Die Bukarester Universitätsprofessorin Ioana Crăciun hat soeben im renommierten Heidelberger Universitätsverlag Winter einen literaturwissenschaftlichen Sammelband herausgebracht, der den schönen Titel trägt: „Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen nicht!“ Diese Titelformulierung verkehrt den Sinn des alten römischen Sprichworts „Inter arma silent Musae“, das sich an ein Diktum Ciceros anlehnt, in sein genaues Gegenteil. Kriegerische Auseinandersetzungen bringen die Künste nicht etwa zum Schweigen, sondern beflügeln sie, was insbesondere für die Zeit des Ersten Weltkriegs Gültigkeit besitzt.
Zahlreiche deutsche Dichter wie August Stramm, Ernst Stadler, Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz oder Georg Hecht verloren im Ersten Weltkrieg als junge Männer ihr Leben, gleichwohl hinterließen sie grandiose Gedichte, die ihre eigenen Kriegserlebnisse lyrisch zum Ausdruck brachten und ihre Erfahrungen in und mit dem Großen Krieg der Nachwelt als Mahnung überlieferten.
Der von Ioana Crăciun herausgegebene Sammelband geht zurück auf eine interdisziplinäre wissenschaftliche Tagung, die vom 17. bis 19. September 2018 in Bukarest stattfand. An diesem Humboldt-Kolleg, das vom Humboldt-Club Rumänien organisiert wurde und von der Alexander von Humboldt-Stiftung, einer der wichtigsten Forschungsförderorganisationen der Bundesrepublik Deutschland, finanziell unterstützt wurde, nahmen damals zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien, aus der Republik Moldau und der Slowakischen Republik, aus Polen, Serbien und Bulgarien, aber auch aus Belgien und aus den Vereinigten Staaten von Amerika teil.
Das Rahmenthema des Bukarester Humboldt-Kollegs des Jahres 2018 lautete „World War I and Beyond“ (Der Erste Weltkrieg und darüber hinaus) und die unter jenem Rahmenthema stehenden Vorträge beschäftigten sich mit den menschlichen Tragödien, den sozialen Herausforderungen wie auch mit den wissenschaftlichen und kulturellen Antworten auf dieses global höchst folgenreiche Ereignis, zu dessen zahlreichen Resultaten nicht zuletzt die Entstehung des modernen rumänischen Staates im Jahre 1918 gehört.
Eine der insgesamt drei Sektionen des Humboldt-Kollegs wurde von der Bukarester Literaturwissenschaftlerin Ioana Crăciun geleitet, die seinerzeit insgesamt siebzehn Germanisten, Romanisten, Anglisten, Kunst- und Kulturwissenschaftler aus Belgien, Deutschland, Österreich, Rumänien und Ungarn in die rumänische Hauptstadt eingeladen hatte, um mit ihnen gemeinsam sowohl über Lyrik, Epik und Dramatik zur Zeit des Ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit zu diskutieren wie auch Spiegelungen des Großen Krieges im Medium der Presse, der Kultur, der Malerei und des Films zu beleuchten.
Rund die Hälfte der damals im Rahmen der Sektion „Kultur“ des Humboldt-Kollegs gehaltenen Vorträge ist nun in schriftlich ausgearbeiteter Form in dem von Ioana Crăciun im Heidelberger Universitätsverlag Winter edierten Sammelband erschienen. Dazu zählen auch die beiden Beiträge von Dietmar Goltschnigg (Graz) und Andrei Corbea-Hoișie (Jassy/Iași), die seinerzeit als Plenarvorträge gehalten wurden.
