Bilder, die ergreifen, erfreuen und erschüttern

Das Potsdamer Museum Barberini präsentiert: Der Abstrakte Expressionismus in den USA und die informelle Malerei in Westeuropa im Dialog

„50 Darmstadt“, Wols
Fotos: Museum Barberini

„Composition Nr. 16“, Pollock

Das Museum Barberini verwirklicht unter Kustodie des hochmotivierten Daniel Zamani ein Riesen-Projekt, indem es sich den beiden wichtigsten Strömungen der Abstraktion nach Ende des Zweiten Weltkrieges widmet und sie in einen „transatlantischen Dialog“ stellt: den Abstrakten Expressionismus in den USA und die informelle Malerei in Westeuropa. Gezeigt werden rund 100 Arbeiten von über 50 Künstlern aus der Sammlung Hasso Plattner und vor allem weltweit aus privatem und öffentlichem Besitz.

In den 1930er Jahren wurden die surrealistischen Theorien des psychischen Automatismus, also der sich künstlich verselbstständigenden unterbewussten Regungen, von den amerikanischen Künstlern aufgegriffen. Unter Einfluss der französischen Schule und durch Leitfiguren wie Max Ernst oder André Masson bildete sich mit dem „Abstrakten Expressionismus“ die erste völlig eigenständige Kunstentwicklung der USA heraus. Jackson Pollock wurde mit seiner dramatisch inszenierten automatischen Malweise, der spontanen, unkontrollierten „Action Painting“ (oder „Aktionsmalerei“) zum Vorbild. Mit seiner Methode des drip-painting, des Tropfenlassens der Farbe, die er erfand, wollte er beim Malen jeden Zwang, der zur Virtuosität verleite könnte, beseitigen, und so viel Zufälliges wie möglich einfließen lassen. Wie Kandinsky sah er die Kunst als eine Heraufbeschwörung von „Grundrhythmen“ des Universums und ihren unbestimmten, aber vorstellbaren Beziehungen zu Geisteszuständen („Komposition Nr. 16“, 1948).

Mark Rothko wiederum schichtete eine Anzahl farbiger Rechtecke mit unscharfen Kanten und pulsierender Oberfläche auf der Leinwand vertikal übereinander. Der Betrachter glaubt, in tiefes Wasser oder Nebel zu blicken, der von innen erleuchtet ist. Licht, das von unbeweglichen Symbolen ausgestrahlt wird. Die Welt ist entschwunden und hat nichts als Leere zurückgelassen („Ohne Titel (Blau, Gelb, Grün und Rot)“, 1954).

Helen Frankenthaler wirft jähe Flecken, schleierartige, verwaschene Rosa, Blaus und ein ausgedünntes Malachitgrün auf die Leinwand, als wären sie die Seiten eines Skizzenbuches („Rosa Dame“, 1963).  Die Landschaft als ein Phantasie-Arkadien blieb ihr bevorzugtes Thema. Erzielte Sam Francis durch das Ineinan-derlaufen, das Zerfließen der einen Farbe in die andere und das Erstarren im Vorgang besondere Wirkung („Around the Blues“ 1957), so schießen bei Clyfford Still undurchsichtige, schartige Farbflächen auf der Bildoberfläche wie Klippen oder Bergspitzen empor. Robert Motherwell erreicht in symbolistischer Entsprechung mit dem Farbfleck und der Konstruktion, ohne beschreiben zu wollen, eine Harmonie und Genauigkeit, die eine Parallele zu den Freuden und Genüssen dieser Welt ist.

