Von dem auch als Politiker bekannten rumänischen Schriftsteller armenischer Nationalität Varujan Vosganian erschien im Jahre 2009 der über ein halbes Tausend Seiten umfassende Roman „Cartea şoaptelor“ (Buch des Flüsterns), der noch im selben Jahr mit Preisen geradezu überhäuft wurde. Der Ion Creangă-Preis der Rumänischen Akademie wurde ihm zuerkannt, literarische Zeitschriften wie „România literară“, „Convorbiri literare“ oder „Observatorul cultural“ zeichneten das Prosawerk aus, es folgten die literarischen Trophäen „Mihail Sebastian“ und „Tristan Tzara“.
Ein Jahr nach der zweiten Auflage 2012 im Bukarester Polirom Verlag ist nun Varujan Vosganians „Buch des Flüsterns“ auch auf Deutsch erschienen, in flüssiger Übersetzung von Ernest Wichner und als schöne Hardcover-Ausgabe im Wiener Paul Zsolnay Verlag, gefördert vom europäischen literarischen Netzwerk Traduki.
Ein Familienfoto ziert den Schutzumschlag der deutschen Ausgabe des Romans und macht dadurch sogleich deutlich, dass es sich bei Vosganians Buch um einen autobiografischen Roman, einen Familienroman mit persönlichen Erinnerungen handelt. Und in der Tat wird man bereits auf den ersten Seiten ins Focşani der Jugendjahre des Autors entführt: Man riecht mit ihm den Duft der Teigblätter, den die Großeltern bei der Zubereitung von Baklava verwenden, man blickt mit ihm durch die fein geschnittene Scheibe rötlichen Fleisches, durch die man den Mond schimmern sehen muss, damit der Windgeschmack in die Speise eindringt, man nimmt mit dem kleinen Varujan den Geruch des Leders alter Bücher wahr, man atmet die Süße von Früchten, das Aroma orientalischer Spezereien, den wunderbaren Duft frisch gerösteten Kaffees.
Schnell wird aber zugleich deutlich, dass es sich beim „Buch des Flüsterns“ außerdem um eine Volkssaga, um Geschichten aus der Geschichte des armenischen Volkes handelt, die auch tragische Momente und neuralgische Punkte wie Verfolgung, Deportation und Genozid nicht aussparen. Als deutscher Leser denkt man an Franz Werfels 1933 erschienenes Armenierepos „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, und in der Tat wird des heroischen Widerstands der Armenier 1915 auf dem Moseberg im Süden der Türkei unweit der Grenze zu Syrien auch in Vosganians Roman gedacht (vgl. z. B. S. 23, 136).
Nicht historische Chronologie, sondern narrative Simultaneität ist das Erzählprinzip von Varujan Vosganians „Buch des Flüsterns“. Das Foc{ani des Jahres 1965, in dem der siebenjährige Varujan in einem vergilbten Geschichtsheft seines Großvaters Garabet blättert, vermischt sich mit Gegenden des Osmanischen Reiches, mit Ortschaften der Provinz Trapezunt des Jahres 1895, wo die ersten Massaker an den Armeniern stattfanden, wie auch mit den Dörfern der Provinz Adana, in der der Genozid an den armenischen Bewohnern 1909 erstmals systematisch betrieben und 1915 durch Deportationen fortgesetzt wurde.
