Niemand hat mir den Auftrag erteilt, auf die wichtigen Ereignisse aufmerksam zu machen, die unerwartet oft im „engen Kreis“ – um Eminescu zu zitieren – der deutschen Bevölkerung in Rumänien stattfinden. Wenn ich mich erklären möchte, schreibe ich wie ein Buchhalter oder wie ein Politikwissenschaftler. Dieser Stil liegt mir gar nicht... Ich habe mir selbst das Recht genommen, der Fürsprecher dieser Sprachinsel zu sein, die höchstens einige Hunderttausend Seelen umfasst, wenn ich nicht gar übertreibe. Ich habe die Schule im katholischen Ursulinenkloster in Hermannstadt/Sibiu besucht und war in den ersten zwei Jahren meiner Berufstätigkeit Fachlehrerin an einer Schuleinheit mit deutscher Unterrichtssprache in derselben siebenbürgischen mittelalterlichen „Burg“, die ich in meinen Gedanken täglich durchwandere. Unsere Sachsen leben. Unsere Sachsen sind schöpferisch tätig. Unsere Sachsen, die in den Häusern ihrer Urgroßeltern wohnen – Lederer, Kürschner, Tischler, Fleischer, Bäcker, Hufschmiede, Schmiede, die die Wehrmauern mit ihren eigenen Händen errichtet haben – lieben diesen Boden und den angestammten Sitz, das Heim und den Garten, sie achten die althergebrachten Gewohnheiten und die Gebeine der Ahnen.
An den Wänden ihrer Wohnungen findet man zuweilen einen Stammbaum, und oft kann man zwei Nachbarinnen über den Zaun hinweg in einem merkwürdigen Dialekt sprechen hören, der haargenau dem Luxemburgischen ähnelt. Sonderbar. Woher mögen diese Menschen gekommen sein, die in allem so maßvoll sind, so beherrscht, wortkarg und höflich, so diszipliniert, pünktlich und sensibel im Denken und bedacht in der Wahl ihrer Freunde, diese so romantischen und beharrlichen Menschen? Deshalb verspricht mir jede Begegnung mit dem Hermannstadt meiner Kindheit einen neuen Frühling, wie jenen April, in dem ich mein erstes Gedicht verfasste.
Was geht hier vor? Die Sprache, in der ich über die Bewohner dieser „Burg“ schreibe, ist nicht meine leichtfüßige, spöttische Sprache mit Würze und Schärfe, die ihren Ursprung in Konstantinopels Stadtviertel Fanar hat und von Caragiale weiterentwickelt wurde. Denkt ja nicht, dass ich es wagen würde, Caragiale zu kritisieren, das einzige Markenzeichen des Landes, das Rumänien wie angegossen ist. Doch wenn du von jemandem sprichst, der auch ein Teil von dir selbst geworden ist, kannst du nicht umhin, seine guten und schlechten Eigenschaften, seine Gewohnheiten und Tugenden, und vor allem seine Art, sich auszudrücken, zu übernehmen, vor allem wenn du Dichter bist. Dementsprechend schlägst du einen den Sachsen angepassten sanften Ton an, wenn du von diesen sprichst.
Vielleicht ist diese Einführung überflüssig, wenn ich im Grunde die strikt literarische Absicht habe, auf das Erscheinen eines Buches aufmerksam zu machen, das Reiseaufzeichnungen aus Baltschik, von Santorin und den Vulkaninseln, aus Jerusalem, Rom, Triest, Venedig, Wiepersdorf, Stuttgart usw. umfasst. Was uns darin geboten wird, beschränkt sich nicht nur auf die Beschreibung einiger spezifischer Sehenswürdigkeiten, sondern es handelt sich um ein tiefgründiges Eintauchen in die kulturelle, historische und mythologische Substanz der besuchten Stätten. Das einfache touristische Reisevergnügen wird zur inneren Erforschung, die zu den Schichten vordringt, die die Geheimnisse unserer Entwicklung aus urdenklichen Zeiten bewahren. Das Buch „Weiße Lagune und andere Reisestationen“, kürzlich in deutscher Sprache im Hermannstädter hora Verlag erschienen, hinterlässt den sonderbaren Eindruck, dass dich ein Unsichtbarer an der Hand leitet. Und plötzlich erkennst du, die Absicht, einen bestimmten Ort zu erreichen, entspringt nicht dem Menschen, sondern dem Weg. Durch den ganzen Reiseverlauf – wer weiß wo und wie festgelegt – zieht sich der Faden des Schicksals, denkwürdig dargestellt von dem monumentalen „Schicksalsbrunnen“ im Oberen Schlossgarten in Stuttgart, wohin mich in einem anderen Sommer, in einem anderen Jahr, auch meine Schritte führten.
