Verehrte Bartholomäer Festgemeinde!
Auseinandersetzungen können unheimlich lange nachwirken, sie können polarisieren bis über den Punkt hinaus, wo man sich an die Streitsache eigentlich gar nicht mehr genau erinnern kann. Um einen solchen Fall handelt es sich, wenn wir heute der 150. Wiederkehr der Eigenständigkeit der Bartholomäer Kirchengemeinde in Kronstadt gedenken.
Zur Illustration der Polarisierung ein Beispiel, das Heinrich Zillich in seinem Kronstadt-Buch 1925 also 62 Jahre nach der Erlangung der Bartholomäer kirchlichen Eigenständigkeit im Jahre 1863 zu Papier gebracht hat:
„Die Bartholomäuskirche, eine Kreuzkirche, der verlassene Mittelpunkt einer ihr treulos gewordenen Siedlung, ist eins der ältesten Gotteshäuser Siebenbürgens. An ihm vorbei läuft die Langgasse in die heutige Stadt hinein.
Das ist eine Straße von Bauern, die sonntags noch blaue sächsische Kirchenröcke tragen und im Stadtjargon Mexikaner genannt werden. So ein Mexikaner ist nur im weitesten Sinne Kronstädter, sein Dialekt, geschmückt mit unendlich vielen X, beweist, dass es mit ihm eine eigene Bewandtnis hat. Will er mitteilen, daß seine Großmutter einen gar großen Geist habe, so sagt er: ‘De Gruxen hut en gor gruxen Gixt’. Er gehört zu einem Reitervolk, das bei jedem bedeuten Anlass, wie zum Beispiel bei der Amtseinführung eines Pfarrers, hoch im Sattel in der Stadt erscheint, um die Auffahrt zu begleiten. Er wohnt in seinen staubigen sonnenverbrannten Strassen in guten alten Häusern, die leider schon am Anfang der Langgasse durch ein hässliches Gebäude, das Pfarrhaus unterbrochen werden, welches neben der schönen Bartholomäuskirche wie die Verkörperung des aufdringlich Neuen steht.“ (S. 20f.)
Überheblichkeit des gebildeten Städters können wir aus diesem Zitat schon einmal als eine Begleiterscheinung des angedeuteten Polarisationserbes festhalten.
Die Bartholomäer Kirche als „verlassener Mittelpunkt einer ihr treulos gewordenen Siedlung“ – da ist etwas dran, wie die neusten Forschungen ergeben haben. Der geistliche Orden der Prämonstratenser hatte sich um 1200 im Zinnental niedergelassen und den der heiligen Corona gewidmeten Vorgängerbau der Schwarzen Kirche errichtet. Gleich den Zisterziensern bevorzugte es dieser Orden, seine Klosteranlagen fern vom Lärm der Siedlungen oder gar Städten zu errichten. Zugleich war er aber auch aktiv in der Gründung und seelsorgerlichen Betreuung umliegender Ortschaften.
An den Veränderungen der Siedlungsfunktionen auf dem heutigen Stadtgebiet von Kronstadt tragen nicht Treulosigkeit sondern die Enkel Dschingis Khans die Schuld. Über eine Zwischenetappe am Fuße des Martinsberges verlagerte sich das Siedlungszentrum Kronstadts unter die Zinne. Das alte Klosterareal wurde zum Stadtzentrum, die nahen Wälder und die Burg auf der Zinne boten Schutz vor einfallenden Reiterscharen. Allein anhand der seelsorgerlichen Beziehung zwischen Innerer Stadt und Bartholomä und an der Art, wie das Bartholomäusfest bis 1862 begangen wurde, lässt sich die Richtigkeit der chronistischen Überlieferung dieser Siedlungsverlegung, für die sonst keine, über jeden Zweifel erhabene Urkunden vorliegen, festmachen.
Es gehörte zu den Vorrechten des Kronstädter Stadtpfarrers am Sonntag nach dem Bartholomäustag in feierlicher Prozession in die Bartholomäer Kirche zu fahren, hier die Festpredigt zu halten und als besondere Entlohnung einen Golddukaten und den ersten Laib Brot aus dem frisch geernteten Weizen zu erhalten. An diesen symbolischen Handlungen haftete auch die Überlieferung, derzufolge in Bartholomä die Beginne Kronstadts lagen. Davon ausgehend vermerkte 1705 einer der großen Stadtpfarrer Kronstadts, Marcus Fronius, die Bartholomäer seien eigentlich als Bürger und mitprivilegierte Kronstädter und nicht als Bauern zu betrachten.
