Krieg verkehrt die Sprache. Und im Krieg in Europa schimmert immer auch deutsche Geschichte hindurch.
Putin sprach auf dem Sankt Petersburger (!) Wirtschaftsgipfel vom „Blitzkrieg“, nicht von seinem, sondern vom sog. Sanktionen-Krieg des Westens gegen ihn. „Nazis“, also „Nationalsozialisten“ machte er in Kiew und besonders im Donbass aus. Die Medien in EU und USA erkennen jedoch in Putin einen Nazi, der „Lebensraum“ den Russen in den Grenzen des alten Zarenreichs wiederherstellen wolle. Der Stellungskrieg in der Ostukraine erinnert uns Deutsche an den ersten Weltkrieg, an Verdun, an die Schlachten an der Marne und in Flandern.
1914-18 ging es ideologisch um Überlegenheitsstrategien: deutsche Kultur gegen französische Zivilisation. Die besten Geister beiderseits des Rheins brachten sie in Stellung, so z. B. Debussy und Thomas Mann. Wie fatal! Gedichte und Musik als Waffe.
Weit entfernt? Leider nicht. Wer russische Musik spielt, wer die Oper „Boris Godunow“ aufführen, wer dirigieren und singen will, muss sich zuvor als Putin-Verurteiler deklarieren. Anna Netrebko steht für viele. Und in Polen, dem Frontstaat, ist es noch radikaler. In einigen EU-Staaten haben Tschaikowskis Ballett „Schwanensee“, Musskorgskis Suite „Bilder einer Ausstellung“ oder die Schmerzensmusik von Schostakowitsch keine Chance. Russisch gleich Krieg?
Aber: messen Kunstwerke nicht Territorien aus, die nur auf der Landkarte des universellen Geistes zu finden sind? Paul Celan hielt am „schmerzlichen deutschen Vers“ fest und adelte ihn durch seine Dichtung.
Deutschland konnte nach 1945 zurückkehren in die Gemeinschaft zivilisierter Staaten – wegen seiner Kultur in allen Facetten. Russland ermordet und vernichtet heute durch seine Armee. Aber: das Russische kann auch retten.
Karl Dedecius, der große Übersetzer aus dem Polnischen, erhielt sich durch das Russische in Gedichten, die der romantische Dichter Lermontow schrieb. Er wurde gerettet durch Liebesgedichte, durch die er das Russische lernte, dem Polnischen verwandt.
Und das nicht irgendwo an sanften Flüssen oder in hellen Räumen, sondern im sibirischen GULAG. In den eisigen Sterbe-Jahren nach dem 2. Februar 1943, wo er als Stalingrad-Kämpfer bis 1950 Zwangsarbeit leistete und von einer russischen Ärztin angesprochen wurde. Sie gab war ihm im Todes-Lager ein Lermontow-Heftchen, zerschlissen schon und weiterhin innige Kunst, die auch im Russischen wohnt in der weißen Sonne hinter dem Ural, hinter dem Fliehen und Flehen.
Nein, wir sollten nicht die Sprache der Russen verurteilen. Sie lebt weiter in Gedichten und sie umspannt wie Musik und Kunst Territorien, die weiter sind als alle Kriege.
Sie sind uneinnehmbar und tägliches Brot. Das Geliebten-Russisch hält die Welten zusammen. Gedichte sind stärker als Putin. Karl Dedecius wurde von einer Russin gerettet, mit Gedichten. So überlebte er die sieben Jahre in Gefangenschaft.
Setzen wir auf die Internationalität der Dichtung und Musik. Sie verkehrt nicht die Begriffe. Und wir wissen: die zärtliche Wort-Welt gehört allen.