Selbstverständlich ist es schön, mitten in Hermannstadt/Sibiu auf der Heltauergasse/Nicolae Bălcescu einer Roma-Blaskapelle beim Spielen rassiger Volksmusik zuschauen und zuhören zu können, die einen den Hut vor ihren begnadeten Vorzeigekönnern ziehen lassen. Auch die von Profis gespielten Statuen auf kleinen Sockeln und in auffallenden Kostümen, die sich durch das Einwerfen einer Münze in den Becher vor ihnen zu kurzen Bewegungen zur Freude umstehender Passanten bringen lassen, waren vom 24. Juni bis 3. Juli während der 29. Auflage des Hermannstädter Internationalen Theaterfestivals (FITS) wie erwartet ungleich häufiger als üblich in der Fußgänger-Meile des Stadtzentrums anzutreffen. Und dass der kleine Habermann-Platz hinter dem Radu-Stanca-Theater (TNRS) täglich rekordverdächtige Publikumsströme anlocken kann, hat sich an den zehn Tagen des FITS 2022 wie schon so oft in jüngsten Jahren einmal mehr bestätigt. Unbedingt zu nennen auch das mit Drohnen in den Himmel über dem Theater-Parkplatz gezauberte Lichtschauspiel am ersten und letzten Abend der seit Jahren für ihre beispiellosen Zuschauermassen beliebten und mitunter auch etwas berüchtigten Großveranstaltung. Ein Sommeranfang ohne das FITS ist in und für Hermannstadt undenkbar. Ein Fest jedoch, das zum Selbstläufer geworden ist, bringt auch Tücken mit sich.
„Schönheit“ war das Motto des FITS im letzten Jahr vor seiner 30. Auflage. Wird die Jubiläums-Edition 2023 alle vorangegangenen Anläufe übertreffen? Anders gefragt: Kann es noch Größeres und Höheres als das Motto des FITS 2022 geben? Wer nachträglich zu sich selber und der größten Massenveranstaltung Hermannstadts ehrlich sein will, braucht nicht lange nachzudenken, dass sie sehr wohl besser zu gestalten wäre. Nicht über ein Verfeinern, sondern durch Ausrangieren.
Denn noch berühmtere Akteure als jene, die das FITS jährlich nach Hermannstadt holt, hat die Welt einfach nicht verfügbar. Da stellt sich die Frage nach genau den Angeboten, auf die man eben ohne Verlust von Qualität verzichten könnte. Der „Makabre Tanz“ der spanischen Kompanie „Efimer“ – ganze dreimal abends unter dem freiem Himmel aufgeführt – wäre eventuell mit in die Wertung des Unnötigen zu rechnen: Ein überlebensgroßes Menschen-Skelett, wie eine Marionette bewegt und von Rauchschwaden, Schlagzeug und spektakulären Feuer-Flammen begleitet, hat mit Theater und Kunst nicht sehr viel zu tun. Geschweige denn mit Schönheit. Auch wenn noch so viele Zuschauer es gut fanden. Schwer natürlich, bestimmt aber nicht unmöglich wäre es, den Publikumsgeschmack richtig zu bilden und zu erziehen – so weit nämlich, dass Produktionen ohne künstlerischen Mehrwert kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt wird. Oder ist das ungeschriebene Gebot, über Geschmack nicht zu reden, um jeden Preis zu rechtfertigen? Manches Angebot des FITS sollte besser außen vor bleiben.
Doch die Leute leben davon
Vielleicht aber sind Outdoor-Vorstellungen, die es niemals auf eine richtige Bühne im Theaterhaus schaffen würden, geeignet, um auch von Kunst und Kultur nicht angesteckten Zuschauern dennoch ein rauschendes Festival-Gefühl zu vermitteln. „Erst muss es möglich sein, auch armen Leuten / Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden“, hätte Sozialist Bertolt Brecht dazu treffend bemerkt. „Denn wovon lebt der Mensch? / Indem er stündlich den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst. / Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich / Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist. / Ihr Herren, bildet euch da nur nichts ein: / Der Mensch lebt nur von Missetat allein!“, wie es im finalen Song des zweiten von drei Akten der „Dreigroschenoper“ von Texter Bertolt Brecht und Komponist Kurt Weill doch so schön heißt.
