Der Schweizer Theologe Hans Küng zählt seit Jahrzehnten zur intellektuellen Avantgarde. Sein wirklichkeitsfremdes „Projekt Weltethos“ besitzt nach wie vor Anhänger. Er selbst hat es durch anhaltende Kritik an der katholischen Lehre 1979 sogar zum Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis durch den Vatikan gebracht. Wobei das Etikett des „Kirchenkritikers“ im deutschsprachigen Raum eher verkaufsfördernd wirkt. Innerkatholisch gibt Küng als Papst- und Dogmenkritiker den Antipoden zu seinem Altersgenossen Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI. Ihre Wege trennten sich früh: Küng verabschiedete sich in den populären Mainstream von Relativismus und Religionsvermischung, er wird in den Medien gerne als Kronzeuge für antirömische Attitüden herangezogen; Ratzinger wurde als Glaubenspräfekt und Papst zum Hüter der Glaubenslehre und für seinen Kampf für die christliche Wahrheit regelmäßig angefeindet.
Vor diesem Hintergrund ist es einerseits ein Wagnis, wenn ein nicht-katholischer Theologe sich an eine Forschungsarbeit zu Küngs Theologie der Religionen heranwagt. Andererseits bietet das gerade die Chance einer wissenschaftlichen Untersuchung jenseits innerkatholischer Flügelkämpfe. Der evangelische Kirchenhistoriker, Pfarrer von Petersdorf/Petriş und Dechant von Mühlbach/Sebeş Dr. Wolfgang Wünsch hat sich dieser Herausforderung im Rahmen seiner nunmehr zweiten Doktorarbeit gestellt.
Seine an der Orthodoxen Fakultät der Universität Karlsburg/Alba Iulia eingereichte Studie „Hans Küng in der Theologie der Religionen. Von der offenbarten dogmatischen Wahrheit zum interreligiösen Synkretismus“ stellt eine grandiose wissenschaftliche Leistung dar und bietet eine bis ins Detail grundsolide und überzeugende Entzauberung des populären Schweizer Theologen. Wünsch entlarvt Küng als Synkretisten, der nicht nur mit katholischen Lehren, sondern dem gesamten Lehrgebäude des christlichen Glaubens gebrochen hat, der selektiv bis zur Oberflächlichkeit mit Bibel und eigenen Traditionen umgeht und anderen Religionen mehr Achtung und Verständnis entgegenbringt als seiner eigenen.
Eine zentrale Erkenntnis der gesamten Untersuchung versteckt sich fast schon in Fußnote 1023 der Studie, wenn Wünsch schreibt: „Soweit sich seine (Küngs; J.H.) Kritik auf römisch-katholische Spezialdogmen wie z. B. die ‚Unfehlbarkeit päpstlicher Lehrentscheidungen ex cathedra‘, den Universalprimat des Papstes oder bestimmte, allein dem Katholizismus spezifisch eigene Mariendogmen bezieht, mag man darüber diskutieren, obwohl die kirchenhistorische Arbeitsweise Küngs selbst hier äußerst unbefriedigend ist, doch geht der Tübinger Professor entschieden weiter und stellt faktisch die Lehre der einen, heiligen, apostolischen und katholischen Kirche selbst in Frage.“ (S. 315) Selten wurde freilich bisher mit solcher Gründlichkeit und Deutlichkeit wie von Wolfgang Wünsch nachgewiesen, dass dies tatsächlich so ist.
Wünsch arbeitet auf der Basis eines umfassenden Studiums aller relevanten Werke des Schweizers die Einseitigkeiten der theologischen Kriterien Küngs sowie seiner selbst erhobenen höchst subjektiven methodischen Prämissen – Stichwort „Paradigmentheorie“ – und gleichzeitig auch dessen wissenschaftliche Unzulänglichkeiten klar heraus. Und er scheut sich auch nicht, die Eitelkeit Küngs zu benennen, wenn dieser sich etwa für so wichtig hält, seinem Leben allein schon eine dreibändige mehrtausendseitige Autobiografie zu widmen und die kleinbürgerliche Herkunft Joseph Ratzingers gegenüber seiner eigenen aus dem gehobenen Bildungsbürgertum selbstgefällig abzuwerten.
Die klug und sinnvoll gegliederte Studie von Wolfgang Wünsch setzt mit einem ausführlichen Kapitel über Biografie und theologische Entwicklung von Hans Küng ein (S. 25-117). Anschließend wird die oft maßlos einseitige Sicht Küngs auf sämtliche relevanten Themen der Theologie kritisch dargestellt („Die Auffassung Hans Küngs von Christentum und Kirche“, S. 119-195), bevor das dritte Hauptkapitel „Die Auffassung der Weltreligionen bei Hans Küng“ nachzeichnet (S. 196-305). Der letzte Abschnitt fasst Ergebnisse zusammen und bietet „Konturen einer Antwort“ (S. 307-323).
