„Menschen. Macht. Rumänien“ – ein perfekter Titel für die Porträtsammlung des Fotografen Cornel Brad, der nach jahrelangen Recherchen und persönlichen Gesprächen die Porträts und Geschichten von 150 Personen vorstellt, die in irgendeiner Weise mit der Wende in Rumänien zusammenhängen.
So objektiv wie möglich präsentiert er nicht nur Dissidenten wie Doina Cornea oder Radu Filipescu oder aber öffentliche Persönlichkeiten wie Ion Iliescu oder Lászlo Tökés, sondern versucht, den Machtwechsel auch anhand teilweise komplett unbekannter, aber beteiligter Personen darzustellen, so zum Beispiel die Mutter des dreijährigen Paul-Alin Chircă, der in Hermanstadt/Sibiu von der Armee während der Revolution erschossen wurde, oder aber Cecilia Jugănaru, eine Arbeiterin aus Kronstadt/Brașov, die wochenlang von der Securitate nach ihrer Teilnahme am antikommunistischen Protest in Kronstadt im Jahr 1987 gefoltert wurde, oder aber die bei ihrem Abschlussball verhaftete und zu 20 Jahren Haft verurteilte Niculina Moica aus Sächsisch Regen/Reghin, die mit anderen Jugendlichen über eine antikommunistische Jugendbewegung sprach, oder aber Octavian Fulger, der aktiv bei den Straßenbewegungen in Bukarest im Dezember 1989 teilgenommen hatte. Gleichzeitig aber stellt er auch derzeit Machttragende wie Laura Codruța Kövesi, die bereits berühmte EU-Strafverfolgerin, oder den derzeitigen Oberbürgermeister der Hauptstadt, Nicu{or Dan vor. 150 Personen und deren einzigartige Geschichten, in einer einzigartigen Form erzählt. Ein Manifest für die Zukunft.
Nach mehreren Wochen in der Kälte…
Die Idee für dieses Projekt entstand 2017, 18 Jahre nach der Revolution, als wieder einmal Menschen nach einigen Wochen in der Kälte auf dem Victoriei-Platz in Bukarest für die Demokratie und den Erhalt ihrer Werte und wegen des Eilerlasses Nr. OG 13 demonstrieren mussten. Wir mussten bitter feststellen, dass der Staat wieder einmal gekapert worden war. Ich fragte mich, was kann ich als Fotograf tun. Wie kann ich die Geschichte Rumäniens erzählen, jetzt im Jahr 2017? Es erschien mir sinnvoll, die Dinge, die ich vor dem Kommunismus und in den unmittelbaren postkommunistischen Jahren als Teenager und als junger Mensch erlebt hatte, miteinander zu verknüpfen.
Ich erstellte so eine Art mentale Karte, auf der ich zusammen mit den Ausstellungsbesuchern zu den Geschichten Doina Corneas, Radu Filipescus und anderer navigieren konnte. Ich erinnerte mich auch an den Arbeiteraufstand 1987 in Kronstadt, mit allem, was er bedeutetet hatte. Obwohl ich damals erst 13-14 Jahre alt gewesen war, spürte ich immer noch, dass dort wichtige Dinge geschehen waren.
Auch kannte ich einen Journalisten, der bei den Verhandlungen mit den Bergarbeitern während des Streiks von 1977 im Schil-Tal/Valea Jiului dabei gewesen war. Mir wurde immer klarer, dass es eine Reihe von historischen Momenten gegeben hatte, in denen die Leute sich aufgelehnt hatten, ihre Wut jedoch erstickt worden war. Im Grunde genommen war die Wut der Bevölkerung vom rumänischen Staat immer wieder unterdrückt worden und war so zu einer noch größeren seelischen Belastung geworden.
Ich erinnerte mich auch an die Zeit nach der Revolution, als die Energie der Bevölkerung wieder einmal in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde, die nicht mit den ursprünglichen Wünschen der Revolutionäre übereinstimmte. Ich war live dabei, als das Fernsehen vom Victoriei-Platz in Bukerest ausgestrahlt wurde und die Sendung plötzlich unterbrochen wurde – da war sie wieder, die Manipulation, um einigen Leute ihre Posten zu sichern.
Ich weiß aber auch noch, was der Machtwechsel durch den Ministerpräsidenten Petre Roman bedeutete. In jenem Spätherbst hielt ich mich bei den Bergarbeitern auf, die sich plötzlich gegen eine Regierung wandten, die sie noch wenige Monate zuvor verteidigt hatten, und mir wurde klar, wie unterschiedlich gesellschaftliche Signale interpretiert werden können.