Die Inszenierung auf Rumänisch am Bukarester Excelsior Theater unter Leitung von Regisseur Răzvan Mazilu und vor einem perfekten Bühnenbild von Dragoș Buhagiar landete fünf Wochen nach ihrer Premiere auch als Gastspiel in der Hermannstädter Kulturfabrik beim FITS 2022 einen starken Erfolg. Kurz vor dem unverhofft glücklichen Ende der „Dreigroschenoper“ die herzhafte Heldentenor-Arie „E lucevan le stelle“ aus der Oper „Tosca“ von Giacomo Puccini als Klangkulisse für die Gefängnis-Haft von Schauspieler Lucian Ionescu in der Rolle des verurteilten Mackie Messer zu gebrauchen ist ein mutiger Schritt von Răzvan Mazilu. Selbst wer ihn kitschig gefunden haben mag muss lobend anerkennen, dass er der Verfremdung, die ein Brecht-Stück erst zu einem Brecht-Stück macht, wunderbar in die Karten gespielt hat.
Und nicht zu vergessen ein brauner und antiquarischer Flügel der „k.k.pr. Piano-Forte-Fabrik A. Pokorny in Wien“ auf nur einem und teilweise abgesägten statt drei vollständig erhaltenen Beinen, der zuvor auf der Bühne das Interieur eines Gangster-Clubraums im Londoner Viertel Soho angezeigt hatte – eine absichtlich schief stehende Requisite, die ihr Übriges zur exzellenten Inszenierung leistete.
Unabhängig bis politisch
Nicht um das Richtige und das Falsche, sondern um die fließende Grenze dazwi-schen geht es im Theater. Also einfach um das Leben mit all seinen guten und schlechten Stunden an ein und demselben Vorstellungs-Abend. „(In)Corect“ von Texterin und Regisseurin Leta Popescu mit dem jungen Ensemble des unabhängigen Hauses „Reactor de creație și experiment“ (Klausenburg/Cluj-Napoca) im Studio-Saal des TNRS ist im Nachgang des FITS 2022 als eines der besten Gastspiele in Hermannstadt zu nennen.
Dem Mitte Februar 2020 in Klausenburg erstmals aufgeführten Stück hat die Pandemie – weil es sich dem intergenerationellen Konflikt einer klassischen Großfamilie der Breitengesellschaft Rumäniens annimmt – einen zusätzlichen Bedeutungsschub verpasst. Ein zweistündiges Drama, worin der Familien-Älteste am Schluss enttäuscht und frei von der Leber weg lästert, dass „wer weder heiratet noch Kinder bekommt, selber immer Kind bleiben wird.“ Aber auch ein Theaterstück, in dessen letzter Szene die Familien-Älteste den ihrerseits genauso enttäuschten und längst schon erwachsenen Kindern Verzeihung für in der Vergangenheit zu verortenden Verletzungen abzuringen versucht.
Doch „sie wird es nie verstehen“, wie der Sohn in seinem Monolog zu deuten können glaubt. Das vom Ensemble für die Inszenierung „(In)Corect“ absichtlich gewählte Vergleichsbild für ein sperriges Miteinander-Auskommen ist just die Mündung der Donau in das Schwarze Meer im Donaudelta, dem imaginären Urlaubsort der Großfamilie im Theater. Wo unterschiedliche Gewässer ausweglos aufeinandertreffen, strömt keines mehr in die richtige und keines mehr in die falsche Richtung. Das ist die Realität, und sie ist oft gar nicht leicht. Es kann wirklich schwierig sein, das Schöne an ihr zu sehen.