Nichts desto trotz, der Apostel Bartholomäus war in katholischer Zeit ein von den Landwirten geschätzter Heiliger, da ihm Schutzfunktionen in dieser Hinsicht zugeschrieben wurden. Das mag auch erklären, warum man über all die Jahrhunderte sämtliche Heiligentage im sächsischen Kronstadt, wie von der evangelischen Lehre gefordert, vergessen hat, St. Bartholomäus aber nicht. An Beispielen, wie Bauern, die wetterbedingte Ernteschäden hinnehmen mussten, die evangelische Geistlichkeit zwangen, die eben abgeschafften Heiligentage wieder zu beachten, fehlte es gerade im Burzenland des 17. Jahrhunderts nicht.
Wenn die Chronik stimmen sollte, wofür mit einer Fehlertoleranz von ca. fünf Jahren einiges spricht, so ist 1203 „die Stadt Kronstadt gebauet worden“ – quasi hier und heute vor 810 Jahren hat man damit angefangen. Die Absteckung der Grundmauern und die Ostung eines Gotteshauses wurden nämlich stets am Tag des Kirchenpatrons vorgenommen, also heute vor 810 Jahren. Damit ist das Bartholomäusfest nicht nur das einzige Kirchweifest, das bei den Siebenbürger Sachsen überlebt hat, sondern auch die langlebigste Tradition, die es in Kronstadt gibt – es ist das Gründungsfest der Stadt.
Aber zurück zu Zillich und seinen ironischen Zeilen. Wieso „Mexikaner“? Zillich deutet als Erklärung die Häufung des Buchstaben X im Bartholomäer Dialekt an. Bei genauerer Betrachtung erschließt sich ein weiterer Zusammenhang. Nicht erst zu Zeiten von Marcus Fronius hatte sich Streit um die Besetzung der Bartholomäer Prediger-, später Oberpredigerstelle entzündet. Allein für den Orts- oder Stadtpfarrer galt damals das freie Wahlrecht der Sachsen, für die Stellen der Prediger galt ein Kandidationsrecht, um das Stadtpfarrer und Stadtrat allzu oft stritten. Fronius etwa hielt in Bartholomä aus Protest über die Anmaßungen des Stadtrates bezüglich der Besetzung der Bartholomäer Predigerstelle 1707 an acht Sonntagen Bußpredigten in Bartholomä und eben nicht in der Inneren Stadt.
Umgekehrt führten bereits im 18. Jahrhundert und im frühen 19. Jahrhundert Unzufriedenheit der Gemeinde über den zugeteilten Predigern zu Bemühungen der Bartholomäer Gemeindeglieder, die Eigenständigkeit der Gemeinde und damit die wirtschaftliche Unabhängigkeit und das freie Wahlrecht des Pfarrers zu erlangen. Es ist davon auszugehen, dass die großen Ausgaben, die 1835-1858 für die Ausstattung der Schwarzen Kirche mit neuer Orgel, mehrfache Reparatur und Gießen von Glocken (mittlere und große Glocke) getätigt wurden, in Bartholomä nicht gut angesehen waren.
Die Sorge hier war nämlich eine ganz andere: 1832 war der eben erst erhöhte Kirchturm teilweise eingestürzt und konnte erst nach 10 Jahren 1841/2 wiederhergestellt werden, wohl auch weil mit Unterstützung aus der Inneren Stadt nicht zu rechnen war. Wie sehr hierbei ein direkter kausaler Zusammenhang bestanden hat, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Fakt ist aber, dass 1845 die erste Eingabe an den Bischof Georg Binder erfolgte, die die kirchliche Unabhängigkeit Bartholomäs bezweckte. Der Bischof vertröstete die Gemeinde mit Hinweis, auf das veraltete und damit anfällige und streitträchtige Besoldungswesen der Geistlichkeit, das damals noch auf der Abgabe des Zehnts in Natura beruhte und/oder berechnet wurde.
Die Revolution von 1848/49 läutete die Abschaffung des Zehnten ein, was 1850 zur Erneuerung des Unabhängigkeitsansuchens an das Oberconsistorium führte. Nun war die noch nicht vorhandene Verfassung der Kirche der Grund mit dem die Gemeinde erneut vertröstet wurde. Dieser Hinderungsgrund bestand seit 1855 nicht mehr, hinzu kam, dass „in Folge der offenbaren durch die Muttergemeinde verschuldeten Vernachlässigungen der hiesigen Kirchen- u. Schulangelegenheiten das Vertrauen in die Muttergemeinde gänzlich erloschen“ war, wie es im Gedenkbuch der Gemeinde zu diesem Zeitpunkt heißt. Als im Februar 1860 Stadtpfarrer Christof von Greissing hochbetagt verstorben war, hatte sich eine Konstellation ergeben, die aus Sicht des Bartholomäer Kirchenrates unbedingt genutzt werden musste.