Um meine Begeisterung für Joachim Wittstocks Prosa mit euch zu teilen, hier ein Beispiel:
„Aus Christa Thurmayers Hinterlassenschaft im Seniorenstift Stuttgart-Schönberg griff ich mir einen schmalen Bildband: ‘Gilgamesch von Uruk’. Erzählt von Arnica Esterl. Mit Bildern von Marek Zawadzki (Esslingen, Wien: Esslinger Verlag J. F. Schreiber 1998). Daheim angelangt, gesellte ich das Buch zum Insel-Band ‘Gilgamesch. Eine Erzählung aus dem alten Orient’. Zu einem Ganzen gestaltet von Georg E. Burckhardt (Leipzig: Insel Verlag, o. J., Insel-Bücherei Nr. 203). Mit der älteren Veröffentlichung hat es folgende Bewandtnis: Als Christa Thurmayer 1974 in die Bundesrepublik Deutschland auswanderte, übernahm ich von ihr besagtes Insel-Buch. Beim Zusammenfügen der beiden Veröffentlichungen durfte ich den Schluss ziehen, der uralte assyrisch-babylonische Mythos habe im Wissen und in der Vorstellungswelt der Besitzerin eine gewisse Rolle gespielt. Wieso sie darauf verfiel, sich damit zu befassen, ist mir nicht bekannt. Das Pflichtpensum im Fach Weltliteratur mag ihr, der in Klausenburg/Cluj ausgebildeten Philologin, den ersten Anstoß gegeben haben, doch bedurfte es wohl auch späterer Impulse, um sie darin zu bestärken, sich mit der zwar reizvollen, doch spröden Dichtung auseinanderzusetzen.
Wenig plausibel erschiene es mir anzunehmen, es hätte jene Veröffentlichung auf sie eingewirkt, die vor allem von der rumänischen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde, das Poem ´Enghidu´ von Nichita Stănescu (in Nichita Stănescus Band ‘Dreptul la timp’. Bucureşti: Editura Tineretului 1965, S. 18-20).
Dieses bemerkenswerte Stück Lyrik und andere Proben aus dem dichterischen Schaffen des viel beachteten, bald als schulebildend geltenden Autors erschienen unsereins literarisch interessierten Angehörigen einer – im Vergleich zu Christa Thurmayers Alter – jüngeren Generation nicht nur als Leistungen eines um neue Sichtweisen, um neue Ausdrucksmittel bemühten Schriftstellers, sondern auch als Zeugnisse einer während der 1960er Jahre unverhofft aufgefächerten Thematik in der Literatur des volksdemokratischen Rumänien. St˛nescu hatte als Motto seines Poems die Stelle des Gilgamesch-Epos gewählt, in der es heißt: ´A murit Enghidu, prietenul meu, care ucise cu mine lei.´ In der Burckhardtschen Übertragung entspricht dies dem Passus: Enkidu, mit dem ich ‘in den Schluchten die Löwen tötete, mein Freund, der mit mir alle Gefahren teilte – ihn erreichte des Menschen Schicksal’. ‘Des Menschen Schicksal’: Gerade das ist es, was wir uns von der orientalischen Dichtung deuten lassen wollen. Enkidus Tod und die damit Gilgamesch ins Bewusstsein gerückte Vorstellung des eigenen Endes lassen den schier verzweifelnden König von Uruk durch die Steppen seines Landes irren und schließlich den Entschluss fassen, seinen zu den Göttern erhobenen Ahnherrn Utnapischtim nach dem Geheimnis der Unsterblichkeit zu befragen.
