„Sie haben dich gestohlen!“ sagt der Vater bitter zu Madina. Dabei ist sie noch nicht mal wirklich angekommen. Und: Wird sie das überhaupt je? Sie weiß, dass sie nie so wie die anderen sein wird, nicht nur wegen ihrer dunkleren Haut. Oder wegen den Kleidern, an denen sie immer heimlich herumzupft, schrecklich peinlich sind ihr die zu großen Jogginghosen, der altmodische Badeanzug oder der verhasste braune Wintermantel, der nach alter Dame riecht, und den sie tragen muss, weil ihr die bunten Kinderanoraks aus der Spendenkiste zu klein waren. Und die Leute denken alle, du hast dir das Zeug ausgesucht...
Manchmal wünscht sich Madina, in diesem Land geboren zu sein. Nichts anderes zu kennen, als die Probleme, die Laura, Markus und Sabine kennen: Welche Haarfarbe und welchen Haarschnitt man tragen soll, wen man zur Party einladen und wie die Geburtstagstorte aussehen soll. Oder, dass sich ihre Familie um etwas so Banales streitet wie um das Essen bei McDonalds, weil es ungesund ist.
Man kann den Krieg auch vergessen, verdrängen, denkt Madina. Aber verrät man dann nicht all die lieben Menschen, die daheim geblieben sind? Oder man kann weiterhin an sie denken und macht sich Sorgen und Schmerz oder Sehnsucht wallen manchmal so plötzlich auf wie eine Wand, die zwischen den beiden Welten emporschießt und einem die Tränen in die Augen treibt. Ist Laura nur ein Ersatz für ihre beste Freundin Mori? Betrügt sie Laura mit Mori - oder Mori mit Laura? Kann man jemanden überhaupt mit einer Toten betrügen? Die Oma schreibt Briefe und tut so, als sei dort alles in Ordnung...
Madina balanciert zwischen zwei Welten: Noch nicht ganz angekommen, noch nicht ganz abgereist. Das neue Hier – das mitgebrachte Hier. Da ist die Schule und die Freizeit danach mit ihrer besten Freundin Laura - Mutter geschieden, offenes Haus, gemeinsame Pizzanachmittage, Badeausflüge, Lachen und – oops, auch solche Dinge wie Nacktbaden im See, was Madina dann doch viel zu peinlich ist, aber am Wasser sitzen und zugucken ist auch schön!
Der Kontrast dazu: ihr „Zuhause“ in der Flüchtlingspension. Ein Zimmer, fünf Leute, fünf Matratzen, mehr hat nicht Platz. Sie selbst, Vater, Mutter, kleiner Bruder, die Tante. Spannungen sind an der Tagesordnung, nächtliche Albträume auch. Ansonsten besteht die Welt der Dortigen aus Ungewissheit, Warten und Stillstand. Essen im Speisesaal zu festen Zeiten - man darf sich nichts mit aufs Zimmer nehmen. Ewig besetzte Duschkabine, es sind ja noch andere Flüchtlinge im Haus. Sie alle sind in der selben Lage, wobei das jahrelange Warten auf zweierlei Art enden kann: Überbordende Freude, weil der Asylbescheid endlich kommt! Oder Polizeibesuch, Verzweiflung, Abführen mit Tränen, Gewalt - und alles war umsonst.
Hinzu kommt die ewig steinerne Miene von Tante Amina, die nächtelang wie ein Geist den Mond anstarrt. Wenn sie nicht gerade spitze Bemerkungen gegen den Vater macht, oder der sie mal wieder anbrüllt. Amina sei liederlich, sagt der Vater. Er sei schuld am Tod ihres Mannes, kontert Amina. Madina ist es leid, sich aus den wenigen Bruchstücken und dem allumfassenden Schweigen ein Bild zu basteln...
Dann der nervige Bruder Rami, der als Siebenjähriger auf die Fünfzehnjährige aufpassen soll und vor Stolz platzt als Zweitmann der Familie. „Scheiße nur, wenn das keiner ernst nimmt“, denkt Madina böse.
