Im Palais Suţu am Bukarester Universitätsplatz ist derzeit und noch bis zum 26. September dieses Jahres eine Ausstellung mit Werken vorwiegend rumänischer Zeichner, Maler und Bildhauer zu sehen, in welchen das Studium menschlicher Anatomie seinen künstlerischen Ausdruck gefunden hat. Die Dimensionen und Proportionen des menschlichen Körpers, die Vielfalt seiner Bewegungen und das dabei sich zeigende Spiel der Muskeln, äußere Oberfläche und inneres Wesen werden in dieser Ausstellung unter dem Aspekt der Schönheit und der Ästhetik in den Blick genommen.
Zu den rumänischen Meistern, von denen in dieser Ausstellung Exponate zu bewundern sind, zählen etwa Gheorghe Tattarescu, Theodor Aman, Mişu Popp, Constantin Lecca, George Demetrescu Mirea, Constantin Daniel Rosenthal, Mihail Dan, Anton Chladek, Theodor Pallady, Carol Storck und etliche andere. Schon Leonardo da Vinci hatte der menschlichen Anatomie große künstlerische Bedeutung zugemessen und sich zeit seines Lebens mit anatomischen Studien beschäftigt. Seine berühmteste Zeichnung in diesem Kontext ist „Der Vitruvianische Mensch“ (um 1490), wo der Nabel den Mittelpunkt eines Kreises bildet, in den ein nackter Mann mit ausgestreckten Armen und gespreizten Beinen geometrisch eingepasst ist.
In Rumänien hat die Entwicklung der künstlerischen Anatomie in ihrer modernen Form in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genommen. So hat etwa Nicolae Kretzulescu, unterstützt von Carol Davila, im Jahre 1843 ein Handbuch der beschreibenden Anatomie in rumänischer Sprache, wenngleich mit kyrillischen Lettern, verfasst. Zuvor dominierte in Rumänien die byzantinische Tradition figürlicher Darstellung mit ihren strengen ikonischen Regeln und spiritualistischen Formgebungen. Berühmt für den neuen, gleichsam wissenschaftlichen Zugang zur künstlerischen Anatomie ist etwa die Gipsskulptur „Ecorşeul“ (Der Gehäutete) von Constantin Brâncuşi aus dem Jahre 1902, mit der sich der fünfundzwanzigjährige Kunststudent nach antikem Vorbild und unter wissenschaftlicher Anleitung des Anatomieprofessors Dimitrie Gerota seine ersten künstlerischen Meriten verdiente – paradoxerweise just derjenige moderne Künstler, der später die akademische Tradition hinter sich ließ und wirklichkeitsgetreue Anatomie in die Autonomie individueller künstlerischer Formen überführte.
Betritt man die Ausstellung, die in zwei Sälen im Obergeschoss des Palais Suţu untergebracht ist, fällt der Blick sogleich auf mehrere Bleistiftzeichnungen von Gheorghe Tattarescu: Kopf-, Hand- und Fußstudien nach römischem Vorbild sowie die Bleistiftskizze einer antiken Skulptur. Weitere Zeichnungen Gheorghe Tattarescus von antiken Skulpturen können in einer Vitrine im zweiten Ausstellungssaal bewundert werden, wo drei aufgeschlagene Skizzenbücher und acht Blätter mit anatomischen Studien von jenem Künstler zu sehen sind, der im Jahre 1864 zusammen mit Theodor Aman die Nationale Schule der Schönen Künste in Bukarest begründete. Im ersten Saal finden sich außerdem zwei Ölgemälde des rumänischen Meisters, in denen die Anatomie weiblicher Schönheit gefeiert wird: im Porträt eines Blumenmädchens vor italienischer Landschaft und in einer fast lasziv zu nennenden Aktdarstellung einer jungen Frau, die einen Wasserkrug auf ihrer linken Schulter trägt. Die letztgenannten Exponate entstammen der Sammlung Tattarescu aus dem Museum Gheorghe Tattarescu, dem ehemaligen Wohnhaus des Künstlers in der Bukarester Straße Domniţa Anastasia, das der Öffentlichkeit derzeit leider nicht zugänglich ist.
