Die 1984 in Rumänien geborene Germanistin und Rumänistin Cătălina Ene Onea, die an der Universität Bukarest ihr Bachelor- und Masterstudium absolviert hat und im vergangenen Jahr an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Dr. phil. promoviert wurde, hat ihre umfangreiche Berliner Dissertation vor kurzem im Wissenschaftlichen Verlag Berlin veröffentlicht. Das schöne Buch ziert als Umschlagbild die Reproduktion der Farblithographie „Portretele Medeei“ (Porträts von Medea) aus dem Jahre 1979 von Geta Brătescu, jener mittlerweile 91-jährigen rumänischen Künstlerin, die in diesem Jahr das Land Rumänien bei der 57. Internationalen Kunstausstellung „La Biennale di Venezia“ repräsentiert.
Damit wird der Leser, noch bevor er das Buch geöffnet hat, daran erinnert, dass die mythologische Gestalt der Medea, die ihrem Geliebten Iason, dem Anführer der Argonauten, hilft, das Goldene Vlies zu erringen, dann aber aus Rache ihre beiden gemeinsamen Kinder tötet, nicht nur seit über 2400 Jahren in der Weltliteratur lebendig ist, sondern auch auf der Theaterbühne, in der Musik (Oper, Ballett, Modern Dance), in der Bildenden Kunst, und seit dem 20. Jahrhundert auch im Film, man denke etwa an Pier Paolo Pasolinis „Medea“ aus dem Jahre 1969 mit Maria Callas in der Titelrolle oder an Lars von Triers TV-Produktion „Medea“ aus dem Jahre 1988 nach dem Drehbuch von Carl Theodor Dreyer.
Die Medea-Studie von Cătălina Ene Onea wird zudem durch einen lobenden Umschlagtext ihrer Berliner Doktormutter Ulrike Vedder sowie durch ein würdigendes Vorwort der Berliner Germanistikprofessorin Inge Stephan eingefasst, die, selbst eine bekannte Medea-Forscherin, die Autorin der Studie „Medea der Gegenwart“ zur Wahl ihres Dissertationsthemas inspiriert hat. Genau genommen müsste der Titel der Monographie von C²t²lina Ene Onea „Medea in der Gegenwart“ lauten oder, noch besser, „Medeen der Gegenwart“, denn es gibt nicht nur die eine Medea der Gegenwart, vielmehr ist deren Zahl Legion, worauf die Verfasserin in ihrem Buch auch allenthalben selbst hinweist.
Cătălina Ene Onea hat für ihre Untersuchung der literarischen Adaptationen des Medea-Stoffes in der zeitgenössischen Gegenwart sechzehn Texte (Gedichte, Romane, Theaterstücke) ausgewählt, die, mit Ausnahme des Gedichtes „Die Medea von Lodz“ von Bertolt Brecht aus dem Jahre 1934, allesamt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stammen. Bemerkenswert ist außerdem, dass die Verfasserin in ihrer Studie nicht nur Texte der deutschen Literatur behandelt, sondern dem Medea-Stoff auch in zeitgenössischen literarischen Werken aus Italien, Spanien, Kuba und den Vereinigten Staaten von Amerika sowie aus Kroatien und Rumänien nachspürt. Sie gewinnt damit eine umfassende interkulturelle Perspektive, die sie für die Analyse der Medea-Gestalt in der Gegenwartsliteratur bereichernd und gewinnbringend einsetzt. Streng philologisch betrachtet ist es freilich nicht nachzuvollziehen, warum Corado Alvaros italienisches Theaterstück „Lunga notte di Medea“ (1949) in Cătălina Ene Oneas Studie in spanischer (und nicht in deutscher) Übersetzung zitiert wird, wie es umgekehrt zu bedauern ist, dass der im Buch abgedruckte Textauszug aus dem 1999 erschienenen Gedichtband „Medeea şi maşinile ei de război“ (Medea und ihre Kriegsmaschinen) von Ioan Flora nicht in der rumänischen Originalversion zitiert wird, während andererseits Originaltexte in den Weltsprachen Spanisch und Englisch dieses Privileg genießen. Schade um die zumal von einer Rumänistin und rumänischen Muttersprachlerin verpasste Chance!