Dem Drängen seiner Gemeinde gab schließlich auch der damalige Oberprediger Samuel Frätschkes nach und machte sich das Anliegen der Gemeinde zu eigen. Unterstützung fand die Gemeinde mit ihrem Gesuch beim Burzenländer Kapitel, namentlich bei Dechant Friedrich Philippi, der die Angelegenheit erneut vor Bischof Binder brachte. Binder gab am 23. Juni 1860 die Weisung, zunächst müsse das Gesuch an die Kronstädter Muttergemeinde geleitet werden. Zeitgleich zog sich die Anfechtung der Wahl von Samuel Schiel zum Kronstädter Stadtpfarrer bis in den Juni 1860 hin – es ist äußerst unwahrscheinlich, dass es zwischen den Anfechtungen und der Stimmung in Bartholomä keinen Zusammenhang gegeben hat, da die Filialgemeinde ebenfalls in den gesamtgemeindlichen Körperschaften anteilig vertreten waren.
Die abschlägige Antwort der Gemeindevertretung der Inneren Stadt an Bartholomä ist auf den 12. Januar 1861 datiert und stellte keine große Überraschung dar. In den öffentlichen Versammlungen der kirchlichen gesamtstädtischen Gremien haben sich offensichtlich einige „persönliche Angriffe und Beleidigungen“ zugetragen, so dass der Bartholomäer Kirchenrat auf Boykott umschaltete und mit sofortiger Wirkung die Zahlungen an die Muttergemeinde einstellte und allen Versammlungen fern blieb. Zeitgleich zu diesen Vorgängen tobte in Mexiko ein blutiger Bürgerkrieg zwischen reformfreudigen Liberalen um Präsident Benito Juarez und seinen konservativen Widersachern. Ganz wesentlich ging es dabei auch um die Zurückdrängung der katholischen Kirche aus dem Staatswesen (Abschaffung als Staatskirche). Da die Siebenbürger Sachsen ein sehr lebendiges Spitz- und Spottnamenwesen hatten, ja brauchten, um die zahlreichen Träger desselben Namens in einer Ortschaft auseinander halten zu können, ist davon auszugehen, dass die Bezeichnung „Mexikaner“ in dieser Phase des Zwistes mit der Inneren Stadt aufgekommen ist.
Der Versuch den Gegenstand des Unabhängigkeitsgesuches der Bartholomäer in der Bezirkskirchenversammlung im März 1862 zu behandeln, musste wegen Befangenheitsprotesten gegen die Vertreter der Innerstädtischen Gemeinde in diesem Gremium aufgegeben und an die Landeskirchenversammlung weitergeleitet werden. Diese nun entschied am 17. September, sehr zum Missfallen der Kronstädter Zeitung, zugunsten der Unabhängigkeit der Bartholomäer Gemeinde.
Bemerkenswert dabei, da die weltlichen Vertreter der Innerstädtischen Gemeinde (Bezirkskirchenkurator Wilhelm Schmidt und Kurator Ludwig von Brennerberg) sich gegen, Dechant Philippi und auch Stadtpfarrer Schiel dafür aussprachen. Letzterer unter Unterstreichung des Bedauerns und unter Hinweis auf seine Ablehnung jeglicher Form von Gewalt. An der Person des Referenten in der Landeskirchenversammlung, dem späteren Bischof Dr. Georg Daniel Teutsch, störte die Kronstädter Zeitung am allermeisten, dass er kein Kronstädter sei, also gar nichts von der Sache verstehen könne. Dass dem nicht so war, konnte man in den Tagen vor dem 10. Mai 1863 erfahren, als Teutsch zusammen mit dem Schäßburger Dechanten und Stadtpfarrer Michael Schuller als Kommissäre des Landeskonsistoriums die Auspfarrung vor Ort umsetzte.
Besonders Teutsch hatte sein Wirken in dieser Angelegenheit ganz im Sinne der von ihm und seinen Mitstreitern geschaffenen neuen Verfassung der Kirche ausgerichtet. Es ging dabei um nichts Geringeres als die Mobilisierung der Gemeinden mit Blick auf die volkskirchliche Ausrichtung des siebenbürgisch-sächsischen Gemeinwesens. Der zentrale Punkt bei Teutsch war die Ansicht, dass eine von bürokratischer Bevormundung freie Gemeinde sich weit mehr als eine simple Filialgemeinde engagieren werde, allein schon um im Wettstreit mit anderen Orten bestehen zu können.
