Wer sich gut gedrehte und exzellent besetzte Filmbiografien ansieht, wird immer wieder eine ähnliche Erfahrung machen: die realhistorische Person, die man aus Presse, Film oder Fernsehen zu kennen glaubte, verschwindet nach und nach hinter der Filmfigur, die Maske und Mimik des Schauspielers schiebt sich allmählich vor das scheinbar bekannte Gesicht der geschichtlichen Gestalt, der das jeweilige im Fachjargon so genannte Biopic gewidmet ist. Gerade weil man Persönlichkeiten der Zeitgeschichte letztlich eben doch nicht kennt, zumal man, gerade auch in ihnen zugedachten Dokumentarfilmen, immer nur deren offizielle Inszenierung vorgeführt bekommt, gewinnen Filmbiografien zwingende Plausibilität und eigenes Leben. Für Kinobesucher wird dann Helen Mirren zur eigentlichen Queen Elizabeth II., Anthony Hopkins zum eigentlichen Richard Nixon, zum eigentlichen Pablo Picasso, und Salma Hayek zur eigentlichen Frida Kahlo.
Denselben Effekt kann man erleben, wenn man den vielfach preisgekrönten Film „The Iron Lady“ (2011) von Phyllida Lloyd betrachtet, der nun endlich auch in den rumänischen Kinos zu sehen ist. Der zweifache Oscar, den die Hauptdarstellerin Meryl Streep und die beiden Make-up-Artisten Mark Coulier und J. Roy Helland im Frühjahr dieses Jahres verdient gewonnen haben, verkörpert gleichsam das Erfolgsgeheimnis eines künstlerisch anspruchsvollen Biopic: die gelungene Verschmelzung von Maske und Gesicht als plausibles Substitut für eine dem zeitgenössischen Betrachter sich letztlich entziehende Gestalt der Gegenwart.
Ein weiteres Problem kommt hinzu, insbesondere bei der filmischen Wiedergabe der Biografien von höchsten politischen oder militärischen Führungsgestalten, gerade wenn deren historisches Erbe heftig umstritten ist und kontrovers diskutiert wird. So wurde beispielsweise der Spielfilm „Der Untergang“ von Oliver Hirschbiegel aus dem Jahre 2004 scharf kritisiert, weil der exzellente Hauptdarsteller Bruno Ganz Adolf Hitler darin als fühlenden Menschen verkörperte und nicht als dämonischen Unmenschen. Dabei seien einem der größten Massenmörder der Weltgeschichte Sympathien zugeflossen, die dieser keinesfalls verdient habe.
Mutatis mutandis könnte man vergleichbare Fragen auch an Phyllida Lloyds Film über Margaret Thatcher stellen: Verdient eine Politikerin, die als Kriegsherrin im Falkland-Krieg gegen Argentinien ihr politisches Kapital aufstockte, die die Gewerkschaften entmachtete, einen radikalen wirtschaftsliberalen Kurs verfocht, umfassende Privatisierungen von Staatsunternehmen einleitete, den Einfluss des Staates, z. B. in der Bildungspolitik, zurückdrängte und die britische Gesellschaft im Sinne des von ihr propagierten Thatcherismus polarisierte, überhaupt einen derart einfühlsamen und Verständnis heischenden Film?