Was im Familiären als ein je nach Situation mal mehr oder weniger verständliches Entscheidungs-Vorrecht Einzelner gehandelt wird, entspricht im Politischen dem Begriff von Macht. Sie kann sich in sehr vielen Gesichtern zeigen. Verdient oder unverdient, erkämpft, geerbt, geschenkt, gekauft, vorgetäuscht, erschlichen oder verloren, und kompetent wohlmeinend oder unfähig und hintertrieben. Was für ein Gesamtpaket denkbar ungünstiger Charakterzüge William Shakespeare dem durch Mord an die Macht gekommenen Schotten-König Macbeth andichtet, ist einfach zu entschlüsseln.
Alessandro Serra hat die Tragödie „Macbeth“ aus der englischen Sprache vor mehr als fünf Jahren ins Sardische übersetzt und im März 2017 mit der „Compagnia Teatropersona“ am Sardegna Teatro die Premiere genau der Vorstellung gefeiert, die unter allen Produktionen aus Italien international bereits am allermeisten gefragt ist. Dass diese gemäß der elisabethanischen Tradition ausschließlich von Herren gespielte Inszenierung am ersten Juli-Wochenende auch im TNRS zu Gast war, entspricht ohne jeden Abstrich dem Renommee des FITS.
Kalt, teuer und ungewiss
In der Kulturfabrik dagegen mussten Zuschauende besonders auf Sitzplätzen an den äußeren Enden der Publikumsreihen einen nicht unempfindlichen Abstrich machen und sich trotz der Sommerhitze von draußen warm anziehen. Noch während des ersten Akts der über knapp drei Stunden gehenden „Dreigroschenoper“ setzten das Geräusch und vor allem das Gebläse einer Klimaanlage ein. Dass die elektronischen Geräte für die Raumkühlung auf viel zu kalte 17 Grad Celsius eingestellt waren, um die natürlich bedingt dicke Luft so stark wie möglich aufzufrischen, ist zwar zu verstehen, hätte aber nicht derart strikt umgesetzt werden müssen. Den Zuschauern auf den Außenplätzen pfiff diese Technik heftig um Kopf, Ohren und Rücken.
Und dann die Kartenpreise: Auch unter dem beschwichtigenden Einwand, dass sie im Vergleich zur Auflage vergangenen Jahres nicht angehoben wurden, war das FITS erneut ein teurer Genuss. 100 oder gar 150 Lei für ein Ticket bedeuten auch für Einheimische, die es sich leisten könnten, eine Hemmschwelle. Entschädigendes Glück hatten die Zuhörenden des Konzerts „La Mar“ mit dem Trio „La Cantiga de la Serena“ aus der italienischen Provinz Puglia in der griechisch-katholischen Ursulinenkirche Hermannstadts. Als Bonus auf eine Stunde okzidentaler und orientalischer Volksmusik des Mittelmeerraums zum verträglichen Kartenpreis von 40 Lei oder ermäßigt 30 Lei gab es am Ausgang drei CD´s des Ensembles zum weder unter- noch übertriebenen Preis von 120 Lei zu kaufen.
Glücklich auch die Entscheidung der Veranstalter des FITS, für das Lesekonzert „Mozart bei Madame Pompadour“ mit dem Cellisten und Literatur-Kenner Götz Teutsch und Pianistin Cordelia Höfer Zuhörenden an der Kasse des Thalia-Saals nicht den allerhöchsten Kartenpreis zu berechnen. Das bessere Geschenk dabei jedoch hatten zweifelsohne Nicu Șulț, Orchestermitglied der Staatsphilharmonie Hermannstadt, und TNRS-Ensemblemitglied Marius Turdeanu als Rezitator von Briefen der Handschrift eines Leopold Mozart, Edmond de Goncourt, Charles-Georges Leroy oder Wolfgang Amadeus Mozart. Unter den Absendenden auch Madame Pompadour, Ingeborg Bachmann und die Marquise de Crequy, die den großen Schöpfer des „Lacrimosa“ um etwas mehr als zehn Jahre überlebte. Noch länger als dessen „Requiem“ dürfte übrigens auch das FITS nicht leben. Die Welt scheint auf eine Zeit zuzusteuern, in der manch Schönes zum letzten Mal gewesen sein kann.