Schon im Biografie-Kapitel wird deutlich, dass bei Küng „Theologie und Lebensweg in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen und sich wechselseitig auslegen“ (S. 29). Von seiner Schweizer liberalen freiheitlichen Gesinnung beflügelt, nimmt sich Küng von Anfang an das Recht zu „kritischer Katholizität“ und zum grundsätzlichen Widerstand gegen Lehre, Dogmen und Kirchenhierarchie heraus, was zum Bruch mit Rom führt, wie Wünsch im Detail skizziert. Wobei Küng sich als Vorkämpfer gegen einen Typus des „überholten Katholizismus“ versteht, um zu einem „historischen Jesus“ und einer „Christologie von unten“ zu gelangen.
Wünsch weist nach, wie Küng seit Beginn gegen das Selbstverständnis und System seiner Kirche kämpft. Dem Studium folgt 1954 die Priesterweihe. Nach einer glänzenden Doktorarbeit über die Rechtfertigungslehre seines reformierten Landsmannes Karl Barth kommt er zu einem Lehrstuhl an der Universität Tübingen. Schon Küngs Doktorvater Louis Bouyer weist indes auf eine wichtige Schlagseite Küngs hin, wenn er festhält: „Es ist ein konstantes Merkmal seines Denkens, dass in ihm die östliche Orthodoxie vernachlässigt, ja völlig außer Acht gelassen wird“ (zit. S. 85). Diese Ignoranz gegenüber der Orthodoxie ist aber kein Wunder, übernimmt Küng doch in seiner Ablehnung des trinitarischen und des christologischen Dogmas die These der „Hellenisierung des Christentums“ von Adolf von Harnack und kann auch mit opulenten Liturgien, Mönchtum und Ikonen herzlich wenig anfangen, womit er an Grundpfeiler der Orthodoxie rührt.
Von der christlichen Lehre bleibt bei Küng nicht viel übrig. So fordert er, dass die Katholiken auf die Unfehlbarkeit des Papstes, die Evangelischen auf die Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift und die Orthodoxen auf die Unfehlbarkeit der ökumenischen Konzilien verzichten. Sein „Projekt Weltethos“ schließlich ist in der Wertung Wünschs nicht mehr als „ein Diskurs der säkularen Vernunft unter Zuhilfenahme der verschiedenen Religionen“ (S. 109).
Wünsch kritisiert, „dass Küng bei seiner Frage nach einem Kriterium für die Wahrheit des Christentums methodisch die Vorurteile und das Selbstverständnis der anderen Religionen gegenüber dem Christentum zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, ohne beides allerdings angesichts der Wirklichkeit von Christentum und Kirche (…) kritisch und sachgerecht zu überprüfen“ (S. 124 f.). Der Gedanke der christlichen Mission entfällt bei Küng völlig. Die Arbeit des evangelischen Theologen führt den Beweis, wie weit sich Küng von der eigenen Kirche und Theologie verabschiedet hat – was gleichzeitig seine Popularität in heutigen kirchenkritischen Milieus erklärt.
Besonders deutlich wird die Abkehr Küngs von Grundlagen des Christentums in seiner Theologie der Weltreligionen (Judentum, Christentum und Islam, Buddhismus und Hinduismus, Konfuzianismus und Taoismus). Auch hier beschreibt Wünsch in ausführlicher Auseinandersetzung mit Texten des Schweizers schonungslos die Schwächen der Küngschen Positionen bis hin zur Schrägheit seines Schubladendenkens, wenn Küng etwa die Mystik- und Weisheitselemente des christlichen und jüdischen Glaubens völlig ignoriert.
Am Hinduismus gefällt Küng die „erstaunliche(r) Vielfalt von Anschauungen, Formen, Riten (…) ohne allgemein verbindliche Lehre“ (zit. S. 222). Am Buddhismus lobt er Meditation und Schweigen als mystische Stufe, ohne entsprechende traditionsreiche Formen ostkirchlicher Spiritualität zu thematisieren, an den chinesischen Religionen die Ahnenverehrung als Modell gegen die westliche Todesverdrängung, obwohl es solche Formen auch als katholisches und orthodoxes Totengedächtnis (Parastas) gibt. Die Religionsvermischung geht bei Küng schließlich so weit, dass er auch den Islam zum Heilsweg erklärt, den Koran als Gottes Wort sieht und davon ausgeht, dass in der „Hebräischen Bibel“ und im Koran der eine selbe Gott rede.
Die vorliegende Doktorarbeit ist eine beachtliche Leistung des Autors Wolfgang Wünsch, der hier mit seiner Kritik an Hans Küng zweifellos an einem Denkmal rüttelt, dies aber auf Grundlage einer substanziellen Beschäftigung mit dessen Leben, Theologie und Werk. Wünsch führt Küng schonungslos als einen Autor vor, der alle Religionen lobt außer seiner eigenen, deren Bekenntnis er relativiert und deren Traditionen, Lehre und System er ablehnt. Die Heilsgeschichte löst er auf in die Frage nach dem historischen Jesus, das Eruieren eines vagen „Humanum“ als Substrat aller Religionen ersetzt die Frage nach Gott und Wahrheit. Dem Buch ist große Verbreitung zu wünschen.