Schuller und Teutsch gestalteten die Woche der Auspfarrung im Rahmen des Möglichen als Versöhnung, die mit der Klärung der territorialen und finanziellen Details begann und in einem vierstündigen letzten gemeinsamen Gottesdienst in Bartholomä am 10. Mai 1863 endete. Höhepunkt hierbei war die Verlesung der Auspfarrungsurkunde durch Teutsch, die dieser am Vortag abgefasst hatte. Es herrschte übrigens bei diesem Gottestdienst ein derartiger Andrang, dass die Kirche nur die Hälfte der Besucher fassen konnte. An diesen denkwürdigen Tag erinnert auch die größte Inschrift der Bartholomäer Kirche, die sich hinter der Orgel befindet – passend zur Polarisierungsproblematik bezeichnet sie denn auch die Unabhängigkeitserlangung als Wiedereinsetzung „in ihre alten Rechte“.
Für meine Begriffe hat Teutsch mit seinem Ansatz Recht behalten. Die Polarisierung, wie bei Zillich zu finden, ist freilich geblieben, wenn auch so sehr abgeschwächt, dass heute eigentlich niemand mehr eine umfassendere Begründung dafür geben kann.
Und das „hässliche Gebäude, das Pfarrhaus“ von 1905, „die Verkörperung des Aufdringlich-Neuen“? Spricht daraus nicht auch ein stückweit Neid über die Leistungen der Bartholomäer Gemeinde, deren Lebensfähigkeit man von Innerstädtischer Seite 1862 noch ernsthaft in Zweifel zog? Ich meine schon, denn in der Inneren Stadt sucht man ein vergleichbar geräumiges und zweckdienlich organisiertes Pfarrhaus vergeblich. Blättert man im Bartholomäer Gedenkbuch, so ist da auch sonst Beachtliches zu finden. Etwa 1871/2 der Neubau der Schule, der rund 30.000 Gulden gekostet hat, die Versetzung der Orgel aus dem Chor ins Schiff (1866) oder ihre Reparatur (1875). Während die Innere Stadt mit dem Unterhalt insbesondere des Mittelschulwesens Aufgaben von überörtlicher Bedeutung wahrnahm, kann Gleiches über die Bartholomäer Kirchengemeinde auch gesagt werden. Ihr Festsaal bot Platz für über 400 Personen und war in der Zwischenkriegszeit ein gesuchter Versammlungsort zu unterschiedlichsten öffentlichen und privaten Anlässen. Das 1938 eingeweihte Bartholomäer Strandbad kam desgleichen der ganzen Stadt zugute.
Fazit: die ab 1863 bestehende Konkurrenz im kirchlich-evangelischen Kronstadt hat eindeutig mehr Nutzen als Schaden gebracht. Teutschs volkskirchlicher Ansatz hatte sich also bewährt und hat auch in unserer gegenwärtigen Situation an Aktualität nichts eingebüßt. Auch wenn die Gemeinden in Siebenbürgen klein geworden sind und im Falle Kronstadts sich die Bartholomäer und Kronstädter Heimatgemeinschaften in Deutschland zusammengeschlossen haben, ist an der Förderung und Wertschätzung des gemeinschaftsorientierten ehrenamtlichen Engagements nach wie vor nichts Falsches auszumachen.
Wir haben das eben auch in der Predigt gehört. Teutschs Ansatz entspricht in eigentümlicher Weise einem viel zu wenig bekannten Grundprinzip des europäischen Einigungsprozesses: dem Subsidiaritätsprinzip. Es besagt, dass die Entscheidungen so bürgernah wie nur irgend möglich gehalten werden sollen und tritt damit der allgemeinen Tendenz zur Zentralisierung, Bürokratisierung und damit schleichenden Entmündigung der Bürger oder eben Gemeindeglieder entgegen. Für unseren kleinen kirchlichen Rahmen bedeutet dies, dass die Beibehaltung und Stärkung funktionierender Gemeinden allen anderen Optionen gegenüber bevorzugt werden sollte. Dass Bartholomä funktioniert, auch wenn derzeit kein hauptamtlicher Pfarrer amtiert, hat die Gemeinde auch mit dem heutigen Fest unter Beweis gestellt, wofür ihr, Stadtpfarrer Bruno Fröhlich hat es soeben gesagt, Dank gebührt. Damit möchte ich auch die Hoffnung verbinden, hier noch viele Bartholomäusfeste zu erleben und den Wunsch äußern, dass wir daraus vielleicht einmal mehr machen, denn das Bartholomäusfest als Gründungsfest Kronstadts hat Potenzial.