmarken gegeben und für den Transport der Mitarbeiter nachhause gesorgt. Alles war gewährleistet.“
Je fortgeschrittener der Abend in der Dorfkneipe, desto geringer die Lust der Dorfbewohner auf tiefgründige Gespräche. Aus einer alten, blechernen Musikbox ertönt rumänische Volksmusik. Einer der Kneipenbesucher steht auf, versucht zu tanzen. Gerade mal 50 der rund 2000 Dorfbewohner arbeiteten bei Nokia. Der Rest wurde mit den weißen Bussen aus einem Umkreis von über 80 Kilometern täglich ins Werk gekarrt.
Verlust des Instinkts für Rechte
Klausenburg, die rund 300.000 Einwohner große Kreisstadt, etwa 20 Kilometer von der Gemeinde Jucu und dem Nokia-Werk entfernt: Ein junger, sportlich gekleideter Mann bestellt in Tonis Pub einen Pfefferminztee. Zwischen den behaglich anmutenden dunklen Holztischen hat der Wirt eine alte Nähmaschine als Dekoration aufgestellt. Wegen der heimeligen Atmosphäre kommt Bogdan Roşca gerne hierher. Er arbeitet als Redakteur beim öffentlich-rechtlichen Sender „Radio Cluj“. Über das Kommen und Gehen von Nokia hat er häufig berichtet. Dass sich die Aufregung in Jucu wegen der Werkschließung in Grenzen hält, überrascht ihn nicht. Dass die Wogen in Deutschland dagegen vor vier Jahren beim Ende des Nokia-Werkes in Bochum hoch gingen, sei Mentalitätssache.
„Zunächst kann ich euch Deutsche zu so einer Einstellung nur beglückwünschen. Wir Rumänen haben längst den Instinkt für unsere Rechte verloren. Wir haben eine unglaubliche Duldsamkeit. Manchmal glaube ich, man kann mit uns wirklich alles machen. Und im Gegenzug haben wir aber auch kein Vertrauen mehr in die Gewerkschaften, in den Staat. Uns Rumänen fehlt es an der Bereitschaft, uns einzumischen. Sehen Sie, ich habe ein Interview geführt mit einem Gewerkschaftsführer, der angeblich die Interessen der Nokia-Mitarbeiter vertreten hat, und zwar gleich nachdem die Schließung bekannt geworden ist. Und ich habe ihn gefragt: Was tut ihr nun für die Arbeiter, die ihren Job verlieren werden? Für was kämpft ihr, für was setzt ihr euch ein? Die Antwort war zunächst: Schweigen. Ein Gewerkschaftsführer, der auf solche Fragen keine Antworten parat hält – ja, was soll man davon halten? Und was soll man da erst von den einfachen Leuten erwarten?“ (weiter zu Teil 2)