Das Wetter hatte schließlich doch Erbarmen mit den zahlreichen Fans der Open-air-Vorstellungen und -Konzerte. Nachdem es in der ersten Woche des Internationalen Theaterfestivals in Hermannstadt/Sibiu – es begann bekanntlich am 25. Mai – in Strömen geschüttet hatte und kalt gewesen war, sicherten Sonnenschein und Wärme an den letzten Festivaltagen endlich die erwartete Atmosphäre. Bevor es Sonntag kurz vor Mitternacht mit dem üblichen Feuerwerk endete, erfreuten sich mehrere Tausend Zuschauer am Großen Ring/Piaţa Mare des Konzertes von Smiley und seiner Band.
Danach wandelten die Akrobaten der Straßentheatertruppe Close-Act Theatre aus den Niederlanden auf Stelzen, als Fische und andere Wasserwesen verkleidet, singend zwischen den Zuschauern herum, als ob es des Wassers an den vergangenen Tagen nicht genug gewesen wäre. Diese „Wasserwelt“ erwies sich eindeutig als überbevölkert, denn die riesigen Gestelle, an deren oberen Ende die Schauspieler hingen, schnitten sich unsanft durch die Zuschauermenge. Wer nicht rechtzeitig der schnell anrückenden Maschine weichen konnte, wurde von deren Schieber skrupellos aus einem Wasserschlauch begossen. Wahres Vergnügen stellte dieses Schauspiel nur für die Besitzer der zahlreichen Fenster am Rande des Großen Rings dar. Tags zuvor hatten die niederländischen Akrobaten ebenda eine „Invasion“ veranstaltet.
Einen Vorteil hatte das miese Wetter aber doch: Alle Indoor-Vorstellungen waren ausverkauft und die Säle überbelegt. Wie zum Beispiel der 700 Personen fassende Saal im Gewerkschaftskulturhaus bei der Vorstellung der Vertigo Dance Company aus Israel am Samstagabend. Ertanzt wurde in eindrucksvoller Choreografie der „Moment Null“. Jene, die auch der Vorstellung dieses hervorragenden Ensembles mit eigener Tanzschule in Jerusalem am Vorabend beigewohnt haben, fanden „Mana“ schlichtweg schöner. Die Tanztruppe ist keine Unbekannte des Festivals mehr und die Mär von ihrem Können hat sich herumgesprochen.
Erstmals gab es heuer beim Festival einen Schwerpunkt Polen. Zu den besten von insgesamt sehr guten sieben Angeboten gehörte die großartige Aufführung der „Brüder Karamasow“ nach Fjodor Dostojewski am Samstagabend, geboten von den Schauspielern des „Teatr Provisorium“ aus Ljublin. Die gut zweieinhalb Stunden dauernde Vorstellung war für viele Zuschauer eine doppelte Herausforderung und man hätte am liebsten zwei Paar Augen gehabt, um gleichzeitig das Geschehen auf der Bühne und die Übersetzung des polnisch Gesprochenen verfolgen zu können.
In seiner Inszenierung destillierte Regisseur Janusz Oprynski den Hauptstrang der Handlung heraus, befreite ihn von allem Nebensächlichen und konzentrierte sich auf die Gestalten der drei Brüder und deren komplizierte Beziehung zum Vater. Die Übersetzung der gewaltigen und überwältigenden Dialoge und Monologe hatte eigens für das Stück einer der besten Kenner der „russischen Seele“ in Polen, Cezary Wodzinski, vorgenommen. Sein Werk über Dostojewski diente dem Spielleiter neben dem eigentlichen Werk als eine zweite Inspirationsquelle.
Die begrenzte Welt der Karamasow wird durch eine bewegliche Scheibe dargestellt, auf der sich alle Räume der Vorstellung befinden. Die beteiligten Schauspieler sind ständig zu sehen. Sie leben ihr „Leben“ unauffällig im Hintergrund weiter, während im vorderen Bühnenteil über Gott und die Welt diskutiert, die Verführungsversuche unternommen oder das Mordkomplott geschmiedet wird. Die drei ungleichen Brüder verkörpern junge Schauspieler: Mariusz Pogonowski ist Soldat Dimitri, der älteste Sohn, Lukasz Lewandowski spielt den atheistischen Intellektuellen Ivan und Marek Zeranski den schüchternen und gottesfürchtigen Novizen Aljoscha. Trotz der beträchtlichen Dauer der Vorstellung entwickelt sich das Geschehen rasant.
Der Vatermord, die Verurteilung Dimitris und Ivans Abrutschen in den Wahn beenden die Vorstellung. Ivans unbeantworteter Aufschrei: „Warum muss alles so absurd sein?“ geleitet die Zuschauer zurück in den Alltag.
Mehr oder weniger absurd, dafür aber ideenreich, lustig, unterhaltsam und immer wieder überraschend waren die Straßentheatertruppen, die an den letzten Festivaltagen in der Heltauergasse/Str. Bălcescu und am Kleinen Ring/Piaţa Mică endlich voll zum Zuge kamen. Mit einem Zirkus auf Stelzen warteten am Samstagnachmittag die zwei Schauspieler des italienischen Circo Improvviso auf ihr überwiegend junges Publikum.
Begeistert klatschten die Kinder nicht nur der gelenkigen Giraffe, sondern auch der übergroßen Fliege und dem schüchternen Pterodaktylus zu. Den eindeutigen Höhepunkt der Vorstellung stellte die Verwandlung einer Raupe in einen wunderschönen Schmetterling dar. Besten Jazz spielten drei spanische Musiker in einem Riesenrad, das von zwei weiteren Mitgliedern der Truppe Factoria Circular durch die Fußgängerzone gefahren wurde.
Köstlich und virtuos erwiesen sich die Aristokraten aus Berlin mit ihrer Darbietung, die als „Barock-Parade“ angesagt war. In blütenweißer barocker Kleidung zeigten sie Tänze aus der Zeit des Barock, aber auch eine Reihe Zirkuskunststücke: Eines der Truppenmitglieder wurde vom Kollegen durch die Luft gewirbelt, eine der Aristokratendamen bot an einer Stoffbahn an einem Baum im Astra-Park eine atemberaubende Seilakrobatie. Schade nur, dass zu wenige der Zuschauer die Kommentare der Akteure verstanden, aus denen hervorging, dass es sich um eine Persiflage der barocken Zeit handelt.
Trotz des anfänglichen Debakels wegen Finanzierungsschwierigkeiten waren die Veranstalter am Schluss zufrieden. Am Freitag demonstrierte der amtierende Kulturminister Mircea Diaconu Solidarität und versprach, die fehlenden Mittel zu finden, ebenso der vorherige Premier Mihai Răzvan Ungureanu. Im kommenden Jahr werde es eine andere Finanzierungsformel geben, war jedoch das Fazit von Festivaldirektor Constantin Chiriac. Der katalogisierte die eben beendete Ausgabe selbstverständlich als die bisher bedeutendste. Es wird ihr eine ebenso bedeutende 20. Jubiläumsausgabe im nächsten Jahr folgen.