Kurze Jeanshose, ein schwarz-geblümtes Top, schwarze Mütze, das lange, lockige Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden: Mit feinen Bewegungen malt Daniela Carvalho (33) Blätter an die Wand. Dafür verwendet sie Schwarz- und Grautöne. Die brennende Sonne kann ihr nichts antun, denn Daniela sitzt unter einem Sonnenschirm, der an einer Leiter befestigt ist. Sie braucht die Leiter, denn schließlich ist das Bild, das hier entsteht, einige Meter hoch. Ein Dschungel soll das Ergebnis sein, genau so, wie ihn Daniela von zu Hause kennt. Oder, besser gesagt, wie sie ihn in ihrem Herzen trägt. Die junge Künstlerin Daniela Carvalho kommt aus Peru, lebt in Barcelona und war bis vor kurzem für einige Tage in Temeswar. Nicht etwa, um in der Kulturhauptstadt Europas 2021 Urlaub zu machen, sondern um hier zu arbeiten. Auf dem Gelände der Aquatim-Wasseraufbereitungsanlage in Urseni entstehen den ganzen Sommer über mehrere Kunstwerke. Hier findet bereits zum siebten Mal das Festival für Straßenkunst FISART statt, das Farbe und Leben in graue Altbauten bringen soll.
„Ich male einen Dschungel aus dem Amazonas, da, wo ich meine Wurzeln habe. Es ist eine Komposition mit den Farben, die mir am besten gefallen“, sagt Daniela Carvalho, die bereits zum dritten Mal bei FISART in Temeswar mitmacht. Die junge Frau lebt seit 2008 in Barcelona, wo sie als freiberufliche Illustratorin tätig ist. „Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Streetart-Szene in Rumänien entwickelt. Du kannst inzwischen überall Murals bewundern“, sagt sie. Vor einigen Jahren war Street-art eine große Sache in Barcelona, doch heute sei es verboten, in der Straße zu malen, so Daniela Carvalho. In Rumänien fühlt sich die junge Künstlerin sehr wohl. „Die Leute sind sehr offen und freundlich und bewundern das, was wir machen“, sagt sie. Alle zwei Jahre fliegt Daniela nach Peru, um ihre Familie zu besuchen.
Das Festival für Straßenkunst FISART wird von der Stiftung EnduRoMania und der Kunstfakultät der West-Universität Temeswar mit Unterstützung des Bürgermeisteramts veranstaltet. Partner in dem Projekt ist die Gesellschaft für Siedlungswasserbewirtschaftung Aquatim, die bereits im vergangenen Jahr ein großes Areal zur Verfügung stellte, das von den internationalen Künstlern bemalt wurde. In diesem Jahr entstehen die Murals in dem Stadtteil Ciarda Roşie und zieren die Wassertanks und die Fassaden von Gebäuden, die seit Jahren dem Verfall ausgesetzt waren. Zu Beginn des Streetart-Festivals, das sich über mehrere Monate erstreckt, sind die Künstler Amaia Arazzola, Ekaterina Bunits, Daniela Carvalho, Karina Hossack, Momo (Cristian Blanxer), Lauro Samblas und Txemy (Ignacio Basualto) damit beauftragt, Farbe in die Stadt zu bringen.
„Die diesjährige Auflage bietet eine besondere Location – die uralte Wasserversorgung von Temeswar, die zum Teil noch von Ingenieur Stan Vidrighin entworfen wurde. Die diesjährigen Künstler kommen aus dem Baskenland, aus Barcelona und aus den kanarischen Inseln“, sagt Sergio Morariu, der Initiator von FISART in Temeswar. Sergio Morariu ist von Beruf Wasserbauingenieur und eine bekannte Person im Banat. Er ist der Vater der EnduRoMania-Bewegung, begeisterter Motorradfahrer also, Fotograf und großer Streetart-Liebhaber. In Miami, wo seine Tochter lebt, lernte er die Streetart-Szene besser kennen und lieben. „In Miami findet eine der größten Kunstveranstaltungen der Welt statt – die Kunstmesse ´Art Basel´. Das Viertel Wynwood war bis etwa 2008-2009 sehr heruntergekommen und sehr gefährlich. Dann wurde es von einem Property Developer, Tony Goldmann, der auch SoHo in New York entwickelt hat, aufgekauft. Er brachte Künstler nach Wynwood und ließ dieses Stadtteil wieder aufleben“, sagt Sergio Morariu. In Wynwood befindet sich zurzeit die größte Konzentration an Streetart auf der ganzen Welt. „Es gibt über hundert Kunstgalerien, es gibt jede Menge Restaurants und Hotels und man sieht ganz feine Leute auf der Straße flanieren“, erzählt Sergio Morariu über die Entwicklung des Stadtteils Wynwood.
Neben den Arealen von Aquatim bemalten die Künstler, die Sergio Morariu anlässlich des FISART nach Temeswar einlud, auch die Industriegebäude der Textilfabrik Pasmatex, sie schufen Murals in der Innenstadt und überzeugten auch die Behörden, dass Streeetart Kunst im wahrsten Sinne des Wortes ist. Eins ist dennoch klar: Nicht jeder, der eine Spraydose mit Farbe in die Hand nimmt und etwas an die Wand sprüht, ist auch ein Künstler. Ganz im Gegenteil: Wer nur seinen Namen an die Wand sprüht, der bringt der Streetart-Szene einen schlechten Ruf ein. „Vandalismus ist in Temeswar ein Drama, auch, weil aus meiner Sicht die Lokalverwaltung dieses Problem nicht richtig angeht. Wenn eine Ruine oder ein Haus, das nicht richtig in Stand gebracht ist, bemalt wird, dann finde ich die Proteste der Jugend, die „Putz mich“ oder irgend einen anderen Schwachsinn drauf schreibt, als begründet“, sagt Sergio Morariu. Zu diesem Thema soll bald in Kassel, der Stadt der Documenta, eine Konferenz stattfinden. Im August reisen Sergio Morariu, Corina Nani von der Kunsthochschule Temeswar, die zusammen mit Sergio das FISART organisiert, sowie Liliana Harding von der East London Universität nach Kassel, um über das Thema „Einflüsse von Streetart im Städtebau“ zu diskutieren und zu referieren. Zentrales Thema ist also die Bedeutung der Straßenkunst für die Stadt und für die Gesellschaft.
„Wir sind dabei, das Projekt eines groß angelegten Streetart-Museums zu definieren. Wir haben eine Fahrradpiste entlang der Bega und wir haben hier das Streetart-Festival. Die beiden können miteinander kombiniert werden, damit bis 2021 das längste Streetart-Museum der Welt entsteht“, verrät Sergio Morariu. Entlang der Bega gibt es zahlreiche Orte, die durch Farbe wieder ins Leben gerufen werden könnten. Auch Platz für Installationen und Skulpturen gäbe es entlang der Bega. „Ich stelle mir das so vor: Ich sitze am Schiffsdeck, trinke meinen Whisky oder mein Timi{oreana-Bier und ich bewundere Street-art“, schwärmt Sergio Morariu.
Das Streetart-Festival FISART wird finanziell von der Stadt Temeswar unterstützt. Die Finanzierung ist jedoch recht gering im Vergleich zur Nachhaltigkeit des FISART. „Hier entstehen Arbeiten, die über Jahre hinweg bewundert werden können. Wir bringen jedes Jahr auch einen Katalog heraus“, betont der Veranstalter des Festivals.