Eine dringend notwendige Bestandsaufnahme

Zu dem Buch „Zerbricht der Westen?“ des deutschen Historikers Heinrich August Winkler

Heinrich August Winkler: „Zerbricht der Westen?“ C. H. Beck, München 2017; 493 S., 24,95 Euro

„Es war (…) kein Zufall, dass die Aufnahme von zwei orthodox geprägten Ländern Südosteuropas, Bulgarien und Rumänien, in die EU 2007 der Gemeinschaft größere Probleme bereitete als die der acht ostmitteleuropäischen Staaten drei Jahre zuvor. … In beiden Ländern war es fehlende Energie im Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität, die bereits 2008 (…) dazu führte, dass die Kommission ihnen Fördermittel in Millionenhöhe strich und sie auf das Betreiben Deutschlands und Frankreichs nicht in die Schengen-Zone aufgenommen wurden“, schreibt der renommierte deutsche Historiker Heinrich August Winkler in seinem Buch „Zerbricht der Westen ?“, das im vergangenen Spätsommer sowie im Herbst von allen großen binnendeutschen Medien mit Interesse wahrgenommen wurde.

Der 1938 in Königsberg geborene Winkler war zuletzt von 1991 bis zu seiner Emeritierung 2007 Professor für Neueste Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Einige seiner Bücher, wie die monumentale, vierbändige „Geschichte des Westens“, fanden ein breites Echo. Der Historiker, der unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz und zuletzt 2016 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, ist darüber hinaus eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die in Interviews und Beiträgen für Publikationen, wie es „Spiegel“ und „Die Zeit“ sind, zu Fragen der Gegenwart Stellung nimmt. Freilich gilt die Aufmerksamkeit des Historikers in seinem neuen Buch nicht vorrangig Südosteuropa, doch Winkler blendet die dortigen Entwicklungen auch nicht aus, im Gegenteil: Die wichtigsten Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und ihre Folgen werden akribisch vermerkt.

Doch zuallererst: Wie wird der Westen in dem Buch definiert, dessen Untertitel „Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika“ lautet? Für den Historiker ist er zunächst jener Teil Europas, der einst sein geistliches Zentrum in Rom hatte, zur Westkirche gehörte und wo sich früh die Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Macht sowie die Ausdifferenzierung von fürstlicher und ständischer Gewalt vollzog. Im Bereich der Ostkirche konnten sich diese Dualismen nicht entwickeln, schreibt Winkler. Die Lehre von der Gewaltenteilung, die der französische Philosoph Montesqieu Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte, das Bekenntnis zu den Menschenrechten in der Unabhängigkeitserklärung der USA und später in Frankreich, die Herrschaft des Rechts, der Volkssouveränität und der Demokratie bilden, so der Historiker, das normative Projekt des Westens. Wobei er hinzufügt, dass es neben dem alten inzwischen auch einen neuen europäischen Westen – der Teil des Kontinents, der nach dem Zweiten Weltkrieg der sowjetischen Sphäre zugeschlagen wurde – sowie einen überseeischen gibt, zu dem er neben den USA und Kanada auch Australien und Neuseeland zählt.

Dieses Projekt ist nach der Auffassung Heinrich August Winklers in Gefahr. Nicht nur das transatlantische Verhältnis sei durch die Unberechenbarkeit des US-Präsidenten Donald Trump belastet, auch die Europäische Union stehe vor so großen Herausforderungen, dass sie daran zerbrechen könnte. „Die EU scheint sich damit abzufinden, dass sie zu einem Verbund liberaler und illiberaler Demokratien, einem Zweckbündnis zur Sicherung des Binnenmarktes, der gemeinsamen Terrorbekämpfung und des Schutzes der Außengrenzen geworden ist“, schreibt er auch in der „Zeit“ Nr. 49 vom 30. November dieses Jahres. „In ihrem derzeitigen Zustand aber ist die EU der 28 (oder nach dem Brexit der 27) nicht mehr, was sie immer zu sein beansprucht hat: eine Wertegemeinschaft.“