Madina darf vieles nicht, was für die anderen Mädchen ganz normal ist: Hosen tragen etwa, oder ihr hüftlanges schwarzes Haar offen lassen, um das sie die Klassenkameradinnen glühend beneiden, nicht aber um ihren altmodischen Zopf. Oder erst nach sieben Uhr abends nach Hause kommen, auch nicht zu Lauras Geburtstagsparty, die erst um acht beginnt. Feiern unter Papas wachsamen Augen, da hätte er nichts dagegen, früher haben sie auch Feste gefeiert in ihrem riesigen Garten. Aber nachts ohne Aufsicht wegbleiben - undenkbar! Früher haben wir wirklich gefährliche Dinge überlebt, begehrt Madina auf, so ein Fest ist nicht gefährlich! Was sie dann aber nicht sagt: Sex haben, das kann man hier mitten am Tag, sogar in der Schule. Einmal hat sie versehentlich das unterdrückte Stöhnen aus der Toilette gehört.
Madina hat die Sprache gut gelernt und kann frechen Mitschülern sogar Widerworte geben. Vieles versteht sie trotzdem nicht. Etwa, dass Lauras Mutter kurz vor deren fünfzehnten Geburtstag sagte, jetzt beginne eine ganz tolle Zeit! Laura hat an diesem Tag silberne Stöckelschuhe und die enge teure Jeans bekommen, die sie sich so sehr gewünscht hat. Nur den Riss unter dem Hintern, den sie mit so viel Mühe in ihre alte Jeans hineingeschnitten hat, den hat ihre Mutter dann doch zugenäht. Die Knie darf ihre Tochter zeigen – aber den Mitschülern „mit dem Arsch ins Gesicht fahren“, das sei dann doch zu viel.
Manchmal erinnert sich Madina. An die Bomben - und wie auf einmal das Haus der Nachbarn weg war, Steinstaub in der Luft. Nächtelang konnte sie nicht schlafen. Ob man die toten Nachbarn mit dem Staub einatmen kann? Ob sie jetzt in ihrem Körper wohnten? Sie seien jetzt ihre Schutzengel, bot Oma als Erklärung an, denn was anderes hätten sie ja wohl nicht mehr zu tun. Schutzengel? - Der mürrische Nachbar und die verhuschte, ängstliche Frau? Madina kann sich das nicht vorstellen. Da hält ihr die Oma ihr schönstes Seidentuch unter die Nase und meint energisch: Na gut, dann schnäuz die jetzt raus!
Madina sieht für sich eine Zukunft in der neuen Welt. Auch wenn der ersehnte Brief noch immer nicht gekommen ist. Die Behörden arbeiten langsam. Immer wieder die gleichen Fragen. Die Wartenden treten auf der Stelle. Kein Bescheid – keine Arbeit, keine Wohnung. Stillstand. Abhängigkeit und Warten. Nur die Kinder wachsen mit der Schule in das neue Umfeld hinein. Den Eltern, anfangs erleichtert und begeistert, geht das plötzlich zu schnell. „Werden wir jetzt auf einmal traditionell?“, begehrt Madina gegen den geliebten Vater auf. „Wer keine Vergangenheit hat, weiß nicht, wer er ist“, rechtfertig dieser seinen verzweifelten Anker. Was soll denn aus ihr werden, wenn sie doch zurück müssen und seine Tochter ist dann „so eine“ geworden... Wer wird sie dann noch heiraten wollen? Heiraten. Madina zuckt zusammen bei dem Wort.
Sie haben dich gestohlen, sagt der Vater bitter. Geh doch zurück, schreit Madina wütend und die Tante orakelt: Sei vorsichtig mit solchen Wünschen. Und auf einmal holt sie der schreckliche Krieg doch noch ein und der Vater muss eine schwere Entscheidung treffen. Madina aber weiß: Sie wird um ihr neues Leben kämpfen!
Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.