Der preisgekrönte Aufsatz: Die Stadt aller Zeitepochen

„Einzeln sind wir Worte, zusammen ein Gedicht“
Georg Bydlinkski


Die Nacht brach ein und der Himmel war von energiegeladenen Sternen beleuchtet. Alles sank im Schatten und man hörte nur das Schnarchen der winzigen Lebewesen. Die Zeit fror für einen Augenblick ein und man hatte den Eindruck, dass die Stadt verlassen war. In dieser leblosen aber geheimnissvollen Stadt lebte ein Mann namens Gegenwart. Er war der einzige Einwohner und führte ein selbstständiges  Leben. Sein Gesicht sah ausgemergelt aus. Seine Züge wirkten wie Grimassen, krank, und seine Augenlider waren von einer tiefblauen Farbe. Am Morgen stieg die Sonne in den Himmel auf und Gegenwart schaute neugierig durch das Fenster. Seine schlafverquollenen Augen waren von den Strahlen , die durch die Wolken krochen, beschienen. Man konnte deutlich bemerken, dass sein Blick aus einem unbekannten Grund unruhig war.

„Warum bin ich gezwungen, alleine in dieser Stadt zu leben? Ich muss eine Lösung finden! Alleinsein ist schön, wenn man alleine sein möchte, nicht, wenn man es muss. Also, am Abend werde ich durch die Umgebung fahren, um eine Menschenspur zu entdecken.“

Der Wind blies stark und brachte die geheimnisvolle Nacht mit Lichtgeschwindigkeit. Gegenwart hielt sein Wort ein und machte sich auf den Weg. Als er die Stadt verlassen hatte und sich weit davon entfernt befand, hoffte er, einen anderen Ort mit Menschen zu finden. Plötzlich kam ein starker Sturm auf. Er bremste und sein Herz schlug unregelmäßig. Seine Beine wurden weicher und ein unerwartetes Geräusch flüsterte ihm in den Ohren. Gegenwart fühlte, wie sich seine Augen unfreiwillig schlossen und sein Magen verkrampfte sich, als würde er frei fallen. Bumm!... Gegenwart fiel ins Gras und öffnete begeistert die Augen.

„Wo bin ich? Was ist gerade geschen? Das kann kaum wahr sein! Ich muss träumen..“

Der Mann erblickte den unbekannten Platz mit Misstrauen und bemerkte, dass die Menschen alte Kleider wie im Mittelalter trugen. Er trottete stundenlang durch die Umgebung. Eine schmale dunkle Gasse zog seine Aufmerksamkeit an.
„Ich muss diese Gasse hinuntergehen. Ich habe das Gefühl, ich werde nicht enttäuscht sein.“

Als Gegenwart das Ende der Straße erreichte, begegnete ihm ein unbekannter Mann. „Wer sind Sie?“ fragte dieser. „Sie sehen nicht wie ein gewöhnlicher Einwohner aus.“

„Ich bin aus der Zukunft gekommen. In welchem Jahr befinden wir uns?“

„1616! Was lügen Sie da? Ich bin ein Schriftsteller namens Vergangenheit. Meine Werke sind nicht völlig vom Publikum verstanden. Sehen Sie... es gibt eine geringe Anzahl von Gelehrten,  die Zugang zum wahren  Sinn meiner Werke haben. Die, die nicht verstehen, sind der Meinung, dass ich verrückt bin. Aber was Sie mir jetzt erzählen ist auch für mich viel zu viel!“

„Aber es ist die Wahrheit! Ich schlage Folgendes vor: Sie kommen mit mir in Ihre Zukunft zurück und dort werden Sie sicher mehr Erfolg haben als hier. Ich bin der einzige Einwohner und ich brauche jemanden, um eine Gesellschaft zu bilden.“ 

Sie kehrten genau an denselben Ort zurück, wo Gegenwart gelandet war. Dort verbrachten sie eine Weile und warteten ungeduldig auf die Zeitreise. Das außergewöhnliche Geräusch war wieder zu hören.Die Reise fand statt, aber das Ziel war ein anderes.

Vergangenheit und Gegenwart befanden sich in der Zukunft. Beide waren erstaunt und analysierten die riesengroßen Gebäude, die aus Glas gebaut waren, Züge, die auf den Gleisen mit einer unerträglichen Geschwindigkeit fuhren und die Welle von Menschen, die hin und her durch die morgenblasse Stadt trampelten.

„Wollen Sie mir erklären, was gerade passiert ist und warum wir uns verirrt haben?“, fragte Vergangenheit.

„Ich habe leider keine Ahnung! Ich muss es selbt herausfin...“ Gegenwart hatte nicht mehr die Gelegenheit den Satz zu beenden, weil ein Fremder ins Gespräch drang.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bezweifle es. Wer sind Sie?“, fragte Gegenwart

„Mein Name ist Zukunft. Ich arbeite als Programmierer, aber das ist keine Neuigkeit. Alle sind hier Programmierer.“

„Was für ein Durcheinander!“ sagte zögernd Vergangenheit.

„Ich verstehe, Ihr seid zu weit weg von zu Hause?“

„Könnte man auch so sagen. Mir ist eine Blitzidee eingefallen. Wir drei sollen in meine Heimstadt zürückkehren. Ich brauche Ihre Hilfe, um eine neue Gesellschaft zu gründen. Einzeln sind wir Worte, zusammen, ein Gedicht“, meinte Gegenwart.

Nach einigem Zögern war auch Zukunft mit dem Vorschlag einverstanden.

„Ich möchte die Zeitreise persönlich erleben. Ich möchte zu den Ersten gehören, die ein Phänomen erleben, das in meiner eigenen hochentwickelten Welt noch nicht vollständig entdeckt wurde.“

Die drei kehrten zum Landeplatz um und warteten. Nach einer Stunde waren sie endlich in Gegenwarts Heimatstadt gelandet. Eine beträchtlich lange Zeit verging und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildeten eine schöne, starke Gemeinschaft, gegründet aus begabten Schriftstellern, Menschen, die die Gegenwart schätzen und Programmierer, die ein sicheres und  bequemes Leben sichern. Wie gesagt: „Einzeln sind wir Worte, zusammen ein Gedicht.“

Der Aufsatz hat in der nationalen Deutsch-Olympiade den siebten Platz erhalten.