Emil Nolde ist der Maler des Nordens. Aufgewachsen in der norddeutschen Küstenlandschaft zwischen Nord- und Ostsee, ist er zwar oft genug aufgebrochen in ferne Gegenden, aber immer zog es ihn zurück in seine heimatliche Landschaft, in der er zu seinem unverwechselbaren Stil finden sollte. Das weite, flache, einsame Land zwischen den Meeren, der hohe Himmel und die ewig bewegte See, Symbol unbezähmbarer Naturgewalt, die zyklischen Rhythmen der Natur, Gezeiten und Jahreszeiten, das Hintergründige und das Legendäre dieser nordischen Schicksalswelt haben in seinen Bildern stets die bestimmende Rolle gespielt. Es genügte „eine vage Vorstellung nur in Glut und Farbe“, so Nolde, um den Bilderstrom seiner Phantasie auszulösen.
Es ist kaum zu glauben, dass die jetzige Ausstellung „Emil Nolde. Der Maler“ im Brücke-Museum, die noch bis zum 23. Oktober geöffnet ist, die erste Gemälde-Retrospektive von Nolde in Berlin sein soll, obwohl sein Werk ja in den letzten Jahrzehnten facettenreich – in unterschiedlichen Themenbereichen, Schaffensperioden und auch Gattungen – präsentiert wurde. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt mit der Nolde Stiftung Seebüll und zeigt auch Gemälde aus dem Nachlass von Noldes zweiter Frau Jolanthe, die vor zwei Jahren als Dauerleihgaben in die Sammlung des Brücke-Museums eingefügt werden konnten. Von der impressionistischen, lichtsprühenden Malweise wird Noldes Weg zur Befreiung der Farbe und zur expressiven Geste verfolgt.
Noch auf der Ostseeinsel Alsen, die Nolde mit seiner Frau Ada von 1903 bis 1916 bewohnte, sind Blumen- und Gartenbilder entstanden. Er begann sich hier mit der Farbe auseinanderzusetzen, mit ihrer physischen Präsenz, ihrer Ausdruckskraft und emotionalen Ausstrahlung. Das leuchtende, mitunter glühende Kolorit der Blumen im Sonnenlicht führte zur expressiven Steigerung und gab ihm den entscheidenden Impuls, das Eigenleben der Farbe für sich neu zu entdecken. Farbe wird hier als emotionsgeladene Materie erlebt.
In Ruttebüll, einem kleinen Dorf an der Westküste, unweit seines späteren Wohnsitzes Seebüll, auf dem er dann von 1926 bis zu seinem Tode leben sollte, entstanden 1909 Bilder der friesischen Landschaft: Darstellungen der Marsch mit ihren Sielzügen, ihrem hohen Himmel, breit gelagerten Bauernhöfen, den Tieren auf den Fennen. In einer Folge von Bildern, die er „Herbstmeere“ nannte und die bis an den Rand der Gegenstandslosigkeit gehen, hat die Farbe einen eigenständigen Bildwert erhalten, hinter dem die Motivschilderung zurücksteht. Hier existiert keine Distanz mehr zwischen Mensch und See, der Betrachter befindet sich inmitten des tosenden Meeres, das ihn von allen Seiten umgibt, während sein Blick doch nur einen Ausschnitt aus der Unendlichkeit zu erfassen vermag.
Im Winter 1910/11 fand Nolde in Berlin ein neues Thema, die Vergnügungswelt der Metropole, die Großstadt als „Hure Babylon“, die Kälte und Anonymität der modernen Zivilisation – „ich zeichnete die Kehrseite des Lebens“. Es entstanden Gemälde wie die „Slowenen“, ein verlorenes Paar in einer fremden Welt, „Am Weintisch“ in hektischem Malstil, „Publikum im Cabaret“ mit grotesk-maskenhaften Gesichtern oder „Gesellschaft“ (alle 1911) im Kreuzfeuer totaler Beziehungslosigkeit. Ekstatisch wirbeln Noldes „Kerzentänzerinnen“ (1912) umeinander, scheinen über den Bildrand hinauszustreben. Lebensgroß und um ein Vielfaches heißer finden sich die kleinen Flämmchen der Kerzen in den zuckenden Körpern der Tänzerinnen wieder.
Als er und seine Frau Ada 1913 nach Guinea reisten, war er auf der Suche nach Urexistenzen des Menschlichen, nach „Urvölkern“, die noch im Einklang lebten mit der Natur. In „Tropensonne“ (1914) blickt der Betrachter in Meeresspiegelhöhe auf einen faszinierenden Sonnenuntergang. Nolde hat die Farben in großen Flächen aufgetragen und nicht wie in seiner norddeutschen Heimat expressiv übersteigert. In „Familie“ (1914) verschmelzen die auf dem Boden sitzenden Insulaner ganz mit dem Bildgrund. Angst und Aggression mischen sich in dem suggestiv bohrenden Blick des Mannes. Nolde hat die atemlose Spannung gegenseitiger Fremdheit in seine Malerei übertragen, er wollte – anders als in seinen nordischen Bildern – eine Distanz zum Betrachter herstellen.
In den 30er und40er Jahren entstanden neben konfliktorientierten Figurenbildern Blumen- und Meereslandschaften, die regelrecht zu einem seelischen Selbstbildnis werden. Das Licht lagert sich um die Blütenscheiben, umhüllt diese wie mit einem materialisierten Dunst. Manchmal verwandeln sich die Blumenkronen in wahre ausbrechende Sonnen, die Blütenblätter wirbeln in heftiger Bewegung. Aber auch die intensiven Rot-, Gelb- und Blautöne der Meeresbilder brechen sich in einem Aufflackern, sodass die ganze Atmosphäre mit in den Flammenwirbel einzustimmen scheint. Welch ein grandioses Schauspiel von geradezu kathartischer – die Leidenschaften reinigender – Wirkung!