Allein dem Brexit, dem britischen Votum für den Austritt aus der EU im Juni 2016, gelten ganze 50 Seiten des Buchs. Winkler weist zu Recht darauf hin, dass der angekündigte Abschied die Trennung von jenem Land sei, das die politische Kultur der EU am meisten prägte. Großbritannien sei das diplomatisch erfahrenste Mitgliedsland und zusammen mit Frankreich eines der beiden militärisch stärksten des Staatenbundes. Das größte EU-Mitglied, Deutschland, werde es ohne die Mitwirkung Londons schwerer haben, seine Positionen angesichts der wirtschaftlich schwächeren europäischen Mittelmeerländer zu verteidigen, denen hohe Staatsschulden zu schaffen machen. Die Verantwortung für den Brexit wird nicht allein dem früheren Premierminister David Cameron zugeschrieben, der mit der Volksbefragung die Europakritiker unter den Konservativen zum Schweigen bringen wollte und sich dabei verkalkulierte. Zu den Ursachen werden auch Brüsseler Entscheidungen gezählt, die demokratisch nur schwach legitimiert waren und nicht zuletzt die deutsche „Willkommenskultur“ für Flüchtlinge und Zuwanderer von 2015. Viele Briten befürchteten, die unkontrollierte Migrationswelle könnte auch das Vereinigte Königreich erfassen.


Was die Flüchtlingspolitik der Berliner Regierung im Spätsommer 2015 anbelangt, äußert der Autor deutliche Worte der Kritik, wie sie in den deutschen Medien in jener Zeit kaum zu finden waren. Während damals linksliberale Intellektuelle von der „moralischen Großmacht“ Deutschland schwärmten, warnt Winkler eindringlich vor Dünkel, neuem Sendungsbewusstsein und Überheblichkeit. Er wirft der Kanzlerin Angela Merkel vor, mit dem missverständlichen Satz, das deutsche Asylrecht kenne keine Obergrenze, falsche Hoffnungen geweckt und die Entscheidung zum Öffnen der Grenzen ohne die Billigung durch das Parlament getroffen zu haben. Mehr noch: Zu den Folgen dieser Politik rechnet er unter anderem das Erstarken der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland, die im vergangenen September in zweistelliger Prozenthöhe in den Bundestag einzog. Auch hält er fest, dass sich die Regierung isolierte, weil sie ihre Politik mit den europäischen Partnern nicht abstimmte. „Wenn die EU an der Asyl- und Flüchtlingsfrage nicht zerbrechen sollte, müsste ihr größtes Mitgliedsland lernen, auf diesem sensiblen Gebiet weder sich selbst noch andere zu überfordern“, schreibt der Historiker.

Zu den Krisen, die nicht nur Winkler sondern auch das Gros der Wirtschaftsexperten für noch nicht überwunden hält, zählt die der Währungsunion. Detailreich schlägt er einen Bogen zurück zu der 1989 gefällten Entscheidung der damaligen Europäischen Gemeinschaft, im darauffolgenden Jahr die erste Stufe der Währungsunion zu verwirklichen. In den Verhandlungen setzte sich Deutschland zwar mit der Forderung nach einer unabhängigen Europäischen Zentralbank durch, stimmte aber wider besseres Wissen einer Währungsunion zu, der die politischen Voraussetzungen fehlten. Vorgesehen war, dass der Euro die Einigung Europas vorantreiben sollte. Es war der Preis, den die damalige Bonner Regierung für die Zustimmung Frankreichs zur deutschen Einheit bezahlte. Eine nächste Etappe bildete bekanntlich der 1992 unterzeichnete Vertrag von Maastricht. Die Folgen des heterogen gebliebenen Wirtschaftsraums sind auch heute, Jahre nach der Krise von 2007/08 zu besichtigen: Zwar haben sich einige der am schlimmsten betroffenen Staaten, darunter Irland, Portugal wieder erholt, doch Athen ist davon immer noch weit entfernt. Italien hat hohe Staatsschulden und marode Banken, Frankreich verstößt seit Jahren gegen die Defizitgrenze und hat sich bis zum Amtsantritt des Präsidenten Emmanuel Macron reformunwillig gezeigt. Die Eurozone ist nach wie vor gespalten zwischen den Ländern im Norden mit einer strengen Haushaltsführung und jenen im Süden, wo der lockere Umgang mit den Staatsfinanzen gepflegt wird.

