Heimatland?

Elina Penner: Nachtbeeren, Aufbau Verlag, Berlin 2022, 248 S., 22 Euro, ISBN 978-3-351-03936-3

Die 1987 in der Sowjetunion geborene, heute in Minden lebende Autorin Elina Penner geht in ihrem Debütroman ihrer russlanddeutschen Herkunft nach.

„Bestimmt hat man sie schon oft gesehen, ohne zu wissen, was sie sind, denn erkennen kann man nicht, was man nicht kennt. Vielleicht wollen sie auch gar nicht erkannt, lieber in Ruhe gelassen werden. Sie sind da. Sie sind nicht kaputt zu kriegen, und sie kommen immer wieder. / Sie heißen Nachtbeeren.“ Und haben noch viele andere Namen. Aufgezählt werden diese im Prolog von Elina Penners Debütroman. Was jedoch zählt, ist nicht, dass es diese unprätentiöse Pflanze gibt, die selbst in Betonwüsten überlebt, sondern dass die aus Russland stammenden Mennoniten sie essen, obwohl sie nicht ganz ungefährlich sein soll. Nachtbeeren braucht man für „Plautz“ oder „Wreneces“ – „plautdietsche Wareniki“.
Der verspielt kulinarische Auftakt des Romans täuscht – es erwartet uns keine Leichtigkeit des Seins, empfohlen von Genießer für Genießer. Eine Familiengeschichte wird präsentiert, die eher schwer verdaulich ist. 

Es geht um eine kinderreiche Familie, „plautdietsche Menschen“, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ihre Chance nutzen und in ihr „Heimatland“, nach Deutschland, ausreisen. Und mit der Heimat ist das so eine Sache: Die „Kartoffeln“ (die in der Bundesrepublik geborenen Deutschen) stellen den Russlanddeutschen absurde Fragen – beispielsweise, ob sie ihr „Heimatland“ vermissen, worauf „unsere Leute, also ohnse“ eine klare Antwort haben – „wir sind in unserem Heimatland, wir haben unser Heimatland vermisst, also haben wir das Exil verlassen, um in die Heimat zurückzukehren“. Das ist doch glasklar, oder?

Schnörkellos erzählt die Ich-Erzählerin Nelli, eine junge russlanddeutsche Mutter, die Geschichte ihrer Familie – bis zu den Urgroßeltern, bis zu „Öle Opa“, den man in eine Uniform steckte und der aus dem Krieg nicht zurückkehrte, und zu „Öle Öma“, die 1941 in die „Trudarmee“, in ein sowjetisches Arbeitslager für Angehörige der deutschen Minderheit, kam. Nelli muss ihre Ausbildung zur Metzgerin abbrechen, da sie unverhofft schwanger wird. Ihr Sohn Jakob ergänzt als Ich-Erzähler den Bericht seiner Mutter und konfrontiert den Leser mit einer makabren Tatsache: Er findet seinen Vater, Kornelius, ebenfalls russlanddeutscher Abstammung, an einem Ort, wo eine Metzgerin meist nur Fleisch zum Zubereiten von Speisen aufbewahrt. Der Junge wendet sich in seiner Verzweiflung an seinen Onkel Eugen, den jüngsten von den vier Brüdern Nellis, der einen weiteren Ich-Erzähler abgibt. Er stellt die zentrale Frage: „Können wir nicht einmal, einfach so, eine Generation lang, irgendwo leben, völlig ereignisbefreit, ohne die Kinder für ihr Leben zu traumatisieren?“ Doch leider spürt selbst Jakob: „Der Dreck wird immer da sein, egal, wo wir sind.“ Das kann auch „Dietschlohnd“ nicht ändern – zu Recht stellt sich Nelli die entscheidende Frage: „Wie viele von uns verzweifeln an unserem deutschen Heimatland?“ Doch seit ihre seelische Stütze, ihre „Öma“, gestorben ist, findet Nelli kaum Antworten auf ihre existenziellen Probleme. Eine Familiengeschichte, die es in sich hat!