So gesehen kann ich sagen, dass ich irgendwie mit all dem verbunden bin, was rumänische Politik bedeutet, vor und nach 1989. 2017 waren wir wieder an einem Punkt, in dem die rote Linie überschritten worden war, und wir vor die Wahl gestellt waren, das Land zu verlassen oder zu bleiben. Ich beschloss, die Geschichte Rumäniens und Geschichten nachzuzeichen. Als Porträtfotograf konnte ich sie nur erzählen, indem ich Porträts machte und die Menschen ihre Geschichte erzählen zu lassen.
In meinen Fotoprojekten zeige ich die Kontraste: Die Menschen, die Macht hatten, und Menschen, die darunter gelitten hatten, werden gegenübergestellt. Es sind zwei Bücher entstanden und Ausstellungssammlungen, die immer wieder gezeigt wurden.
Mein Beitrag
Ich sage oft, dass ich bei diesem Projekt weniger Kunstfotograf als vielmehr Dokumentarist war. Mein Beitrag in diesem Projekt besteht einfach nur in der Auswahl von Fakten. Die Fotografie kann auch als „Lüge“ betrachtet werden, da sie nur einen bestimmten Zustand wiedergibt, und nur einen bestimmten Moment, aus einer Interaktion heraus, die man mit einem Menschen hat, herausgreift. Der Sinn dieses Projekts erscheint mir darin, zu zeigen, wie sich die Beziehung des einfachen Menschen zur Macht mit dem Leben derer, die Macht haben, gestaltet.
Sich auszusetzen…
In diesem Projekt gibt es einige Menschen, die ich nur unter großen Schwierigkeiten erreicht habe und die über das, was ihnen widerfahren war, erst mit mir überhaupt zum ersten Mal sprachen. Vielleicht war ich auch nur der notwendige Sparringspartner, mit dem sie erkennen konnten, dass es sich lohnt, das alles öffentlich zu erzählen. Das trifft meiner Meinung nach aber nur auf die Menschen zu, die den Machtverhältnissen ausgeliefert waren, nicht auf diejenigen, die die Macht ausgeübt hatten.
„Siehst du? Du hast nicht vergeblich gekämpft“
Das letzte Foto, das ich für meinen Band von 2021 gemacht habe, war von Herrn Prutianu. Er hat sich mehrmals geweigert, fotografiert zu werden, weil er auch nicht verstanden hat, was ich von ihm wollte. Er war derjenige, der eine öffentliche Demonstration gegen Ceau{escu in Jassy/Ia{i bereits am 14. Dezember 1989 organisiert hatte.
Er wurde schnell verhaftet und vier Tage lang schwer gefoltert. Nachdem er freigelassen worden war, umarmte ihn ein Milizionär des alten Regimes, der ihn beglückwünschte: „Siehst du? Du hast nicht vergeblich gekämpft“, als hätten sie es gemeinsam getan. Der Mann war einer der Folterer gewesen. Die Fotosession verlief außergewöhnlich, weil ich auf einen Mann traf, der mit einem Auto von einem Feld herauffuhr, von irgendwo weit weg, eine Staubfahne hinter sich. Er parkte, ein lächelnder Mann kam auf mich zu, er hatte eine warme, ruhige Stimme. Er war Marketingspezialist, Psychologe und Imker geworden. Eine wirklich außergewöhnlich gute Weise, wieder zurück auf die Sonnenseite des Lebens zu finden.
„Froh, dass wir endlich zu Verstand gekommen sind“
Den Abschied von Doina Cornea werde ich nie vergessen. Sie war zwar in einer schlechten gesundheitlichen Verfassung während unseres Treffens, jedoch war sie sehr lebhaft. Sie wollte wissen, warum ich sie aufsuchte. Unter anderem erzählte ich ihr, wie ich ihren Namen auf Free Europe gehört hatte. „Ich bin froh, dass wir endlich zu Verstand gekommen sind.“ Und sie: „Ja, der Weisheit letzter Schluss ist über uns gekommen.“ Sie lebte immer noch in ihrem Haus in Klausenburg/ Cluj-Napoca, in dem sie früher von den Sicherheitskräften überwacht worden war, gut gelaunt und sehr herzlich im Gespräch.
