Dialog, Ökumene, Christsein

Ein Gespräch mit Mario Fischer, Generalsekretär der GEKE, anlässlich der neunten GEKE-Vollversammlung in Hermannstadt

Mario Fischer, Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) Foto: Focus Photos Agency

In diesem Jahr tagte auf Einladung der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR) vom 27. August bis 2. September die Vollversammlung der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) zum neunten Mal – diesmal in Hermannstadt/Sibiu. Über 200 Delegierte, 96 Kirchen aus über 30 Ländern Europas und Südamerikas, versammelten sich in der Hermannstädter Stadtpfarrkirche, um die Arbeitsschwerpunkte für die nächsten Jahre festzulegen. ADZ-Redakteurin Aurelia Brecht sprach mit dem Generalsekretär Mario Fischer über Themen, die die Vollversammlung bewegt haben.

Was ist eigentlich die GEKE?

Die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa ist eine Kirchengemeinschaft – das heißt, es haben sich verschiedene Kirchen zusammengetan, feiern miteinander Abendmahl, teilen miteinander die verschiedenen Ämter, erkennen ihre Pfarrerinnen und Pfarrer an. Sie schauen auch, wie sie nach gemeinsamen Standards Pfarrerinnen und Pfarrer ausbilden und sich gemeinsam in die Gesellschaften einbringen wollen. Letztlich ist die GEKE eine Überwindung dessen, dass wir nach der Reformation in der evangelischen Kirche getrennte Wege gegangen sind. Oft denkt man einfach, dass mit der Reformation die katholische und die evangelische Kirche auseinander gegangen sind. Aber es gab verschiedene evangelische Kirchen: Die lutherische Kirche, die reformierte Kirche, und auch die Täufergruppen. Letztlich haben sich die lutherischen und reformierten Zweige über viele Jahre wechselseitig verurteilt und es hat 450 Jahre von der Reformation an gedauert, bis man gemeinsam Abendmahl feiern konnte. Die Gemeinschaft der Kirchen, die gesagt hat, wir verstehen uns gemeinsam als evangelisch, wir überwinden diese Verurteilung – das ist die GEKE in Europa.

Warum treffen Sie sich gerade in Hermannstadt?

Wir treffen uns alle sechs Jahre und sind jetzt nach 50 Jahren bei der neunten Vollversammlung angelangt. Wir gehen immer in eine andere Region und schauen dort die Schwerpunkte an. Die letzte Vollversammlung fand 2018 in Basel statt – dort haben wir anlässlich des 100. Gedenktages des Endes des Ersten Weltkriegs auch eine Erklärung abgegeben. Vielen Delegierten ist dabei aufgefallen, dass sie wenig darüber wussten, was der Erste Weltkrieg für Auswirkungen auf die Region in Südosteuropa hatte und was hier durch die verschiedenen Friedensschlüsse geschehen ist. Deswegen war es naheliegend, hierher zu gehen. Wir sind nicht europaskeptisch, aber wir wollen auch auf andere Perspektiven in Europa hinweisen. Beispielsweise bei der Frage, was Migration bedeutet. Und zwar nicht aus der Sicht – wie man es oft in Brüssel behandelt – der Menschen, die von anderen Kontinenten über Grenzen nach Europa kommen, sondern aus der Perspektive, was es für die Menschen und Länder bedeutet, aus denen die Menschen weggehen. Wo man vor der Situation steht, dass die gut Ausgebildeten oft weg sind und man schauen muss, wie man mit den Leuten arbeiten kann, die noch da sind.

Welche sind die neuesten Entwicklungen in der GEKE in den letzten Jahren?

Früher haben wir uns im Wesentlichen mit theologischen Themen beschäftigt – das war eine akademische Auseinandersetzung und stark auf Professorinnen und Professoren beschränkt. Das hat sich in den vergangenen 20 Jahren so ausgeweitet, dass man immer mehr auf die Ebene der Kirchen, der Kirchenleitung, der Bischöfinnen und der Bischöfe kam und Fragen des europäischen Einigungsprozesses gestellt hat. Heute werden in der GEKE mehr und mehr ethische Fragen behandelt, anhand derer die Kirchen versuchen, voneinander zu lernen.

Wen beeinflusst das Ergebnis dieser Tagung?

Die Rezeption unserer Dokumente ist nie leicht vorhersehbar. Ein Beispiel: Wir hatten 2001 ein Dokument zum Thema „Kirche – Volk – Staat – Nation“ veröffentlicht, in dem die Frage behandelt wurde, wie sich Nationalismus, verschiedenste Formen von Volk und Staat und Sprachgruppen zueinander verhalten. Das Dokument stand jahrzehntelang in den Regalen und wurde kaum genutzt. Als dann der Brexit kam und in Ungarn Viktor Orbán mehr an Macht gewann, hatten wir plötzlich Neuauflagen zu dem Buch. Es wurde angefragt, weil man plötzlich wissen wollte, wie sich Kirchen in Abgrenzung zu anderen Selbstverständnisprozessen oder Europaskepsis neu positionieren können.

