In den beiden Kretzulescu-Sälen des Nationalen Kunstmuseums sind seit Ende September dieses Jahres Werke des belgischen Malers und Grafikers Pierre Alechinsky zu sehen. Die Bukarester Ausstellung wurde vom Nationalen Kunstmuseum in Zusammenarbeit mit dem „Centre de la Gravure et de’l Image Imprimée“ im belgischen La Louvičre sowie mit der Vertretung der Föderation Wallonie-Brüssel in Bukarest organisiert und gibt mit der Präsentation von über sechzig druckgrafischen Werken einen umfassenden Überblick über vierzig Schaffensjahre (1967 bis 2007) des heute noch lebenden belgischen Künstlers.
Pierre Alechinsky wurde 1927 als Sohn einer wallonischen Mutter und eines russisch-jüdischen Vaters in Brüssel geboren, wo er an der dortigen Hochschule für Architektur und Angewandte Künste Druck, Buchillustration, Fotografie und auf Anregung des belgischen Malers Serge Creuz auch Malerei studierte. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre wurde er Mitglied der Künstlergruppen „Jeune Peinture Belge“, „Les Ateliers du Marais“ und „CoBrA“ (Akronym für Kopenhagen, Brüssel und Amsterdam). Er nahm an Gruppenausstellungen der Galerie Maeght „Les mains éblouies“ in Paris teil, wo er sich 1951 niederließ, sich bei Stanley William Hayter in der Radiertechnik vervollkommnete und außerdem mit einer Vielzahl moderner Künstler in Kontakt kam, allen voran mit Jean Dubuffet, von dem Alechinsky malerisch wohl am stärksten geprägt wurde, mit Alberto Giacometti und Victor Brauner, mit Hans Bellmer und Henri Michaux, die beide auch Schriftsteller waren, sowie mit Dichtern und Philosophen wie Yves Bonnefoy und Gaston Bachelard.
Seine erste Einzelausstellung wird 1954 in der Galerie Nina Dausset in Paris der Öffentlichkeit präsentiert. Im Jahr darauf reist Alechinsky in den Fernen Osten, wo er einen Film über japanische Kalligrafie dreht. Der Einfluss japanischer und chinesischer Tuschemalerei auf Alechinskys Oeuvre ist bedeutend und kann auch in der Bukarester Ausstellung eingehend studiert werden. Weitere Reisen führen ihn in den sechziger Jahren nach New York, wo er sich von dem chinesischstämmigen Künstler Walasse Ting in die Acrylmalerei einführen lässt. Sein erstes Acrylgemälde stammt aus dem Jahre 1965 und trägt den Titel „Central Park“. Seit Mitte der sechziger Jahre lebt und schafft Alechinsky in Arles und Paris, wo ihn, nicht zuletzt im Hinblick auf das von ihm bevorzugte Genre der Buchillustration, besonders der Kontakt zu Dichtern und Schriftstellern, darunter Michel Butor, Marcel Moreau, Roland Topor, vor allem aber E. M. Cioran und Eugčne Ionesco, zu neuen Werken inspirierte.
Die frühesten der in der Bukarester Ausstellung gezeigten Werke Pierre Alechinskys stammen aus dem Jahre 1967. Zu einem Text von François Nourissier sind hier unter dem Titel „Vom Tod“ eine Lithografie und vier Ätzradierungen ausgestellt, die, wie in den mittelalterlichen Totentänzen, das Narrenmotiv in den Vordergrund rücken. Aus demselben Jahr sind unter dem Titel „Neun Rechtecke“ Lithografien zu Aphorismen von Achille Chavée zu bewundern, etwa „La terre est neutre“ (Die Erde ist neutral) oder „Cultiver un lotus sur le parvis de la conscience“ (Einen Lotus züchten auf dem Vorplatz des Bewusstseins). Die unter dem Titel „Oniroduc“ ausgestellten Zeichnungen aus dem Jahre 1970 zu einem Roman von Roland Topor zitieren das Genre des Comicstrip, werfen zugleich aber auch ein Licht voraus auf die in mehrere - meist vier oder neun - Rechtecke untergliederten Bildtafeln der späteren Schaffensphasen Alechinskys.
Aus den siebziger Jahren finden sich in der Bukarester Ausstellung weitere Illustrationen, und zwar zu einem Roman, zu Gedichten sowie zu Aphorismen. Fünf Radierungen beziehen sich auf einzelne Kapitel des Romans „Le Ręve de l’ammonite“ (Der Traum des Ammoniten) von Michel Butor, wobei zusätzlich ein Buchankündigungsplakat und das illustrierte Buch selbst in der Ausstellung zu sehen sind. Gedichte der belgischen Surrealisten Marcel und Gabriel Piqueray sind in Alechinskys „Monument Tobacco. Abécédaire“ betitelten Werken illustriert: fünf Radierungen sowie ein Abecedarium in Buchform, das bei den Buchstaben B und C aufgeschlagen ist. Und unter dem Titel „Schismes“ finden sich in der Bukarester Ausstellung vier Lithografien Alechinskys zu Aphorismen E. M. Ciorans, denen außerdem ein Titelblatt beigegeben ist sowie eine Bildtafel, die eine Art Legende zu den vier Lithografien darstellt, denn auf dieser finden sich jene, jeweils mit einem Cioran-Zitat versehen, in Schwarzweiß verkleinert wiedergegeben.
Aus den achtziger Jahren verdienen folgende Werke Alechinskys, die in der Bukarester Ausstellung gezeigt werden, besondere Erwähnung: die Illustration eines erst 1989 veröffentlichten Essays „Traité des excitants modernes“ von Honoré de Balzac mit Linolschnitten (zwei davon, die an fernöstliche Tuschemalereien gemahnen, sind auf zwei aufgeschlagenen Seiten des großformatigen Buches zu bewundern) sowie sieben Radierungen; ferner die Illustration eines Textes von Eugčne Ionesco „Chaque matin“ mit insgesamt zehn Radierungen, in die ihrerseits Textfragmente integriert sind; und nicht zuletzt die Ende der achtziger Jahre entstandenen Illustrationen zu Blaise Cendrars’ Gedicht „Le Volturno“ (1912), die nicht nur das lithografierte Titelblatt, eine Bildtafel mit dem Poem und drei Originallithografien, sondern auch sieben Bildtafeln mit Reproduktionen aller 63 Originalzeichnungen im Kleinformat umfassen.
Aus den neunziger Jahren sind schließlich Illustrationen zu Aphorismen von Salah Stétié (fünf Radierungen und zwei Lithografien) zu bewundern. Zwei Kostproben: „Un livre est une erreur du vide“ (Ein Buch ist ein Irrtum der Leere); „Je pense donc je fuis“ (Ich denke, also fliehe ich). Und aus dem vergangenen Jahrzehnt stammt ein Diptychon mit 2x4 Lithografien zu Marcel Moreaus Buch „Insolations de nuit“, in deren einzelne Bildkompositionen ihrerseits wieder Texte integriert sind. Die sehenswerte Bukarester Ausstellung, die Werke eines Künstlers zeigt, der dem Expressionismus, dem Surrealismus wie auch der Art brut nahe steht und der sich mit seiner ganzen Kunst der modernen Literatur zuwendet, ist noch bis zum 31. Januar 2017 in den beiden Kretzulescu-Sälen des Nationalen Kunstmuseums Bukarest zu bewundern.