Lehnsherren – ein Wort, das in der deutschen Sprache schon so gut wie ausgestorben ist. Aber es hat mit Geschichte zu tun, weswegen man diesen alten Begriff beim Blättern in Schullehrbüchern, Lexika, Zeitschriften und beim Lauschen von Universitätsvorlesungen und akademischen Vorträgen stets präsent haben sollte. Weil er sehr gut auf die Beschreibung von Erpressung, Missbrauch und Willkür passt. Wer will denn heute im 21. Jahrhundert allen Ernstes steif und fest behaupten, dass die Mächtigen der Welt es sich längst abgewöhnt haben, Schwächere unter Druck zu setzen und sie hart auszunützen? In der Politik schwirrt es nur so von Protagonisten und Nachrichten, die es mit den Menschen ringsum nicht gut meinen. Die Lehnsherren unserer Tage? Wirtschaftsbonzen, Parteibosse, Geschäftemacher, Mittelsmänner, Handlanger, Strafverfolgte und ihre Türsteher!
Für das Gegenteil von Gerechtigkeit, die nicht nur, aber vor allem auch im Breiten- und Berufssport als „Fairness“ bezeichnet wird, hat die Welt die Vokabel „Provokation“ erfunden. Fußballfreaks werden sicher niemals das WM-Finale von 2006 auf dem Berliner Olympiastadion vergessen, als der argentinische Schiedsrichter Horacio Elizondo zehn Minuten vor dem alles entscheidenden Elfmeterkrimi Zinédine Zidane vom Platz stellte. Weil der Kapitän der französischen Nationalmannschaft am Abend seines letzten Auftritts als Profi zu alter Höchstform auflief, die spektakulärsten Kunststücke aus seiner Trickkiste vorführte und die Konkurrenz spielerisch und nicht zuletzt auch auf der Ergebnistabelle zu düpieren drohte, griff der italienische Innenverteidiger Marco Materazzi zu der unsportlichsten aller möglichen Taktiken: verbale Provokation des Gegenspielers im Hörschatten des Schiedsrichters. Er tat es gezielt und solange, bis Zidane die Beherrschung verlor und mit seinem Kopf den Abwehrspieler der Squadra Azzurra zu Boden rempelte. Mit der roten Karte bestraft wurde aber nicht etwa der Provokant, sondern der auf die unfaire Provokation tätlich Reagierende.
Anders Mittelfeldspieler und Manndecker Gennaro Gattuso, der vor dem denkwürdigen Finale anerkennend gesagt haben soll, „Zidane nur aufhalten zu können, indem ich vor ihm niederknie. Wenn er am Ball ist, musst du dich bekreuzigen und hoffen, dass er verschießt.“
Leider hat es nicht sollen sein, dass der dreimal zum Weltfußballer gekürte Ausnahmekönner Frankreichs mit der Coupe Jules Rimet in seinen Händen von der Profi-Bühne abtritt. Angela Merkel und Franz Beckenbauer, der das wiedervereinte Deutschland 1990 in Rom hatte jubeln lassen, mussten dem italienischen Team unter Kapitän Fabio Cannavaro und Trainer Marcello Lippi zum Sieg gratulieren. Abends am 9. Juli 2006 in Berlin waren Deutschland und Italien quitt.
Sympathie für den Zweiten
Einer aber hatte verzweifelt Selbstjustiz geübt, und niemand konnte ihm helfen. Weder am Platz noch anschließend auf der Tribüne, wo zuerst das im Elfmeterschießen unglücklich unterlegene Team Frankreichs um seine Silbermedaillen anstehen musste, ehe die stolzen Italiener um Marco Materazzi, Gennaro Gattuso und der schneidige Torhüter Gianluigi Buffon sich die Goldmedaillen umhängen lassen und Freudentänze mit dem Jules-Rimet-Pokal aufführen durften.
Frankreich war trotzdem stolz auf Zinédine Zidane. Er hatte ja auch in der regulären Spielzeit vom Punkt einen verblüffenden Strafstoß getreten. Im Land der Revolution von 1789 hat man für Pechvögel und Verlierer meist gerne noch etwas übrig. Ex-Kraftbolzen und Suchthilfepatient Jan Ullrich, der die Tour de France fünfmal als Zweiter beendete, war unter den französischen Fans der Großen Rundfahrt jeweils klar beliebter als Lance Armstrong. Ganz zu schweigen vom autochthonen und 2019 verstorbenen Ex-Radprofi Raymond „Poupou“ Poulidor, dem es weder gegeben war, seinen Dauerkontrahenten Jaques Anquetil noch den „Kannibalen“ Eddy Merckx jemals zu knacken, und der nach der Tour von 1973 ernüchtert feststellte: „In letzter Zeit drängt sich mir die Frage auf, ob es nicht doch besser wäre, wegen eines großen Erfolgs beliebt zu sein als wegen ständigen Pechs. Ich würde es gerne einmal ausprobieren, und wenn es nur wäre, um den Unterschied zu sehen.“
Etwas ist dran an dem Klischee, dass eine satte Portion Mitgefühl für den Benachteiligten zu den französischen Tugenden schlechthin zählt. Und das beileibe nicht nur im Sport, sondern auch in der Kultur. 2013 hat Filmemacher Arnaud des Pallières die deutsche Legende von Pferdehändler Michael Kohlhaas aus der Mitte des 16. Jahrhunderts auf die Kinoleinwand geholt und daraus ein Drama gestrickt, dessen Bilder die sozialen Adern in Zuschauern schneller schlagen lassen und die Lehnsherren das Fürchten lehren können. Heinrich von Kleist, der 1810 den Stoff und die Zwickmühle dieser zutiefst menschlichen Geschichte zu einer Novelle geformt hat, lässt grüßen.
