Don Giovanni als Selbstmörder

Mozarts heiter-tragisches Musikdrama in der Stuttgarter Staatsoper

Rebecca von Lipinski als Donna Elvira und Don Giovanni in der Zweitbesetzung von Shigeo Ishino
Foto: A.T. Schaefer

Mozarts Don Giovanni ist im Stuttgarter Opernhaus zum Amerikaner geworden. Sein Palast trägt auf der Stuttgarter Bühne den Namen „DG Star Hotel“ und ist der funktionalistischen Bauweise des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright nachempfunden, mit amerikanischer Pop Art als Wandschmuck und mit einer Bar, die das Gemälde „Nighthawks“ (Nachtschwärmer) des amerikanischen Malers Edward Hopper zu zitieren trachtet. Don Giovanni selbst kleidet sich als Playboy in einen weißen Anzug mit Hut oder er trägt Pelz wie die Lebemänner einer einstmals mondänen und inzwischen abgelebten Schickeria. Donna Elvira, die von Don Giovanni verlassene Geliebte, wirkt mit Sonnenbrille, Kopftuch und Trenchcoat, als sei sie eine Filmdiva und bereite sich am Set gerade auf ihren Einsatz als mysteriöse Dame im Krimigenre des amerikanischen Film noir vor. Die historischen Requisiten der spanischen Mantel- und Degenkomödie sind in Stuttgart ersetzt durch zeitgenössische Revolver, Taschenlampen und Schlagstöcke, die das dramatische Bühnengeschehen geradezu inflationär begleiten.

Der heitere und ausgelassene Geist der Opera buffa-Tradition, die von der Regisseurin Andrea Moses gegenüber den Opera seria-Elementen des Mozartschen „Don Giovanni“ stark in den Vordergrund gerückt wird, lässt die durch Bühne und Kostüme (Christian Wiehle) evozierte Atmosphäre von Seelenlosigkeit und Vereinsamung schnell zerstieben. Die Sehnsüchte der Akteure gehen nicht ins Leere oder versinken in Melancholie, sondern richten sich höchst aktiv und ganz konkret auf das eigentliche Subjekt der Begierde Don Giovanni, der in Moses’ Inszenierung vom Jäger zum Gejagten, zum veritablen Objekt der Begierde wird: Donna Elvira will ihren Lover wiederhaben, auch wenn sich dieser fortwährend als notorischer Lüstling und unrettbarer Schürzenjäger erweist; Zerlina lässt sich immer wieder in die durch Don Giovannis Auftreten und Gebaren evozierten, aber letztlich von ihr selbst geschaffenen Sehnsuchtsräume katapultieren, in denen sie Glück, Reichtum und gesellschaftlichen Aufstieg vorwegnehmend zu genießen hofft; und selbst Donna Anna, die hochmoralische und bis oben hin zugeknöpfte Verlobte von Don Ottavio, lässt ihren erotischen Wünschen und Phantasien gerade gegenüber demjenigen freien Lauf, der sie vergewaltigen wollte und obendrein noch ihren Vater tötete.

Der Stuttgarter „Don Giovanni“ sprüht vor Regieeinfällen, die wie ein Feuerwerk auf das erheiterte Publikum niedergehen, sich in ihrer Gefälligkeit aber nicht selten dem gewöhnlichen Geschmack des Mainstream andienen. Wenn Leporello beispielsweise in der berühmten Registerarie via iPod die beeindruckende Liste der Geliebten seines Herrn vorführt, dürfen Nummern wie 0007, 0666 oder 0815 offenbar nicht fehlen. Und wenn die Souffleuse dem Titelhelden dessen Texte auf Schwäbisch statt auf Italienisch lauthals einbläut, sorgt das natürlich für kalkulierte Heiterkeit im Publikum. Eine deftige Portion echter Situationskomik, die ja in da Pontes Libretto durchaus angelegt ist, hätte dem auf Effekte bedachten und bewusst auf intendierte Wirkung abgezirkelten Humor des Stuttgarter „Don Giovanni“ durchaus gut getan.

Tiefes Leid, hohe Moral und echte Tragik, die nicht zuletzt in Mozarts Musik zu da Pontes „Don Giovanni“ mit anklingen, werden im Stuttgarter „Don Giovanni“ psychologisiert oder gar banalisiert: Die hohe Moral des hehren Paares Don Ottavio und Donna Anna, das bezeichnenderweise im oberen Register der Bühnenbauten seinen angestammten Platz hat, wird zur hohlen Moral; Donna Elviras frisches Leid wird zum alten Lied und sie selbst, anstatt zum Sinnbild verschmähter Liebe, zum geschmähten Störenfried, weil sie Don Giovanni ständig dessen neue Liebeseroberungen vermasselt;  und das tragische Schicksal des Komturs löst eher Heiterkeit als Grauen aus, etwa wenn er sterbend auf seinen Mörder Don Giovanni zurobbt, als gälte es, sich wie ein Verdurstender in der Wüste in die Oase des nie versiegenden Lebens zu retten.
Überhaupt hat die Transzendenz, die ja im Libretto da Pontes mit eschatologischem Schrecken aufwartet, in der Stuttgarter Inszenierung keinen Platz.

Das Standbild des Komturs verschafft sich Respekt nicht durch den Tod, den es verkörpert, sondern durch den Revolver, mit dem es wie ein nervöser Pistolero herumfuchtelt. Der standhafte Don Giovanni, der selbst im Angesicht des Todes nicht bereut und seinem nietzscheanischen Wahlspruch, dass alle Lust Ewigkeit, tiefe, tiefe Ewigkeit will, bis zum Ende treu bleibt, wird in der Stuttgarter Inszenierung sogar noch seines Märtyrerschicksals beraubt: Anstatt der Tugend der constantia gemäß auf der Ewigkeit seines Begehrens zu beharren, richtet er sich, nachdem er vom Komtur zu allem Überfluss vorher noch angeschossen wurde (mit Blutfleck!), schließlich selbst, indem er sich eine Kugel in den Kopf jagt. Aus da Pontes „bestraftem Verführer“ wird in Stuttgart ein verzagter Verführer, der sich im finalen Suizid gleichsam selbst verleugnet.

Musikalisch ist der Stuttgarter „Don Giovanni“, der eigentlich eine Übernahme des Bremer „Don Giovanni“ aus dem Jahre 2010 darstellt, rundum ein Genuss, angefangen von den grandiosen Stimmen des Staatsopernchores, über die bewegenden Klänge des Staatsorchesters bis hin zu den gefeierten Gesangssolisten, unter denen André Morsch als Leporello, Andrew Schroeder als Don Giovanni, Simone Schneider als Donna Anna, Elinor Sohn als Zerlina und insbesondere Rebecca von Lipinski als Donna Elvira hervorragen. Ein insgesamt gelungener Opernabend also, auch wenn sich der inkriminierte Verführer in der Inszenierung von Andrea Moses zum Scharfrichter seiner selbst aufschwingt.