Die diesjährige Tagung des Hermannstädter Lehrstuhls für Germanistik an der Lucian-Blaga-Universität in Hermannstadt/Sibiu, die am ersten Freitag im laufenden Monat November stattfand, wartete mit einem Novum auf. Erstmalig wurde die mit kontinuierlicher Regelmäßigkeit und in bewährter Manier abgehaltene Tagung, zu der die Hermannstädter Germanistik alljährlich nationale und internationale Fachkolleginnen und -kollegen zum intensiven Gedankenaustausch einlädt, als Online-Videokonferenz veranstaltet. Bis zuletzt hatte die Initiatorin und Koordinatorin der Tagung, die Hermannstädter Germanistin Frau Prof. Dr. Maria Sass, noch darauf gehofft, die Tagung leibhaftig als Gemeinschaftsveranstaltung in den Räumen der Lucian-Blaga-Universität abhalten zu können, aber die Entwicklung der Corona-Pandemie in Rumänien hatte ihr keine Wahl gelassen! Die Tagung musste online über einen Internet-Videokommunikationsdienst durchgeführt werden. Und die Premiere im Online-Medium konnte sich dabei durchaus sehen lassen!
Eröffnet wurde die Online-Jahrestagung durch drei hohe Vertreter der Lucian-Blaga-Universität. Deren Prorektor für Forschung, Innovation und Internationalisierung, Herr Prof. Dr. Andrei Tertan, lobte die Beharrlichkeit, die Ausdauer und die gemeinschaftliche Anstrengung der Hermannstädter Germanistik, jedes Jahr wieder eine neue und gehaltvolle wissenschaftliche Veranstaltung auf die Beine (und dieses Jahr vielmehr: ins Netz) zu stellen. Der Dekan der Fakultät für Philologie und Bühnenkünste, Herr Prof. Dr. Dragoș Varga, erinnerte an Hermannstadt als einen Ort bedeutender literarischer und wissenschaftlicher Zirkel und äußerte seine Freude über eine germanistische Konferenz auch und gerade in Zeiten pandemisch bedingter Einschränkungen, wobei er namentlich der Gestalterin des Tagungsprogramms, Frau Doz. Dr. habil. Doris Sava, seinen besonderen Dank aussprach. Der Leiter des Departments für angloamerikanische und germanistische Studien, Herr Lekt. Dr. Ovidiu Matiu, brachte abschließend die Hoffnung zum Ausdruck, vielleicht bereits bei der nächsten Hermannstädter Jahrestagung den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wieder von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten zu können.
Nach dieser offiziellen Begrüßung trat das Plenum in zwei Sektionen auseinander, zu deren diversen Vorträgen man über zwei verschiedene Links Zugang erhalten konnte: in eine literaturwissenschaftliche Sektion und in eine parallel dazu eingerichtete Sektion mit sprach- und übersetzungswissenschaftlichen sowie landeskundlichen und fremdsprachendidaktischen Themen. Im ersten Vortrag der literaturwissenschaftlichen Sektion referierten die Kronstädter Germanistinnen Carmen Elisabeth Puchianu und Delia Cotârlea über rumäniendeutsche Literatur im Spiegel des seit 1999 herausgegebenen wissenschaftlichen Fachorgans „Kronstädter Beiträge zur germanistischen Forschung“, in dem rumäniendeutschen Autorinnen und Autoren seit jeher besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde, namentlich Herta Müller, Richard Wagner, Johann Lippet, den Mitgliedern der Aktionsgruppe Banat, ferner Hans Bergel, Karin Gündisch, Oskar Pastior, Eginald Schlattner, Erwin Wittstock und nicht zuletzt Joachim Wittstock, dem die Kronstädter Germanistik allein zwei Festschriften (2009 und 2020) gewidmet hat.
Solchermaßen eingeführt und gleichsam wie gerufen hielt danach der siebenbürgisch-sächsische Schriftsteller Joachim Wittstock, der auch als Literarhistoriker und Übersetzer in Hermannstadt wirkt, einen Vortrag über die 1896 in Bistritz/Bistri]a geborene und 1954 in Heltau/Cisnădie verstorbene siebenbürgische Dichterin Gerda Mieß, ins-besondere über ihren einzigen, in den 1920er Jahren entstandenen und bislang noch unveröffentlichten Roman, der Elemente der Autobiographie und der Schlüsselerzählung, aber auch des Bildungs-, Gesellschafts- und Frauenemanzipationsromans in sich vereinigt.