Hatte die europäische – vor allem französische – Malerei den „Abstrakten Expressionismus“ in den USA mit ihren Aktions- und Meditationsbildern wesentlich inspiriert, so gingen von dieser Strömung wiederum Impulse auf die Abstraktion in Westeuropa in der zweiten Jahrhunderthälfte aus. Es gab selbstverständlich auch Parallelen, die europäischen Informellen arbeiteten allerdings weniger konzeptionell und in der Regel kleinformatiger. Die Neigung gerade französischer Maler zur sinnlichen, farbenfrohen Ausdrucksgebärde, die sich schon bei den Fauves gezeigt hatte, wiederholte sich nun auf spirituelle Weise in den frei von gegenständlichen Vorstellungen ersonnenen Formen und Farben der „Peintres informels“.  Informel ist also als eine Kunst zu verstehen, die nicht von einer Form oder einem Zeichen ausgeht, sondern von Farben  und Impulsen, die keine Form als Inhalt haben. Als Maler der „Abstraction lyrique“ werden Jean Fautrier, Hans Hartung, Wols, Georges Mathieu bezeichnet. Fautriers Gemälde bedeuten ebenso wie die von Wols eine vom Denken des Existenzialismus geprägte Kunst. Die grafischen „Psychogramme“ des seit 1935 in Frankreich lebenden Hans Hartung erinnern mit ihrem sich heftig kreuzenden Linienspiel an chinesische Tuschmalerei („T 1955-9“, 1955). Wols, seit 1932 in Paris, war ein Romantiker, der sich den Impulsen des Unbewussten überließ.  Dieser Bild-Schrei, diese Bild-Explosion aus den Verkrustungen und Schlacken der menschlichen Existenz ist von erschütternder Authentik („Komposition“, um 1946/47).  

Georges Mathieu gab seinen Bildern mit ihren komplizierten Durchdringungen und Überschneidungen eine visionäre Realität, sie ist die seines eigenen Ichs, die sich im Schrei äußert. Seine von der Psyche gesteuerten malerischen Improvisationen bereicherte er durch die Übernahme fernöstlicher Elemente der Kalligrafie. Antonio Saura und Pierre Soulange – sie werden auch als „Tachisten“ (taches, frz. = Flecken) bezeichnet - widmeten sich eher einer automatistischen, abstrakt expressiven Sprache.  Protest und Leidenschaft bezeugen der harte, dynamische Rhythmus des vom Futurismus beeinflussten Liniengefüge Sauras. Aus dem Untergrund taucht eine Erinnerung an das verloren geglaubte Menschenbild auf („Kreuzigung“, 1960). Wie unbeabsichtigt hat Jean Dubuffet aus Mauerbildern und Texturen Gestalten gebildet. Ein Element wächst aus dem anderen hinaus, eine unendliche Kette von Assoziationen entsteht.  

Als einem der ersten Informellen im Westen Deutschlands (die abstrakten Tendenzen im Osten bleiben unerwähnt) gelang Ernst Wilhelm Nay die Verwandlung spätexpressionistischer Figurenkompositionen in Gestalten reiner Farbe. Er schuf allerdings keine gestisch-informellen Farbverläufe, sondern eine Flächenordnung der Farbe („Stunde Ypsilon“, 1956). Die überwiegend farbenfroh und detailreichen akribisch hergestellten Gemälde Bernard Schultzes sind voller Elemente, die unterschiedlichste Assoziationen beim Betrachter wecken. Sie enthalten meist Anspielungen und Zitate aus der Natur, erinnern an Wurzeln, Wald und andere Gewächse und imaginieren ganz eigene hermetische Gegenwirklichkeiten („Rosen-Geschwüre“, 1955).
Das ist nicht nur eine Schau der Superlative, sondern diese poetischen und zugleich visionären Bilder, Bilder einer mediativen Existenzerfahrung, ergreifen, erfreuen und erschüttern. Die Farb- und Formräume ziehen den Betrachter gleichsam in die Bilder hinein.  

Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945. Museum Barberini, Potsdam, Alter Markt, tägl. außer Di 10 – 19 Uhr, bis 25. September 2022. Katalog (Prestel Verlag München) 34 Euro.


Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945. Museum Barberini, Potsdam, Alter Markt, tägl. außer Di 10 – 19 Uhr, bis 25. September 2022. Katalog (Prestel Verlag München) 34 Euro.