Der österreichische Germanist Dietmar Goltschnigg befasst sich in seinem Beitrag zum genannten Sammelband mit dem Ersten Weltkrieg im Lebenswerk von Karl Kraus und Robert Musil, während der rumänische Germanist Andrei Corbea-Hoișie in seinem Beitrag „Deutschsprachige Literaturen in Rumänien nach 1918“ das Jahr des Kriegsendes als Schwellenjahr markiert, das für alle deutschsprachigen Felder der Kulturproduktion, die infolge des Krieges hinter die Grenze Großrumäniens geraten waren, eine Art „Südostverschiebung“ bedeutete. Auf lange Sicht führte diese historische Entwicklung schließlich zur ideologischen Vereinnahmung der deutschen Siedlergruppen in Rumänien durch die Nationalsozialisten. „Dieses Muster einer ideologisch erzwungenen Vereinheitlichung deutschsprachiger Literaturen in Rumänien wurde dann später unter dem kommunistischen Diktat, als die Idee einer gesamten‚ rumäniendeutschen’ Literatur keimte und gedieh, erst recht vervollständigt.“ (S. 161)
Mit der Darstellung des Ersten Weltkriegs in nicht-realistischer Lyrik und Prosa beschäftigt sich der Beitrag von Moritz Baßler (Münster), der sich unter dem Titel „Krieg der Zeichen“ der Frage widmet, ob nicht der abstrakten und absoluten Literatur der damaligen Avantgarde, insofern sie sich mit dem radikal Neuen des Ersten Weltkriegs auseinandersetzte, entgegen ihrer eigenen Programmatik mimetische und referentielle Qualitäten zuwuchsen, mithin radikal neue Texturen zur abbildenden Darstellung der Kriegswirklichkeit gerannen. „In der enharmonischen Verwechslung von absolutem und referentiellem Bezug geraten zwei Zeichenordnungen in Konflikt, die miteinander inkompatibel sind.“ (S. 53) Zahlreiche Beispiele aus der Literatur und der Bildenden Kunst untermauern Baßlers Überlegungen, die mit folgendem literarhistorischen Fazit schließen: „Der Traum der emphatischen Moderne findet in den 1920er und 1930er Jahren keine Fortsetzung; wo ihre kühnen neuen Verfahren überhaupt noch zum Einsatz kommen, da in mimetischer Absicht.“ (S. 67)
Dirk Niefanger (Erlangen) befasst sich in seinem Beitrag mit narrativen Parteinahmen im deutschsprachigen (Anti-)Kriegsroman der Zwischenkriegszeit, wobei der Verfasser zahlreiche Autoren zu Wort kommen lässt: Arnold Zweig, Edlef Köppen, Ernst Glaeser, Walter Flex, Ludwig Renn, Ernst Jünger und nicht zuletzt Erich Maria Remarque mit seinem bekannten deutschen Weltkriegsroman „Im Westen nichts Neues“ aus dem Jahre 1928. Dirk Niefanger zeigt in seinem Beitrag, dass die Unterscheidung von kriegsaffinen und kriegskritischen Romantexten problematisch ist, weil in beiden Textarten aufgrund erzählerischer Notwendigkeiten emotional Partei ergriffen und kriegerisch gehandelt wird, was den Pazifismus von Antikriegsromanen narrativ grundsätzlich in Frage stellt.
„Der Krieg, sowohl als konkretes Ereignis in Form des Ersten Weltkriegs als auch als abstrakter Begriff, als das Dasein generell strukturierende Kategorie, ist die thematische Grundkonstante in Ernst Jüngers Frühwerk.“ (S. 113) Mit diesem Zitat von Thomas Petraschka nähert sich Mihaela Zaharia (Bukarest) in ihrem Beitrag der literarischen Verarbeitung von Jüngers Kriegserlebnissen, wobei sie auch dem Exotismus in Jüngers Erzählung „Afrikanische Spiele“ (1936) Aufmerksamkeit schenkt. Eine ähnlich exotische Dimension eignet auch dem Beitrag „Weltkriegserfahrungen aus der Ferne“ von Matei Chihaia (Wuppertal), der sich dem Großen Krieg aus der Perspektive des uruguayischen Schriftstellers Horacio Quiroga nähert.
Zwei Beiträge zur Verfilmung von Weltkriegsromanen runden den Sammelband von Ioana Crăciun ab. Ana Karlstedt befasst sich mit dem Zeitempfinden im Krieg, wobei sie die filmische Umsetzung von Schlüsselszenen des Remarqueschen Romans „Im Westen nichts Neues“ (1928) mit dessen Verfilmungen von Lewis Milestone (1930) und Delbert Mann (1979) vergleicht und dabei insbesondere die künstlerische Inszenierung von Zeit untersucht.
In ihrem eigenen Beitrag zu dem von ihr edierten Sammelband widmet sich die Herausgeberin Ioana Crăciun Ernst Johannsens Roman „Vier von der Infanterie. Ihre letzten Tage an der Westfront 1918“ und dessen Verfilmung durch G. W. Pabst aus dem Jahre 1930. Beide, Film und Roman, wurden wegen ihrer pazifistischen und antichauvinistischen Botschaft von den Nationalsozialisten 1933 verboten bzw. verbrannt.
Danksagung, Vorwort, Autorenverzeichnis und Personenregister rahmen den mustergültig edierten Sammelband von Ioana Crăciun, dem auch, am Ende der jeweiligen Beiträge, ausführliche Literaturverzeichnisse beigegeben sind, die Hinweise zu einer vertieften Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg in historischer, literarischer, filmischer und künstlerischer Hinsicht bieten.