Cătălina Ene Oneas Studie geht in ihrem Interpretationsteil mit Fug und Recht von der „Medea“ des Euripides aus, die historisch, auch wenn es davor bereits „Medea“-Tragödien wie etwa die des Neophron gegeben hat, als maßgebliche dramatisch geprägte Form des Medea-Stoffes in der Antike anzusehen ist. Hier liegen sämtliche Kernelemente des Mythos bereits vor, die dessen gesamte spätere Rezeptions- und Wirkungsgeschichte bestimmen: Medea als die Barbarin unter den Hellenen oder, verallgemeinert betrachtet, als die Ausländerin, die Andere und die Fremde; Medea als Ratwissende, als Zauberkundige, oder, modern ausgedrückt, als starke Frau; Medea als liebende und dennoch verstoßene Gattin; Medea als arglistige Rächerin; Medea als Mörderin ihrer eigenen Kinder.
Auf die Analyse der „Medea“ des Euripides folgen dann in Cătălina Ene Oneas Studie kundige Interpretationen verschiedener Medea-Adaptationen, die im Folgenden nur aufgezählt werden können. Nach dem bereits erwähnten Brecht-Gedicht sind dies Gedichte von Paul Celan („Im Schlangenwagen“), Sylvia Plath („Edge“) und Helga M. Novak („Brief an Medea“), ferner Medea-Dramen wie das bereits erwähnte italienische von Corado Alvaro, das spanische Drama „Medea, la encantadora“ von José Bergamin und das kubanische Drama „Medea en el espejo“ von José Triana. Darauf folgen in Cătălina Ene Oneas Buch Interpretationen zu zwei Medea-Dramen aus den USA, wobei korrekterweise nur Neil LaButes Theaterstück „medea redux“ aus dem Jahre 1999 der amerikanischen Literatur zuzurechnen ist, während das Drama „Manhattan Medea“ der in Berlin lebenden Schriftstellerin Dea Loher, das 1999 beim internationalen Kunstfestival „Steirischer Herbst“ uraufgeführt wurde, in den Bereich der deutschen Literatur gehört, auch wenn es in New York spielt, in selbem Maße wie zum Beispiel auch Ingeborg Bachmanns letztes, im Jahre 1957 entstandenes, Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“.
Das darauf folgende Kapitel „Medea in Deutschland“ fällt mit der Untersuchung lediglich zweier literarischer Werke vergleichsweise knapp aus. Interpretiert werden hier der Roman „Freispruch für Medea“ (1987) von Ursula Haas sowie der in zahlreiche Sprachen übersetzte Roman „Medea. Stimmen“ (1986) von Christa Wolf, bei dem Cătălina Ene Onea ihr besonderes Augenmerk vor allem auf die Umwertung der Medea-Gestalt im Vergleich mit der Version des Mythos bei Euripides legt. Bei Christa Wolf ist Medea keine Kindsmörderin, vielmehr sind es die Bürger von Korinth, die die beiden Söhne des Argonauten Iason und der aus Kolchis gebürtigen Medea auf dem Gewissen haben, wobei dieser Umdeutung des Medea-Mythos noch eine besondere politische Pointe innewohnt, insofern als Christa Wolfs Romantext eine Identifizierung der Bewohner von Kolchis mit den Bürgern der DDR und der Einwohner von Korinth mit den deutschen Bundesbürgern nahe legt. Xenophobie, Fremdenhass, Flüchtlingsproblematik, Sündenbockpsychologie sind weitere Schwerpunkte des Medea-Stoffes bei Christa Wolf, ebenso wie ein feministisch korrektes Bild der Frau oder auch der Widerstreit zwischen patriarchalischer und matriarchalischer Mythendeutung.
Im letzten Interpretationskapitel der Studie Cătălina Ene Oneas kommen dann weitere Medeen zur Sprache: das Gedicht „Medea“ (2007) des spanischen Lyrikers und Altphilologen Vicente Cristóbal; der dramatische Monolog „Medea en Camariñas“ (2001) des galicischen Schriftstellers und Latinisten Andrés Pociña; der Monolog „Archetyp: Medea“ (2000) aus der Feder der kroatischen Autorin Ivana Sajko; das Theaterstück „Medea es un buen chico“ (1981) des kürzlich verstorbenen spanischen Gegenwartsdramatikers Luis Riaza; und der bereits erwähnte rumänische Medea-Gedichtband des 1950 im serbischen Banat geborenen und 2005 in Bukarest gestorbenen Lyrikers und Übersetzers Ioan Flora.
Der gewichtige erste Teil der Studie Cătălina Ene Oneas informiert über Mythos-Theorien, über Verfahren der Intertextualität sowie über Begriffe wie Interkulturalität, Multikulturalität und Transkulturalität, wie sie derzeit in der Literatur- und Kulturwissenschaft verwendet werden. Danksagungen an Dutzende Personen und Institutionen sowie ein Lebenslauf und Hinweise auf weitere Publikationen der Autorin runden die lesenswerte Studie Cătălina Ene Oneas ab.