Das Leid der Deutschen kennengelernt

Ein Gespräch mit dem Kommunismusforscher Marius Oprea über seine Kindheit und Jugend in Kronstadt

Er betrachtet sich selbst als Wahlkronstädter und er hat in der Zinnenstadt viele Freunde und Bekannte noch aus seiner Kindheit. Als Forscher auf dem Gebiet der kriminellen rumänischen Geheimpolizei (Securitate) im Kommunismus ist er eine bekannte Persönlichkeit. Heute leitet er das Zentrum zur Erforschung der Kommunistischen Verbrechen (CIICR). In einem Gespräch mit ADZ-Redakteur Hans Butmaloiu erzählte Marius Oprea weniger über seine berufliche Tätigkeit als vielmehr über seine Kindheit und Jugendzeit in Kronstadt.


Deine Beziehung zu Kronstadt ist eng, aber du bist nicht in dieser Stadt geboren worden.

Ich hätte im Zug zur Welt kommen können und dann gäbe es weniger Gesprächsstoff. Aber im Ernst: Mutter und Vater stammen aus einem Dorf nördlich von Târgoviste. Vater war Militärangehöriger, Artilleriehauptmann, und wurde dienstlich von Standort zu Standort versetzt. Irgendwann, am 22. Mai 1964, kam auch ich zur Welt. Da ich immer schon neugierig war, wollte ich alles um mich herum erforschen, kennenlernen, hinterfragen. Und diese Neugierde, welche mich übrigens auch heute treibt, brachte mich dazu, schon als Kind nach meinem Ursprung, nach meinen Wurzeln zu suchen. 

Das ging so weit, dass ich als Dreikäsehoch meine Mutter fragte, wo sie mich empfangen hat. Sie führte mich auch tatsächlich später zu einem Grundstück, welches uns gehörte, an eine Stelle, wohin sie mit Vater immer ging, zu einem Nussbaum. Ein Platz, wohin sie als junges Paar manchmal flüchteten. Und damit komme ich schon zu etwas, was ich selbst als Bestimmung empfinde. Die Stelle nennt sich „Valea Seacã“, es ist diejenige, welche in der Volksballade erwähnt wird, die später die Rockgruppe Phoenix bearbeitete, mit Andrii Popa und so. Dieser Popa Andrei ist so eine Art Urgroßvater von uns, eine Legende in der Familie und der ganzen Umgebung.

Führte dich diese Erkenntnis in Richtung Geschichte, zu dem Beruf deines Lebens?

Eigentlich nicht, denn – das habe ich später wahrgenommen – es zieht mich nicht in Richtung Geschichte, sondern in Richtung Vergangenheit. Die Vergangenheit als Gesamtes, als Vermächtnis und Erinnerung. Unserer aller Erinnerung. Der Kontext, die Umgebung, die Einwirkung. Deshalb sag ich auch, dass ich in einem Zug zur Welt hätte kommen können, so wie es ja mit Verschleppten passiert ist. Haben diese einen, ihren Geburtsort? Nein, aber sie haben trotzdem ein Verständnis ihres Ursprungs. Ich persönlich lege es in meinem Fall spaßig aus: Wäre ich nur ein wenig später geboren worden, so wäre es in Siebenbürgen gewesen und keiner hätte mir je gesagt, du bist ein „Mitic²“.
Na ja, und dann, irgendwann, wurde Vater wieder versetzt und als ich so um die vier Jahre alt war, zogen wir nach Kronstadt. Und so wurde ich Kronstädter durch Adoption.

Du hast also Kindheit und Jugend in Kronstadt verbracht.

Richtig. Ich habe hier die Grundschule und das Unirea-Lyzeum besucht und habe hier die erste Bekanntschaft mit der deutschen Minderheit gemacht.

Als Kind?

Als Kind und als Jugendlicher. Ich lebte mich ein und wurde zum Siebenbürger, ich fühle mich als Siebenbürger. Ich habe den Humor des Siebenbürgers angenommen und beibehalten. Viel später, als ich Geschichte studierte, habe ich festgestellt, dass eigentlich die Siebenbürger, Rumänen oder Sachsen, in Bukarest Geschichte geschrieben und gemacht haben. Es gibt eine Menge Beispiele, angefangen von Gheorghe Lazãr.

