„Dagegen war kein Kraut gewachsen“

Das Schicksal einer Temeswarer Apotheke

Die einstige Weiss-Apotheke im Erdgeschoss des Brück-Hauses am Domplatz stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts. Heute ist hier eine Apotheke der Catena-Kette im Betrieb. Ein einfaches Schildchen links oben vom Eingang verrät, dass es sich bei dem Gebäude um eine Sehenswürdigkeit handelt. Die Schrift ist sehr klein und nur schwer lesbar.

„Apotheke“: Der deutsche Name hat sich bis heute erhalten. Auch im Inneren der Apotheke gibt es immer noch das Original-Mobiliar vom Anfang des 20. Jahrhunderts.

Gegenüber der einstigen Weiss-Apotheke befindet sich eine Comics-Ausstellung, die den Betrachter über das Leid der Banater Juden im Zweiten Weltkrieg informiert. Die jüdische Gemeinde Temeswars ist heute auf nur noch 600 Seelen geschrumpft. | Fotos: Raluca Nelepcu

Spaziert man durch die Innenstadt von Temeswar, so fühlt man sich an alte Weihnachtskalender erinnert. Stadtpalais reiht sich an Stadtpalais. Die mit neuen Fassaden versehenen und beleuchteten Jugendstilvillen und neoklassizistischen Paläste haben Temeswar den Spitznamen „Klein-Wien“ verschafft. Nicht allen ist dabei bewusst, wie viel davon der jüdischen Gemeinde Temeswars zu verdanken ist. Und viele wissen nicht einmal, dass Temeswar noch immer eine jüdische Gemeinde besitzt. Heute besteht sie aus nur noch gut 600 Mitgliedern, das sind etwa 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Aber das war nicht immer so. 

Nach dem Ersten Weltkrieg war die jüdische Minderheit groß, sie machte etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Juden bildeten die viertgrößte Minderheit innerhalb der multiethnischen Bevölkerung und sie waren aktiver Teil der Gesellschaft. In der Zwischenkriegszeit waren ungefähr 50 Prozent der Unternehmen in jüdischer Hand und 50 Prozent aller Ärzte, Anwälte und Apotheker gehörten zur jüdischen Gemeinschaft. So heißt es bei Getta Neumann in ihrem Buch „Auf den Spuren des jüdischen Temeswar“. 

Ein Beispiel für diese Vergangenheit ist die Apotheke, die sich im Erdgeschoss des besonders schönen Brück-Hauses am Domplatz/Piața Unirii befindet. Die meisten Temeswarer nennen sie einfach die „alte Apotheke“, weil man dort immer noch das originale Mobiliar aus Kirschholz vom Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet. Anstelle des heutigen prachtvollen Jugendstil-Gebäudes stand hier ein einfacheres zweistöckiges Gebäude, mit dem die Geschichte der Apotheke im Jahr 1898 begann. In diesem Jahr eröffnete Stefan Geml, der Bruder des damaligen Bürgermeisters, eine Apotheke im Erdgeschoss. Jedoch hatte er wenig Glück mit dieser Apotheke. Für ihn erwies sie sich als so wenig rentabel, dass sie einige Jahre später vor dem wirtschaftlichen Ruin stand. Nach dem Tod von Stefan Geml entschied sich seine Witwe, die verschuldete Apotheke 1907 an den jüdischen Pharmazeuten Sándor Weiss zu verkaufen. Dieser hatte 1898 sein Pharmazie-Studium in Bukarest abgeschlossen. Die Witwe von Stefan Geml habe angeblich gesagt: „Ein Jude mag mehr Glück haben als mein Ehemann.“ So berichtet es zumindest Tibor Weiss, der Sohn des damaligen Käufers, in seiner Familiengeschichte, die er in ungarischer Sprache hinterlassen hat. Sein Text wurde in dem Band „Destine evreiești la Timișoara“ (Jüdische Schicksale in Temeswar) von Getta Neumann 2014 veröffentlicht. 

Das heutige dreistöckige Gebäude entstand erst 1910. Mit seinen zahlreichen Blumenornamenten und der Keramikdekoration zeugt es vom ungarischen Sezessionsstil. Dem Apotheker Sándor Weiss blieb zunächst nur wenig Zeit, sein Geschäft im Erdgeschoss aufzubauen. Denn schon bald brach der Erste Weltkrieg aus und er wurde eingezogen. Jemand anders musste die Apotheke für ihn verwalten. 

Dass das ursprünglich zu Ungarn gehörende Temeswar im Jahr 1919 zu Rumänien kam, bedeutete für Sándor Weiss keinen Bruch. Er sprach, neben Ungarisch, auch Rumänisch. Mehrsprachigkeit war und ist eine Selbstverständlichkeit im Banat. Die Familie lebte im selben Haus. Auch der Sohn Tibor Weiss wurde Apotheker. Er stieg einige Jahre, nachdem er in Klausenburg/Cluj-Napoca studiert hatte, in das Familienunternehmen ein. 