Phyllida Lloyd weicht solchen und ähnlichen Fragen von vornherein aus, indem sie ihren Film bei der alternden, an Demenz erkrankten Witwe Margaret Thatcher, die an halluzinatorischen Erscheinungen ihres an Krebs gestorbenen Ehemannes leidet, beginnen und auch wieder enden lässt. Dazwischen ereignen sich zahlreiche Flashbacks, aus denen sich der Film mosaikartig zusammensetzt und in denen verschiedene Dimensionen des privaten und öffentlichen Lebens der Eisernen Lady beleuchtet werden: ihre Kindheit als Tochter eines Kolonialwarenhändlers und Bürgermeisters; ihr Studium in Oxford und ihre Versuche, als Frau in der Männerdomäne der britischen Politik Fuß zu fassen; ihr Familienleben mit ihrem Mann Denis und ihren Zwillingen Carol und Mark; ihr Einzug ins Unterhaus als Abgeordnete des Londoner Wahlkreises Finchley; ihr Wirken als Bildungsministerin im Kabinett Edward Heath; das Erringen des Parteivorsitzes der britischen Konservativen und schließlich die Wahl zur Premierministerin, in jenes Amt, das sie länger als alle anderen britischen Regierungschefs der Neuzeit innehatte und das sie nach elfeinhalb Jahren weitreichenden Wirkens 1990 an John Major verlor.
Die verschiedenen Flashbacks sind, manchmal nahezu unmerklich, durch mehrere Leitmotive miteinander verbunden und verwoben. So kauft Margaret Thatcher zu Beginn des Films als leicht verwirrte alte Frau Milch, was auf ihren Ruf als Milchdiebin („milk snatcher“) anspielt, weil sie als Bildungsministerin die Gratismilch an Grundschulen abgeschafft hatte; das terroristische Attentat auf ein Luxushotel in Mumbai im Jahre 2008, von dem sie aus der Zeitung erfährt, führt sie im Geiste zurück zu einem Bombenanschlag der IRA in Brighton, dem sie und ihr Mann im Jahre 1984 knapp entkamen; das Motiv der Teetasse verbindet Kindheit, Eheleben und Alter in Einsamkeit; das Motiv der Schuhe zieht sich ebenfalls durch den ganzen Film, angefangen vom Tanz mit dem Verlobten über den Moment des Bombenattentats, bei dem Ehemann Denis mit zwei Schuhen in der Hand nach seiner tot geglaubten Frau sucht, bis zum Ende des Films, wo Denis Thatcher als halluzinatorische Erscheinung das Haus ohne seine Schuhe verlässt, während Margaret die Schuhe des Verstorbenen als wohltätige Spende in Plastiktüten verpackt.
Nicht anders als grandios zu nennen sind die Leistungen der mehrfachen Oscar-Preisträgerin Meryl Streep, die mit der Interpretation ihrer Rolle die Gestalt Margaret Thatchers filmisch nochmals neu erschafft; das wunderbare Zusammenspiel von Mimik und Maske, insbesondere bei der über achtzigjährigen Witwe, aber auch bei der über sechzigjährigen Premierministerin, deren damaliges reales Alter dem jetzigen der Hollywoodschauspielerin exakt entspricht; die perfekte sprachliche Wiedergabe des geadelten Mittelklasseenglisch, inklusive der scharfen Betonungen, die dem Naturell der Iron Lady entsprangen; die totale Reproduktion der Thatcherschen Erscheinung, von der Haartracht über Perlenkette, Armband und Fingerring bis hin zum im Kostüm sich abrundenden Gesamteindruck.
Anspruch auf biografische Vollständigkeit erhebt der Film nicht: Freund Ronald Reagan tritt nur einmal kurz in Erscheinung, deutsche Politiker wie Kohl oder von Weizsäcker geraten ebenso wenig ins Bild wie die deutsche Wiedervereinigung, Thatchers Besuch bei Pinochet bleibt unerwähnt. Durch die Freiheit von der Chronik bekommt dieses Biopic letztlich auch Spielfilmqualitäten, die die Filmbiografie außerdem zu einem cineastischen Werk über den Aufstiegswillen einer Einzelnen, über die Versuchungen und Pervertierungen der Macht, über den seelischen Rückhalt in der Lebensgemeinschaft der Ehe und über die Einsamkeit im Alter machen. Auf jeden Fall ein sehenswerter Film mit menschlicher Deutungskraft, auch wenn ihm die letzte künstlerische Durchschlagskraft und eine tiefer gehende politische Aussagekraft fehlt.