Also ich habe das Kronstadt der 1960er Jahre und auch danach, die Menschen hier lieben gelernt. Es war aber auch eigenartig, denn, das sage ich jetzt mit den heutigen Erfahrungen, es waren schöne Jahre. Meine erste Liebe war eine Sächsin aus Zeiden, Ute hieß sie. Durch sie habe ich die Siebenbürger Sachsen kennengelernt. Wir waren verliebt, ich wurde der Familie vorgestellt und Utes Vater mochte mich sehr. Ihre Mutter enthüllte mir jedoch das Trauma, welches den Siebenbürger Sachsen widerfahren war, Deportation und alles andere. Sie nahm mich beiseite, in die Küche des alten Hauses in Zeiden und erzählte mir, weshalb sie ihre Vergangenheit nicht überwinden konnte. 

Als junges Mädchen musste sie nämlich von ihrer Mutter im Keller versteckt werden, hinter einer eiligst hochgezogen Wand, um nicht nach Russland deportiert zu werden. So, mit dem Schmerz des Verliebten, lernte ich die Vergangenheit verstehen. Später, Jahre später, hatte ich dann viele Freunde, habe sie auch heute, die meisten sind aus den Reihen der deutschen Minderheit. Herta Müller, Richard Wagner, William Totok, andere Freunde aus Siebenbürgen, aus dem Banat, solche die noch in Rumänien leben oder schon seit vielen Jahren ausgewandert sind.

Du hast dich irgendwann entschieden, Geschichte zu studieren. Was war der Grund, der Auslöser, um dieses Fach und nicht ein anderes zu wählen?

Na ja, der Grund war unser Stassfurt-Fernseher (lacht), eigentlich eine bestimmte Sendung, die „Teleenzyklopädie“ mit einem Beitrag über die Pyramiden. Da habe ich die Arbeit der Archäologen gesehen, es hat mich beeindruckt und da habe ich zu mir gesagt: Du musst Archäologe werden. Das bin ich dann auch geworden und es fasziniert mich genauso wie am ersten Tag.

In welchem Alter hast du diese Entscheidung getroffen?

Keine Ahnung, aber es war sehr früh, vielleicht war ich sechs oder sieben Jahre alt. Und bei der Entscheidung blieb ich. Ich las alles, was mir in die Hände fiel zu diesem Thema, so oft ich nur Zeit hatte, bis Vater den Zapfenstreich gab und ich zu Bett musste. Und dort las ich versteckt, mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, weiter. Dann habe ich über Kronstadt viel gelesen, auch Texte, die nicht in rumänischer Sprache waren, ich lese nämlich und verstehe auch die deutsche Sprache. Mit dem Sprechen tue ich mich schwer, denn es fehlt mir die Übung. Ich habe also von der kleinen Gruppe Rittern erfahren, welche Kronstadt gegründet haben, habe mir Fragen über diese Zeit gestellt und nach Antworten gesucht. Viele habe ich gefunden, noch viel mehr suche ich noch. Weißt du, was ich zum Beispiel auf meinem Schreibtisch liegen habe?

Natürlich nicht!

Einen Stahlhelm. Den Stahlhelm eines deutschen Soldaten, der ein Schussloch aufweist. Für mich ist es ein handfester Beweis für das Leid, das Trauma, die Tragödie, die hier der deutschen Minderheit widerfahren ist. Und während meiner Arbeit, der als Archäologe, habe ich viele solcher Objekte ausgegraben. Heute leite ich ja das Zentrum zur Erforschung der Kommunistischen Verbrechen (CIICR) und unsere Tätigkeit hat sehr viel auch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu tun. So entdecke ich immer wieder, wie groß und tief dieses Drama war. Doch darüber führen wir vielleicht einmal ein ausführliches Gespräch.

Vielen Dank für dieses Gespräch.