Einen Bruch in der erfolgreichen Führung der Apotheke bedeuteten die antisemitischen Maßnahmen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Die Einschränkungen und Repressionen begannen stufenweise. Zunächst wurde die Apotheke unter Kontrolle gestellt, später enteignet. „Ich wusste im Vorhinein, wer der Besitzer sein würde: Viorica Heyer“, schreibt Tibor Weiss. In seinen Worten klingt keine Bitterkeit: „Ich kann nur Gutes über Frau Heyer sagen, nicht nur erlaubte sie mir, so lange wie möglich für sie weiterzuarbeiten, sondern sie mietete auch die Einrichtung von uns, was ein wichtiger Einkommensposten für uns war.“ Wie alle jüdischen Männer musste auch Tibor Weiss Zwangsarbeit leisten, und zwar in einem Arbeitslager in Odessa. Er überlebte. 

Als Rumänien 1944 in das Lager der Hitler-Gegner wechselte, endeten die antisemitischen Maßnahmen. Die Familie kam erneut in den Besitz der Apotheke. „Frau Heyer verhielt sich ganz korrekt und gab die Güter zurück, die wir ihr übergeben hatten.“ Kurz darauf starb auch Sándor Weiss und sein Sohn trat das Erbe an. Doch wirkliche Ruhe kehrte nicht ein. Denn schon 1949 wurden alle Apotheken von den Kommunisten verstaatlicht. „Und so endete nach 42 Jahren unsere Verbindung mit der Apotheke.“ Ihre ehemaligen Besitzer erhielten nichts. 

Erst nach der Revolution im Jahr 1989 konnte die Familie auf Entschädigungen hoffen. „Nach dem Sturz von Ceaușescu hatte ich gehofft, eine Entschädigung zu erhalten. Doch stattdessen verkaufte der rumänische Staat die enteigneten Apotheken.“ 

Familie Weiss lebt seit Langem in Israel, Tibor Weiss ist im Jahr 2005 gestorben. Die Familie wollte sich noch nicht gänzlich mit der erlittenen Enteignung abfinden. Davon kann Maria-Eliza Stoia-Negru]iu erzählen. Sie ist die Enkelin von Maria-Florica Jelișcă, der ehemaligen Anwältin der Familie Weiss aus Temeswar. „2000 und 2002 kamen Gesetze zustande, auf deren Grundlage frühere Eigentümer verstaatlichter Gebäude deren Rückübertragung verlangen konnten. Auf Grundlage dieser Gesetze wurde auch meine Großmutter von der Familie Weiss 2008 beauftragt, vor Gericht das Eigentumsrecht der Familie durchzusetzen.” In der Stimme der jungen Frau klingt Stolz auf die heute verstorbene Großmutter mit. „Meine Großmutter hatte sich als Anwältin für Rückforderungen bei staatlichen Enteignungen in der kommunistischen Zeit einen guten Ruf erworben. Sie gab nicht so schnell auf und sie kannte ihr Fachgebiet.“ Doch es kam anders als erhofft. Der Vorgang erscheint für Nichtjuristen schwer zu verstehen. „Auf der Grundlage eines Gesetzes zur Privatisierung freier Berufe hatte der Staat den Apothekenbesitz bereits an die dort beschäftigten Apotheker verkauft. Da die Käufer als gutgläubig galten, wurde die Klage nicht gewonnen und die Familie Weiss konnte die Apotheke nicht zurückerhalten.” Die junge Frau hebt bedauernd die Schultern und schüttelt ihre braunen Locken, stellvertretend für die Großmutter. 

Die Apotheke ist heute im Besitz einer bekannten Pharmazie-Kette. Am Haus hängt ein für städtische Sehenswürdigkeiten typisches Schild. Es hängt sehr weit oben und ist schwer zu lesen. Viel steht ohnehin nicht darauf. Es verweist auf architektonische Besonderheiten und den Architekten des Hauses, spricht vom Alter der Apotheke, aber nicht von ihren Besitzern und ihrer jüdischen Geschichte.  Solche Schilder verraten zumindest, wie wenig im historischen Gedächtnis einer Stadt noch lebendig ist. Fragt man Menschen auf der Straße oder auch die Angestellten in der Apotheke danach, was sie noch von der Geschichte der Apotheke wissen, heißt es nur: „Sie ist sehr alt.“  


Der Verfasser dieses Textes, Albert Ogodescu, ist Schüler der 11. Mathematik-Informatik-Klasse der Deutschen Spezialabteilung an der Temeswarer Nikolaus-Lenau-Schule.  


Dieser Artikel entstand im Rahmen des Projekts „Schüler schreiben“ an der Deutschen Spezialabteilung (DSA) des Nikolaus-Lenau-Lyzeums in Temeswar/Timișoara. Das Projekt wurde von Katharina Graupe, Deutschlehrerin an der DSA, koordiniert, die auch für die Korrektur der Schülertexte zuständig war. Die Schüler, die die Artikel verfasst haben, stammen allesamt aus der elften Klasse.