Unsterblichkeit wird in Burckhardts Übertragung lediglich als ‘das Leben’ bezeichnet, das von keiner Vergänglichkeit beeinträchtigte und von keinem baldigen Tod begrenzte Dasein. Im ‘Göttergarten’ grünt der ‘Baum des Lebens’, bewacht von einer Göttin, die Gilgamesch eröffnet: ‘Das Leben, das du suchst, wirst du nicht finden. Als die Götter die Menschen schufen, bestimmten sie den Tod für die Menschen, das Leben behielten sie für sich selbst.’ Ähnlich äußert sich auch der unter schwierigsten Bedingungen erreichte Utnapischtim. Selbst das ‘Wunderkraut’, das der beharrlich die Unsterblichkeit suchende Irrfahrer auf Weisung Utnapischtims erlangt, kommt ihm abhanden, die ‘Wunderblume’, die das Leben samt ‘Vollkraft der Jugend’ verheißt. Dieses poetisch ausgestaltete negative Fazit, zurückreichend in das zweite, das dritte Jahrtausend vor Christi Geburt, hat die Gedankenwelt des alten Orients und dann auch Europas Schicksalsdeutung nachhaltig geprägt. Utnapischtim spricht zu Gilgamesch: ‘Von der Tage Anbeginn her gibt es keine Dauer.’ Apropos Wunderblume. Sie wird Gilgamesch von einer Schlange entwendet, zu einem Zeitpunkt, als er Entspannung sucht und es daher an der gebotenen Wachsamkeit fehlen lässt.
Mit dem Motiv ‘Schlange’ können wir unseren Ausflug in die Mythologie des Nordens und des Nahen Ostens beschließen und uns wieder heimisch-siebenbürgischen Gefilden nähern. Zwar gibt es im Karpatenland keinen ‘Schicksalsbrunnen’, doch kennt die Region immerhin eine ‘Schlangenkopfquelle’. Sie fließt im Park der Brukenthalschen Sommerresidenz in dem Alttal-Städtchen Freck/Avrig. Obwohl sie eher als Rinnsal zu bezeichnen wäre, das an wenig auffälliger Stelle plätschert (und zeitweilig versiegt), wird jeder Besucher hingeführt. Und das mit Recht – die ‘Schlangenkopfquelle’ spendet nicht nur das mit den Sinnen erfassbare Nass, sondern birgt wohl auch eine bis noch kaum ergründete Geschichte, in der vielleicht das Lebenskraft gewährende Wunderkraut eine Rolle spielt.“
Und jetzt, nach dem Ende von Joachim Wittstocks Text, der mich fasziniert hat und bei dem ich mich gewundert habe, dass heutzutage, wo wir alle so in Eile sind, noch Menschen existieren, die von obskuren, schwer zugänglichen Bereichen angezogen sind, erinnerte ich mich an meinen Sohn: Als er drei Jahre alt war, wurde er gefragt, was er werden will, wenn er einmal groß ist. Das Kind antwortete: Wasser. Jedes Kind lebt, bevor es Luft atmet, im Wasser, im Fruchtwasser. Auch das Leben ist aus der Ursuppe entstanden, und Lebensspuren auf unbevölkerten Planeten werden mit ausgetrockneten Wasserläufen in Verbindung gebracht. Das Wasser ist also das Urelement. Im Schicksalsbrunnen trocknet es nie aus. Alle wissen, dass die Schlange die Versuchung darstellt, die aus dem Menschen die Menschheit gemacht hat, und ebenfalls die Schlange ist meist giftig. Das Gift tötet. Doch in homöopathischen Mengen heilt das Gift. Wasser und Schlange gehören also zu den Beständen, die wesentlich zum Leben auf dieser Erde beitragen, wie die Wunderkräuter, die das Leben der verwilderten Wesen, die aus der zivilisierten Welt ausgeschlossen wurden, erhalten... Auch darin liegt ein Geheimnis, das in diesen Kontext gehört, denn das ganze Dasein ist eine unendliche Reihe von Bedingtheiten, von Wegen.
Es ist ein Reisebuch, das nicht hier endet.