Im Bukarester Stadtmuseum, das im geschichtsträchtigen Palatul Su]u am Bukares-ter Universitätsplatz untergebracht ist, ist seit dem 29. November und noch bis zum 28. Mai des folgenden Jahres eine Fotoausstellung zu besichtigen, die mit einer Schau von Bukarester Stadtansichten den Betrachter aus der Welt der großstädtischen Gegenwart in die Vergangenheit der rumänischen Kapitale zurückgeleitet. Waren im vergangenen Jahr im Palatul Su]u Fotografien von Bukarest aus den Jahren 1850 bis 1900 zu sehen gewesen, so werden den Museumsbesuchern nun Bukarester Stadtansichten hauptsächlich aus den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts präsentiert.
Die insgesamt 69 Schwarzweißfotografien, die in einem Saal im Erdgeschoss des Stadtmuseums ausgestellt sind, stammen von Alfons Ebner, einem Fotografen, von dem wenig Biografisches bekannt ist. Die Familie Ebner stammt vermutlich aus Tirol und ist wohl Anfang des 20. Jahrhunderts nach Rumänien eingewandert. Die Tatsache, dass manche der im Stadtmuseum ausgestellten Fotografien mit „A. Gh. Ebner“ signiert sind, legt nahe, dass es sich bei Alfons Ebner um den Sohn des Fotografen Gheorghe Ebner handelt, wie Emanuel B˛des-cu, Bibliothekar der Rumänischen Akademiebibliothek und Experte in Sachen historischer Stadtfotografie, vermutet.
Die im Stadtmuseum versammelten Originalfotografien von Alfons Ebner, von denen etliche zum ersten Mal öffentlich ausgestellt sind, entstammen allesamt dem Bildarchiv des Bukarester Stadtmuseums. Die Kuratorin der Ausstellung, Lelioara Zamani-Gavnani, ihres Zeichens Leiterin der stadtgeschichtlichen Abteilung des Museums, hat die historischen Fotografien Alfons Ebners nach der Art von Stadtspaziergängen angeordnet. Man beginnt den imaginären Stadtrundgang an der Piaţa Victoriei, geht dann die Calea Victoriei, die vor der Unabhängigkeit Rumäniens noch Podul Mogoşoaiei hieß, in gesamter Länge hinunter bis zur Dâmboviţa, schlendert den Splaiul Dâmboviţei entlang, durchstreift das Gebiet, auf dem sich heute die Piaţa Unirii ausbreitet, besteigt den Dealul Patriarhiei, durchstreift dann den Izvor-Bezirk und die Umgegend der Straßen Schitu M˛gureanu, Ion Brezoianu und Academiei, kommt danach zum Universitätsplatz, um daraufhin den Bulevardul Carol I entlang zu flanieren und den Stadtrundgang am Foişorul de Foc enden zu lassen, an jenem 1890 errichteten Feuerwachturm, den die Bukarester Feuerwehr noch bis 1935 in Gebrauch hatte und der später zum Feuerwehrmuseum umfunktioniert wurde.
Man kann die Bukarester Fotoausstellung in relativ kurzer Zeit durchgehen, dabei die hohe Qualität der gestochen scharfen Stadtaufnahmen bewundern, das historische Flair der Fotografien genießen, einzelne Bukares-ter Gebäude, die heute noch stehen, wiedererkennen und sich an den vielfältigen Eindrücken, die diese historische Fotoausstellung bereithält, weiden. Richtig interessant wird es aber erst, wenn man sich für jedes einzelne Foto in der Ausstellung ausführlich Zeit nimmt und dabei optische Stadtarchäologie betreibt. Dann wird man sich mehrere Stunden mit großem Genuss in diesem einen Ausstellungsraum im Bukarester Stadtmuseum aufhalten.