Die Geschichte von Michael Kohlhaas spielt in Brandenburg und Sachsen. Es ist die Story eines Erwachsenen, dem nichts über seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn geht. Eine grundehrliche Haut, die niemanden betrügen möchte und es auf den Tod nicht ausstehen kann, von anderen fies ausgenommen zu werden. Wie du mir, so ich dir: Kohlhaas lebt in der Überzeugung, dass Menschen wie er, die andere liebend gerne friedlich in Ruhe lassen, genau darum auch erwarten dürfen, von anderen nicht unsportlich belangt zu werden.
Die harte Realität
Aber die Welt ist nicht nur heute schlecht, nein, sondern sie war es auch damals schon. Denn eines Tages reitet Michael Kohlhaas mit jungen Pferden vom eigenen Zuchthof durch die Lande, weil er seine schönen Tiere auf dem Markt in Dresden verkaufen möchte. Zu fairen Preisen, versteht sich. Und da passiert gleich zu Anfang der Novelle von Kleist, was passieren muss: unser Pferdehändler, der nie einer Fliege etwas zuleide tut, muss unterwegs vor einem Schlagbaum Halt machen und eine angeblich legale Zollgebühr in die Burgkasse des Junkers Wenzel von Tronka einzahlen. Hätte es im 16. Jahrhundert Fake News gegeben, würde Michael Kohlhaas sie hinterfragt haben. Tatsache ist, dass er auf Gedeih und Verderb nicht bereit war, die Zollgebühr zu berappen, die der junge Baron von der Tronkenburg forderte, aber immerhin zähneknirschend einwilligte, zwei schöne schwarze Pferde als Pfand dazulassen. Am Zielort in Dresden erfährt Kohlhaas, dass die Zollgebühr nicht fällig gewesen wäre, der Junker von Tronka ihn also willkürlich unter Druck gesetzt hat.
Doch die wirklich üble Nachricht ereilt Michael Kohlhaas erst auf dem Rückweg, als er in der Tronkenburg nach seinen beiden Pferden sucht und feststellt, dass sie unterernährt, kein bisschen gepflegt, zu anstrengender Feldarbeit missbraucht und verwundet wurden. Das ist dem Pferdehändler, den Kleist als „einen der rechtschaffendsten und zugleich entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ beschreibt, zu viel. „Nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“ Zugegeben, die Sprache Heinrich von Kleists ist selbst für geschickte Köpfe des 21. Jahrhunderts eine harte Nuss. Die spannende Fortsetzung der Intrige darf man darum gut und gerne auch in der Bearbeitung der Novelle von Diethard Lübke nachlesen. Sie ist für nur ein paar Euro im Verlag Cornelsen erhältlich.
Michael Kohlhaas zieht vor Gericht, lässt keine Chancen der Justiz seiner Zeit unversucht, scheitert an den Beziehungen des Junkers von der Tronkenburg und schwört Rache. Nicht einmal der große Theologe Martin Luther kann ihn von seinen Plänen abhalten, sich durch Selbstjustiz zu holen, was ihm rechtens zusteht. Wer Michael Kohlhaas betrügt, kann sich seines Lebens nicht mehr länger sicher sein.
„Wie Clint Eastwood vor 30 Jahren!“
Arnaud des Pallières hätte für die tragische Hauptfigur Michael Kohlhaas keinen besseren Filmschauspieler als den Dänen Mads Mikkelsen finden können. „Wäre Kohlhaas eine Landschaft, wäre er bergig. Wegen der Trockenheit, der Härte, der Schroffheit“, wie der französische Filmemacher betonte. „Während der Vorbereitung gab es eine kurze Pause, in der wir die Originalschauplätze mit der deutschen Co-Produktion besuchten. Also die Landschaften, wo sich die Geschichte abgespielt hat. Es war furchtbar, weil es nicht mit meiner Vorstellung zu tun hatte. Es sah aus wie in der Normandie. Es war flach, ein wenig weich und fruchtbar. Ganz anders als mein Schauspieler und die Energie, die ich haben wollte.“
David Hugendick vom Team „Der Zeit“ veröffentlichte noch im Jahr der Filmpremiere von „Michael Kohlhaas“ eine Rezension, worin er den Entschluss, das Drama in den französischen Cevennen zu drehen, als schweren Fehler bezeichnete: „Michael Kohlhaas ist nämlich leider misslungen. Er ist, um das Mindeste zu sagen, ein Film, der hinter der Wucht der Novelle zurückbleibt.“ Kann man diese Kritik in der Tat so stehen lassen? Nein! Mads Mikkelsen hat vor den acht Wochen Drehzeit am Set wie ein Getriebener akribisch Französisch sprechen gelernt – der Film spielt nicht in deutscher Sprache, was der Synopsis jedoch nicht im Geringsten schadet – und sich auch das Handwerk im Pferdestall mit allen Raffinessen antrainiert. Die rote Karte, die der Redakteur der „Zeit“ Arnaud des Pallières und Mads Mikkelsen gerne gezeigt hätte, ist da fehl am Platz.
Denn der dänische Filmstar weiß nur zu genau, worauf es im Kino ankommt: „Zu unserem Beruf gehört auch, dass sich der Zuschauer hoffentlich mit uns identifiziert.“ Mads Mikkelsen und die Figur Michael Kohlhaas formieren ein Tandem, das unweigerlich ins Schwarze trifft. Auch Arnaud des Pallières zeigt ein untrügliches Gespür für den Widerstand gegen Willkür und den Schrei nach Gerechtigkeit, denn „die wichtigste Mitteilung der Novelle von Kleist ist eine sehr bestimmte Form von Brutalität: was es heißt, Ungerechtigkeit zu erfahren.“