Ein besonderes Licht
Als ich mit Projekt begann, wusste ich nicht, worauf ich mich einlasse und welch große Nähe ich mit diesen Menschen erleben sollte. Manche Leute redeten stundenlang, andere sogar tagelang. Es waren Treffen, bei denen es eigentlich darum ging, Fotos zu machen, ich hatte ja gar keine therapeutischen Absichten.
Was ich wollte, waren Informationen, um ihre Geschichte zu dem Porträt festhalten zu können. Am Ende sollte ich erkennen, dass die, die viel Leid erlebt hatten, zu einem besonderen Licht vorgedrungen waren, zu Versöhnung und zu einer Auffassung von Leben, ganz anders als die Menschen, die wegen verschiedener Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden. Ich weiß nicht, ob man das in den Porträts sehen kann, aber ich habe es in den Begegnungen erlebt.
Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt
In den letzten 70-80 Jahren hat sich die rumänische Gesellschaft trotz der großen Ängste und Unterdrückung, trotz ihrer Opfer, die sie erlitten hat, weiterentwickelt.
Wenn ich an Niculina Moică denke, die als Kind verhaftet wurde, die keinen Anwalt hatte und für 25 Jahre ins Gefängnis geschickt wurde, (später für zehn Jahre), und wenn ich heute sehe, wie Protestierende mit einem Handy bis auf 30 Zentimeter an einen Gendarmen oder einen Polizisten herankommen und ihre Rechte einfordern können, und nicht mehr in einem Gefängnis landen, ohne dass jemand jahrelang von ihnen weiß und ... So gesehen, kann ich sagen, dass es eine Verbesserung gibt.
Ich war bei der Revolution dabei, bei den Bergarbeiterangriffen/Mineriade, bei der OG 13, aber auch, als sich die Staatsführung zum ersten Mal demokratisierte, daran war ich sogar beteiligt. Darum war auch für mich selbst dieses Projekt heilsam.
Es gehört vielleicht zu den eigentlichen Gründen, warum ich dieses Projekt durchgezogen habe, dass ich meiner Tochter durch diese Bücher erzählen wollte, wie die Geschichte Rumäniens der letzten hundert Jahre wirklich war ... darum geht es.
Sinn
Alle Fotos sind in einem sehr persönlichen Rahmen entstanden. Aus weniger als einem Meter Nähe. Ich denke, was am Ende zählt, ist, dass wir diese Situation sehr bewusst eingegangen sind. Auf der einen Seite waren da die Menschen, die die Macht innegehabt hatten, und die meine Einladung verlockend fanden, weil schon viele andere Persönlichkeiten zugesagt hatten. Für die Menschen, die unter den Machthabern der Zeit gelitten hatten, war es hingegen entscheidend, dass sie mein Anliegen überzeugt hat: Sie haben einen Sinn darin erkannt.
Dazu gehört auch Herta Müller. Zunächst hatte sie meine Bitte sehr höflich abgelehnt. Gewinnen konnte ich sie schließlich wohl, weil ich glaubhaft machen konnte, dass ich Geschichte erzählen möchte, damit so etwas, wie es ihr widerfahren ist, in Zukunft nicht mehr passiere. Außerdem befänden wir uns wieder einmal in einem Moment, in dem die rumänische Gesellschaft nicht weiß, in welche Richtung es gehen soll, ob wir mit diesem rein nationalistischen Diskurs wieder unter russischen Einfluss geraten oder ob wir in einem europäischen und demokratischen Konstrukt bleiben wollen.
2019: 30 Jahre seit der Revolution
Der 17. Dezember 2019, der 30. Jahrestag der Revolution, war ein besonderer Tag. Aus diesem Anlass eröffnete eine Ausstellung in der Militärgarnison in Temeswar/ Timi{oara, mit Arbeiten von Andrei Pandele, Dobrovoi Cherpinisan und mir. Vor diesem Gebäude war Ioana B²rbas Mutter getötet und sie selbst angeschossen worden. Unter dem Titel von „Menschen. Macht. Rumänien“ zeigte ich zum ersten Mal 30 Porträts von Revolutionären, auch Ioan Chiș.
„Endlich ist die mămăligă/Polenta explodiert“
Als Kind habe ich nie m²m²lig²/Polenta essen wollen. Weil sie auf Free Europe mal gesagt hatten, dass m²m²lig²/Polenta nicht explodiere, und so stehe es auch um den Mut – oder die Feigheit – des rumänischen Volkes, das sich nie gegen Ceaușescu auflehne. Wie Popeye, der Matrose, den Spinat sehr stark machte, so würde ich, dachte ich, von m²m²lig²/Polenta immer feiger werden.