Constantin Leccas Ölgemälde „Herodias“ zeigt zur Abwechslung einmal nicht Salome selbst, sondern deren Mutter, die, wie sonst die Tochter, das abgeschlagene Haupt Johannes des Täufers auf einer Schale präsentiert: eine wunderbare Kopfdarstellung nach antikem Vorbild. Zwei weitere Ölgemälde stellen noch einmal eine Hommage an die Frauenschönheit dar: die Aktdarstellung George Demetrescu Mireas von einem Mädchen, das wie die römische Göttin Flora, von blühenden Blumen umspielt, im Grase liegt, und das Bild Constantin Artachinos von einem Mädchen mit Lilien, die sie in einem hölzernen Krug im Arm trägt.
Außerdem schmücken mehrere Kleinplastiken aus Bronze diesen ersten Ausstellungssaal: eine expressive Handskulptur in Originalgröße von Dimitrie Paciurea, ein Jugendstil-Frauenakt von Vasile Ionescu-Varo mit einer Höhe von etwa einem halben Meter und ein Bronzeakt von Céline Emilian im Stile Bourdelles. Daran schließen sich etliche Frauenporträts in Öl an: von Anton Chladek, Theodor Aman, Constantin Daniel Rosenthal und Niccolò Livaditti. Zwei Ölbilder von Mihail Dan und Nicolae Grigorescu mit Kinderdarstellungen runden diese Porträtsektion ab, wobei der erstgenannte Künstler seinem Knaben das Gesicht eines Erwachsenen verliehen hat.
Eine größere Vitrine in diesem ersten Ausstellungssaal enthält – um die Bezüge von Porträtkunst und anatomischer Darstellung deutlich zu machen – nicht nur Porträtbüsten (darunter eine 4000 Jahre alte ägyptische Kopfskulptur aus Granit), sondern auch zwei menschliche Schädel, die zu anatomischen Studienzwecken verwendet wurden, sowie anatomische Zeichnungen eines rumänischen Medizinstudenten, der heute ein hochbetagtes Ehrenmitglied der Rumänischen Akademie ist: Constantin Bălăceanu-Stolnici. Eine Frauenbüste aus Marmor von Carol Storck markiert dann den Übergang zum zweiten Ausstellungssaal, in dem weitere weibliche Aktdarstellungen zu sehen sind.
Das „Warten“ betitelte Ölgemälde des belgischen Malers Georges van den Bos zeigt einen an einen Sockel mit Löwenkopf gelehnten Frauenakt mit einer Korallenkette um den Hals als einzigem Kleidungsstück. Der reizvolle Gegensatz zwischen antikischer Haltung und realistischem Ausdruck erzeugt, unterstützt durch die Selbstberührungen der Frauengestalt, eine erotische Atmosphäre, die auch in Aktdarstellungen des Tischbein-Schülers Wilhelm Böttner, der aus Kurhessen stammte und im frühklassizistischen Stil malte, sowie des rumänischen Malers Nicolae Grigorescu mitschwingt, die in diesem zweiten Ausstellungssaal ebenso zu bewundern sind.
Wenn von Frauenaktbildern rumänischer Künstler die Rede ist, darf natürlich Theodor Pallady nicht fehlen, von dem in der Ausstellung im Bukarester Stadtmuseum allein neun Werke zu sehen sind: Ölgemälde auf Leinwand, Ölbilder auf Karton und eine Zeichnung (Bleistift und Sepia). Komposition, Farbgebung, gestalterische Idee – alles besticht an diesen Meisterwerken des modernen rumänischen Malers, der in Dresden Ingenieurwissenschaften studierte und auf Anraten des deutschen Malers Ernst Erwin Oehme nach Paris ging, um sich dort zum Künstler ausbilden zu lassen.
Neben Ölgemälden von Ion Andreescu, Nicolae Vermont, Sava Hen]ia und Mi{u Popp ist schließlich auch ein römischer Marmortorso (ohne Kopf bis zum Oberschenkel) aus den Beständen des Archäologischen Instituts „Vasile Pârvan“ der Rumänischen Akademie zu bewundern. Er erinnert an den antiken Torso vom Belvedere, der für Winckelmann, Goethe, Moritz und Heinse so bedeutend war und dessen Faszination noch aus Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apolls“ spricht, das mit folgenden Worten schließt: „Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“