Steht man dort beispielsweise vor der Fotografie, die Ebner vom Universitätsplatz aus nahe der Strada Academiei aufgenommen hat und die linkerhand die „Terasa Carpaţi“, rechterhand einen Gebäudeflügel der Universität Bukarest zeigt, so wird man, um sich in der Topografie der Stadt zurechtzufinden, auf den Fundamenten des damaligen Bukarester Open-Air-Restaurants vor seinem geistigen Auge die heutige Buchhandlung „Mihai Eminescu“ erstehen lassen müssen. Umgekehrt wird man, wenn man nach dem Besuch der Ausstellung in winterlicher Kälte dort vorübergeht, besagte Buchhandlung mit ihren großen Schaufenstern imaginär in sich zusammensinken lassen und sie vor dem geistigen Auge durch die einstige sommerliche Restaurantterrasse ersetzen können. Diese historische Rückung, dieses Kippen des Blicks, diese Amalgamierung von Geschichte und Gegenwart ist der eigentliche Gewinn der Ausstellung, die den aufmerksamen Besucher gleich-sam zum urbanen Archäologen macht, der Bukarest optisch mehrschichtig und auf die Vergangenheit hin durchsichtig zu erleben lernt.
Bereits das erste Foto der Ausstellung, ein Bukarester Stadtpanorama, macht dies exemplarisch deutlich. Es dominiert dort ein fast ländlicher Eindruck, aus dem flachen Lande mit niedrigen Häusern erheben sich einige Kirchen, Fabrikgebäude, Schornsteine, das Heizkraftwerk Filaret, und die höchste Erhebung der Stadt ist der Dealul Patriarhiei mit dem Palast der Abgeordnetenkammer, dem heutigen Patriarchenpalast. Was für ein Unterschied zum heutigen Stadtbild, wo der Hügel, auf dem der Patriarchenpalast steht, angesichts des benachbarten monumentalen Parlamentspalastes, der sogenannten Casa Poporului, gleichsam in die Tiefe gesunken und dem Erdboden nahe gerückt ist!
Denselben Sachverhalt illustrieren die Fotos der Ausstellung, die den Dealul Patriarhiei vor und nach der Neuordnung 1935 zeigen. Auf diesen Fotos sieht man das Gebiet der heutigen Pia]a Unirii noch in seiner alten Form, mit den, nach dem Beispiel der Halles de Paris erbauten Markthallen wie der Vechea Hal˛ a Unirii (Hala Mare). Und heute umbrandet dort der Autoverkehr die Fontänen und Wasserspiele der Pia]a Unirii im Ambiente der von Ceauşescus stadtplanerischem Willen geschaffenen Platzarchitektur!
Vor allem auf dem museal-imaginären Stadtspaziergang, der die Calea Victoriei entlang führt, kann man etliche Blicke auf Gebäude erhaschen, die man auch heute noch auf der Bukarester Prachtstraße sehen und erleben kann. Diese sind unter anderen: die Casa Filipescu-Cesianu, die neuerdings wieder als Museum zugänglich ist; der Palatul Cantacuzino, in dem das George-Enescu-Museum untergebracht ist; die Casa Vernescu und der Palatul Ghica-Gr˛di{teanu; das seit Längerem im Verfall befindliche Gebäude der Deutschen Gesandtschaft; das Athenäum; der Palatul Telefoanelor und viele weitere Gebäude mehr. Andere Gebäude wiederum an dieser Bukarester Traditionsstraße, die auf Alfons Ebners Fotos noch zu sehen sind, stehen dagegen heute nicht mehr: der Palatul Sturdza am Eingang zur Calea Victoriei; das Gebäude der Fakultät für Pharmazie, das die Calea Victoriei damals bis zur Hälfte verengte; das alte Nationaltheater, dessen einstmalige Fassade in die des heute dort stehenden Hotels Novotel als historisches Zitat integriert ist; oder auch das Gebäude der Russischen Botschaft. So lassen sich in dieser sehenswerten Ausstellung unzählige stadtgeschichtliche Beobachtungen machen, die den Besucher auf all seinen künftigen Gängen durch Bukarest lebendig zu begleiten und zu bereichern in der Lage sind.