Da spielte Ioan Chiș eine große Rolle. Er hatte es als Erster auf den Balkon des rumänischen Opernhauses in Temeswar/Timișoara geschafft und von dort aus der Menschenmenge, die sich vom Kommunismus losgesagt hatte, zugerufen: „Heute in Timi{oara, morgen im ganzen Land“. Obwohl das Gebäude von der Armee bewacht wurde, rief er: „Endlich, liebe Brüder, ist die mămăligă/Polenta explodiert“. Das war der Wendepunkt, niemand konnte oder wollte zurück. Es war unglaublich, dass er diese Formel gefunden hatte.
Ich habe versucht, die Geschichte nachzuzeichnen
Seit Mitte der 2000er Jahre lese ich in der Sach- und fiktionalen Literatur immer wieder diesen Mythos, dass Erwachsene oder Jugendliche Ceaușescu hatten töten wollen. Klar, viele, die diese grauen und schwierigen 80er Jahre erlebten, dachten auch darüber nach, was sie tun könnten. Ich selbst habe in jenen Jahren nichts Bedeutendes getan.
Einmal rief ich bei uns im Treppenhaus „Ceaușescu PCR1 - wo ist unser Brot?“, ein bekannter Slogan. Wir hatten fast alle dieses zwiespältige Verhalten, wir hörten zu Hause Berichte auf Free Europe über Radu Filipescu oder Doina Cornea, über den Widerstand, zerstörte Dörfer, Menschen in Gefängnissen. Aber draußen hielt sich jeder zurück. Man hätte angezeigt werden und im Gefängnis landen können. Das hat das gesellschaftliche Vertrauen der Menschen, die den Kommunismus erlebt haben, auf Dauer geschädigt. Das ist wie in der Fotografie ein Kontrast zwischen Hell und Dunkel. Ich habe jedenfalls dieses Projekt nicht gemacht, um über jemanden zu urteilen. Ich habe versucht, die Geschichte nachzuzeichnen.
Versöhnung?
Um mich herum sehe ich keinerlei Anzeichen für Versöhnung. Nötig wäre dafür die dokumentierte Rekonstruktion der Geschehnisse sowie bei den Tätern, die Menschen geschädigt haben, eine moralische Neuorientierung. Ohne kann es meiner Meinung nach keine Versöhnung geben, weil Täter wie Opfer nach und nach sterben. Alles, was nach der Revolution passiert ist, vor allem die Geheimdienstdokumente zu verbrennen oder zu verstecken, ist für mich genügend Beweis, dass diejenigen, die den rumänischen Staat nach der Revolution an sich gerissen haben, nie ein Interesse an der Wahrheit hatten. Sie haben durch anhaltende Erschwernis, die Archive zu nutzen, versucht, ihre Vergangenheit und ihre künftigen Interessen zu schützen. Ich glaube darum nicht, dass in Rumänien aktuell von Versöhnung die Rede sein kann. Das sage ich als Künstler und Bürger, nicht als Historiker.
Moralische Grundlagen einer freien Gesellschaft
Meine tiefe Dankbarkeit gilt dem deutschen Volk. Zwei Monate später und zweitausend Kilometer weiter nach dem Fall der Mauer sind auch wir dann auf die Straße gegangen. Leider ist der Eiserne Vorhang nur weitergerückt, an die östlichen Grenzen Rumäniens. Das wirft die große Frage auf, welchen Einfluss die Entscheidung eines gewöhnlichen Menschen auf die Geschichte haben kann. Meine Ausstellung zeigt schon, dass sich was ändern kann: mit ein paar Flugblättern oder einem aus einer Fahne ausgeschnittenen Wappen oder Briefen, die an einen Radiosender geschickt werden oder Posts auf YouTube. Ich denke, dass das alles wichtig ist. Es sind all dies Beispiele für Mut, der das moralische Fundament für ein Leben in einer freien Gesellschaft legt.
Ein Ort, an dem ich die Ausstellung gerne zeigen möchte
Ich würde mir sehr wünschen, dass zu offiziellen Anlässen, an denen wir uns an die Revolution etc. erinnern, die Geschichten dieser Menschen öffentlichkeitswirksam ausgestellt werden, nicht nur in geschlossenen Räumen, sondern im öffentlichen Raum, so dass sie den Menschen, die dort vorbeigehen, die Geschichte der Menschen erzählen können. Ich wünsche mir, dass sie besonders von jungen Menschen gesehen, gehört und gelesen werden.