Aber auch der armenische Widerstand in Gestalt des armenischen Freiheitskämpfers Armen Garo ist simultan im „Buch des Flüsterns“ präsent, ebenso wie das Rumänien der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der Zeit der Ceauşescu-Herrschaft und der postkommunistischen Gegenwart: „Und wir sind im November 2005, da sich die Zeitläufte anscheinend verändert haben, allein deshalb, weil sich der Druck, verfolgt zu werden und im Flüsterton sprechen zu müssen, umgewandelt hat in das bedrückende Gefühl, frei zu sein und nicht zu wissen, was man sagen soll, vor allem deshalb, weil man nicht wusste, was man zuerst aussprechen sollte.“ (S. 249)
Breiten Raum nehmen in Vosganians Roman auch die Schilderungen des Armenierschicksals während der Zeit des Stalinismus ein. Die sowjetischen Bemühungen um die Repatriierung der in Rumänien ansässig gewordenen Armenier in die Armenische Sowjetrepublik kommen im „Buch des Flüsterns“ ebenso zur Sprache wie die Deportation der dorthin Repatriierten weiter nach Sibirien und ihre geheimen Botschaften an die in Rumänien zurückgebliebenen, mit dem Gedanken der Emigration spielenden Volksgenossen: „Geht unbedingt demnächst mal bei Herrn Bleibwodubistian vorbei und grüßt ihn schön von uns.“ (S.145)
Neben der Familiengeschichte Vosganians, in der nicht etwa Varujan oder dessen Eltern, sondern die beiden Großväter Setrak Melichian und insbesondere Garabet Vosganian die Hauptrollen spielen – weibliche Familienmitglieder scheinen in dieser patriarchalisch gezeichneten Gesellschaft nur von marginaler Bedeutung zu sein –, entfaltet sich im „Buch des Flüsterns“ ein polyphones Erzählgeschehen, das eine Unzahl von narrativen Einzelsträngen zu einem in allen Farben schillernden Erzählteppich verknüpft. Immer wieder neue Namen und Schicksale, historische wie fiktionale, tauchen auf und ziehen sich durch das bewegte Romangeschehen: Onkelchen Simon, Ar{ag Sâvagian, Onik Tokatlian, General Dro, Harutiun Khântirian, Misak Torlakian, Armen Garo, Hartin Fringhian, Yusuf alias Sahag Şeitanian, der Deutsche Konsul in Aleppo Walter Rößler, Micael Noradunghian, Eşek (d.h. der Esel) Simon und viele andere Gestalten bevölkern das beredte „Buch des Flüsterns“. Die einzige weibliche Protagonistin, die dem Leser in nennenswerter Erinnerung bleibt, ist das Mädchen Virginica, das aber nur im elften der zwölf Romankapitel als Geliebte eines Soldaten aus Nachitschewan eine gewisse Rolle spielt.
Vosganian stellt sein „Buch des Flüsterns“ in eine ehrwürdige literarische Tradition, als deren Ahnherrn er den armenischen Mönch und Mystiker Gregor von Narek benennt. Dessen vor über tausend Jahren geschriebenes „Buch der Klagen“, ein Gebetbuch, wird als Buch des Weinens zum „Linderungsmittel gegen die Zeitläufte“ (S. 216), zum Buch des Trostes und der Heilung: „Dass jenes ‚Buch der Klagen’ hieß, während dieses ‚Buch des Flüsterns’ heißt, besagt nicht, dass der Weg vom Weinen zum Flüstern heilsam gewesen wäre. Es besagt nur, dass die Menschen jener Zeit die Freiheit zu weinen noch nicht verloren hatten und Gott im von Gregor von Narek dem Herrn dargebrachten Lobpreis noch vorhanden war. Von jenem Weinen bis zu dem Flüstern hier wird nicht ein Leid durch ein anderes ersetzt, sondern allein zwischen dem Weinen und dem unterdrückten Weinen unterschieden.“ (S. 216)
Wenn Misak Torlakian am Ufer des Schwarzen Meeres seinen Tränen schließlich freien Lauf lässt, verschafft er dem kaum hörbaren Flüstern, wenngleich im Schluchzen, Stimme und ungehemmtes Tönen: „Er kniete nieder und weinte lange und gehörig, ein gesprochenes Weinen, wie das Weinen derer, die in die Todeskreise von Deir-ez-Zor hinabstiegen, wie das Weinen meiner Großeltern, ein Weinen, das ihn nicht befreite, sondern in sich selbst versammelte.“ (S. 420) In diesem Sinne versammelt auch das „Buch des Flüsterns“ geschichtliches Leid und Leiden an der Gegenwart im kathartischen Modus romanhafter Erinnerung, die nun nicht mehr zu flüstern gezwungen ist.
Varujan Vosganian: „Buch des Flüsterns“. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner, Wien 2013, 509 S., ISBN: 978-3-552-05646-6