Darauf folgte ein Vortrag der Hermannstädter Germanistin Marcela Ivan, die über den 1911 in Kleinschenk/Cincșor geborenen und 1998 in Freiburg im Breisgau gestorbenen Schriftsteller, Pfarrer und Lehrer Andreas Birkner referierte und dabei dessen literarisches Frühwerk ins Zentrum ihrer Betrachtungen stellte, vor allem dessen an Knut Hamsun geschulte Behandlung von Stoffen aus dem dörflichen Leben, für deren fiktionale Gestaltung Birkners eigenes Heimatdorf gleichsam als Realsubstrat diente.
Die Temeswarer Germanistin Grazziella Predoiu sprach unter dem Vortragstitel „Schreiben mit der Schere“ über Herta Müllers Collagen-Literatur, insbesondere über deren 2012 erschienenen Band „Vater telefoniert mit den Fliegen“, der zahlreiche Collagen im Postkartenformat enthält. Poetische und spielerische Sprachexperimente fungieren zugleich als „Entspannungsübungen“ wie auch als im „Freiheitsrausch“ geschaffene Texte, die bereits durch die bloße Gestalt ihrer literarischen und bildlichen Inszenierung jeglicher Überwachung der Wörter durch wie auch immer geartete Formen von Diktatur trotzen.
Den nachmittäglichen Teil der literaturwissenschaftlichen Sektion eröffnete ein Vortrag der Klausenburger Germanistin Réka Jakabházi, die über Archetypen und das kollektive Unbewusste in Hermann Hesses Roman „Demian“ (1919) sowie in Áron Tamásis Drama „Urtrost“ (1924) sprach und diese beiden Werke unter dem Aspekt der „Selbstsuche“ miteinander verglich.
Andrea und Valeriu Stancu (Hermannstadt/Berlin/Jassy) machten sich dann in ihrem reich bebilderten Fontane-Vortrag im Sinne einer ambulanten Gedächtniskultur auf die Spur der Erinnerung an Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg, denen man seit 1988 realiter auch auf sog. Fontane-Wanderwegen nachgehen kann, welche durch das Gebiet der ehemaligen Mark Brandenburg führen.
Zwei Hermannstädter Germanistinnen, Maria Sass und Sunhild Galter, stellten anschließend zwei jüngst erschienene Romane der Gegenwartsliteratur vor: erstere den 2016 erschienenen Entwicklungs-, Abenteuer-, Deutschland- und Zeitroman „Glückskind mit Vater“ von Christoph Hein, letztere den 2018 auf Russisch und 2019 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Wolgakinder“ von Gusel Jachina, der sich mit der Geschichte der Wolgadeutschen während der wechselvollen Jahre 1916 bis 1938 in deren historischen Siedlungsgebieten an der Wolga literarisch auseinandersetzt.
Zum Abschluss der gelungenen literaturwissenschaftlichen Sektion sprach die Jassyer Germanistin Ștefania Surdu über die Deutsche Frage aus der Perspektive von Exilintellektuellen, wobei sie insbesondere auf Georg Lukács, Arnold Zweig und Thomas Mann näher einging, vor allem aber auf die Dichotomie zwischen aufklärerischem und romantischem Gedankengut in deren politischen und geistesgeschichtlichen Diskursen.
Online-Tagungen bringen es mit sich, dass die Zeit in der Regel knapper bemessen ist als bei Tagungen mit gemeinsamer physischer Präsenz und dass daher oftmals Simultaneität Sukzessivität ersetzt. Dementsprechend seien die Namen der im Programm der zweiten Tagungssektion verzeichneten Germanistinnen sowie die Vortragsthemen, über die sie referierten, abschließend nur noch genannt: Sigrid Haldenwang (Hermannstadt) über die Heiligennamen „Bartholomäus“ und „Johannes“ im Siebenbürgisch-Sächsischen; Adina-Lucia Nistor (Jassy) über den siebenbürgischen Dorfschreiber auf Reisen in die Moldau und die Bukowina; Doris Sava (Hermannstadt) über „Coronas Wörter“, die Geschichte schrieben; Anita Széll (Klausenburg) über rumänische Übersetzungen Grimmscher Märchen; Ana-Maria Dascălu-Romițan und Roxana Nubert (beide Temeswar) über rumäniendeutsche Landeskunde am Fallbeispiel Banat; Alexandra Nicolaescu (Bukarest) über Landeskunde im Unterricht „Deutsch als Fremdsprache“; Ioana-Maria Cusin (Bukarest) über die Rolle des Radio-Interviews im Landeskunde-Unterricht; und schließlich nochmals Ana-Maria Dascălu-Romițan über Deutsch als Fremdsprache in Rumänien am Beispiel der Polytechnischen Universität Temeswar.