„Die liberale Demokratie des Westens ist in der Defensive“, stellt der Autor fest. Sie werde nicht nur von außen, von autoritären Regimen wie China in Frage gestellt, sondern auch von innen. Dazu zählt er populistische Parteien, wie es die Front Nationale in Frankreich, die Partei für die Freiheit des Niederländers Geert Wilders oder die italienische Bewegung Cinque Stelle sind. Während diese bei den Wahlen in den entsprechenden Ländern zulegten, von der Macht jedoch ferngehalten werden konnten, regieren in Ungarn und Polen nationalpopulistische Parteien, denen es gegen die innenpolitischen Proteste und unter den Augen der Europäischen Kommission gelungen ist, mit der Kontrolle über die Judikative die Gewaltenteilung einzuschränken. Sie verletzen damit die Grundsätze der rechtsstaatlichen Demokratie und die Grundlagen der EU, zu denen sie sich mit dem Beitritt verpflichtet haben. Winkler moniert, wie auch im Fall Rumäniens, wo die Bukarester Regierung trotz des Widerstands in den großen Städten eine Legalisierung der Korruption durchzusetzen versucht, erneut völlig zu Recht, dass die EU-Kommission als Hüterin der EU-Verträge bisher nicht entschieden genug dazu Stellung genommen habe.

Anders als beispielsweise Politiker wie der Chef der Liberalen im Europaparlament und frühere belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt (er plädiert dafür auch in seinem 2017 erschienenen Buch „Europe’s Last Chance“) oder der Chef der deutschen Sozialdemokraten, Martin Schulz, macht sich Winkler nicht für ein föderatives Europa nach dem Modell der USA stark. Er bezeichnet die Mitgliedsländer der EU als „postklassische Nationalstaaten“ und vertritt den Gedanken, dass eine Europäische Union, die die Nationalstaaten zu überwinden versuche, ihre eigenen Grundlagen zerstören würde. Die Union sei vielmehr dazu da, Aufgaben zu übernehmen, von denen die Nationalstaaten überfordert seien. Winkler unterstreicht, was den Politikern zu entgehen scheint, die die Vereinigten Staaten von Europa fordern: Dass die meisten der Staaten, die nach 2004 EU-Mitglieder wurden, ihre Unabhängigkeit erst mit der Wende 1989 erlangten und nicht gewillt sind, ihre Hoheitsrechte an eine supranationale Einrichtung abzutreten. Auch warnt der Autor vor der Idee eines „Europa der Regionen“, denn diese wäre eine Ermutigung zu Sezessionsbewegungen, wie es die katalanische oder die flämische sind. Er schlägt keine neuen Entwicklungsmodelle für die EU vor, sondern verbindet mit der Regierung des französischen Präsidenten Macron die Hoffnung auf eine engere Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin. Darin sieht er eine Chance, die Währungsunion zu stabilisieren, den Nationalpopulismus zurückzudrängen und den USA unter Trump auf Augenhöhe entgegenzutreten.

Dem Buch wurde unter anderem einschränkend vorgeworfen, es sei zwar gut erzählt, biete jedoch zu wenig Analyse und unterdrücke die Freude an der Spekulation. Winkler erläutere nicht, warum die Erwartungen in die EU gesunken seien oder was dazu geführt habe, dass die Kluft zwischen ihren Bürgern und dem Projekt Europa größer geworden sei. Das Buch beantwortet diese Frage zumindest teilweise, nämlich durch die Beschreibung der Krisen. Was der Autor tatsächlich nicht hervorhebt, ist der Umstand, dass so gut wie keine Regierung der von der Finanzkrise am stärksten betroffenen Staaten die Verantwortung für die Ursachen übernahm, sondern es zur Rechtfertigung vor den eigenen Wählern vorzog, auf das angebliche Spardiktat aus Brüssel hinzuweisen, als dessen Urheber letztendlich immer wieder die Regierung in Berlin zu gelten hatte. Was man aber wirklich vermissen kann, ist, dass Winkler sich zwar wiederholt zu Russland und dessen Politik äußert, aber dem imperialen Gebaren Moskaus, das vor allem die früheren Satellitenstaaten als bedrohlich wahrnehmen, kein gesondertes Kapitel widmet. Auch hieß es, das Buch verzeichne allzu gewissenhaft, ja buchhalterisch jede Bewegung auf der politischen Bühne der vergangenen Jahre bis zum Mai 2017. Man kann darin jedoch auch eine Stärke sehen: Denn nur Politiker oder Journalisten, die im Besonderen damit befasst sind, bedürfen nicht sämtlicher Details. Für die am Stoff interessierten Leser hingegen ist „Zerbricht der Westen?“ eine gründliche Bestandsaufnahme, die schon lange dringend notwendig war.