Wo schlagen sich Unterschiede zwischen Ost und West im Dialog der GEKE nieder?

Es gab über die Jahre verschiedene Herangehensweisen bei der Behandlung der unterschiedlichsten Themen: Oft war es so, dass die skandinavischen Theologinnen und Theologen immer gesagt haben: Lasst uns mit einer empirischen Studie anfangen. Die Deutschen haben immer gesagt, lasst uns mit einem deutschen Theologen beginnen. Und aus dem Osten kam oft noch: Wir müssen uns auf die Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts stützen. Die Grundfrage ist also zunächst, welche jeweils die Referenzpunkte sind, nach denen man diskutiert. Es ist schon beobachtbar, dass es verschiedene Formen von Säkularisierungsprozessen gibt. Spannungen werden zum Teil neu aufgebaut. Teilweise entsteht jetzt eine Neuform von Osteuropa, die wieder entlang des sogenannten Eisernen Vorhangs läuft. Das ist eine neue Tendenz, die bewusst gefördert wird anhand der Frage, wie man Mitteleuropa neu definiert. Der deutsche Begriff „Mittel-europa“ war über viele Jahre eigentlich das Zeichen, dass sich Länder wie damals die Tschechoslowakei oder Ungarn als Teile des Westens verstanden haben. Es war ein Begriff der Dissidenten, um auszudrücken, dass es sich um Mitteleuropa und nicht den Osten, der mit Kommunismus gleichgesetzt wurde, handelte. Zurzeit sehen wir in der politischen Strömung – bewusst auch aus Ungarn und den sogenannten Visegrad-Staaten – die Tendenz zu sagen: Wir sind das neue Mitteleuropa. Und einen neuen Begriff umzudefinieren, um zu sagen, schaut auf uns und die Form, wie wir Demokratie leben. Dass wir wieder eine illiberale Demokratie aufbauen, das ist eigentlich die Zukunft. Es ist sehr spannend zu sehen, wie verschiedene Begriffe derzeit verschoben werden.

Wie steht man in der GEKE zur Frauenordination?

Die GEKE hat keine klare Position. Als 1973 die Leuenberger Konkordie verabschiedet wurde, haben die Kirchen wechselseitig ihre Ordinationen anerkannt. Damals hat vielleicht die Hälfte der Kirchen Frauen ordiniert. Was aber alle anerkannt haben ist, dass sie die Ordination der anderen anerkennen und damit auch eine Kirche, die sagt, wir ordinieren selbst keine Frauen als Pfarrerinnen. Aber wenn eine Pfarrerin aus einer anderen Kirche kommt, die das macht, dann akzeptieren wir das. Das ist auch keine Frage von „verschiedene Geschwindigkeiten“. Wenn man sagt, hier gibt es verschiedene Geschwindigkeiten, unterstellt man immer schon eine Entwicklungslinie; das ist gefährlich. Nein – jeder darf so sein wie er ist und es kann auch mal andere Richtungen geben.

Wie wurde im Rahmen der Vollversammlung der Ukraine-Krieg diskutiert?

Für uns war klar, wir kommen zusammen in einer Zeit, in der ein Krieg in Europa ist. Für uns war die Frage, wie wir das Thema so besprechen, dass wir Verständnis füreinander entwickeln. Zu fragen, wie die Kirchen leben und nicht pauschal zu sagen, was man zur Versöhnung beitragen kann. Das wäre für viele in der jetzigen Situation ein Schlag ins Gesicht. Sondern zu sagen, was können Kirchen in einer Konfliktsituation tun? Wie können sie leben? Was sind ihre Aufgaben für die Zukunft? So haben wir die Frage gestellt, was wir von Kirchen lernen können, die schon in diesen Situationen waren. Auf dem Podium haben wir Stimmen aus Nordirland und dem ehemaligen Jugoslawien gehört, die uns gezeigt haben, wie groß die Wunden dieser Konflikte bis heute sind. Wenn wir jetzt über Versöhnungsprozesse sprechen, müssen wir uns klar machen, dass dies unsere Kinder und Enkelkinder betrifft. Wir können hier keine schnellen Lösungen anbieten. Nach dem Motto: Ein Ziel, zehn Maßnahmen und dann wird das Problem gelöst sein. Sondern hier müssen wir uns einstellen, dass wir für die nächsten 40, 50 Jahre arbeiten müssen.

Aufgrund des weltweiten Anstiegs des Antisemitismus – welche Rolle spielt das Verhältnis der Kirchen der GEKE zum Judentum?

Diese Frage hat sich die GEKE schon in den neunziger Jahren gestellt. Damals hat man das Papier „Kirche und Israel“ herausgegeben, um zu sagen, dass wir in einer besonderen Beziehung mit Israel als dem erwählten Volk Gottes stehen. Zugleich sind wir in unserem Verständnis als Christen ein Teil davon und mit in die Erwählung hineingenommen worden. Es gab früher mal eine Tendenz – die sogenannte Substitutionstheorie, die besagte, das Judentum habe seine Erwählung verloren und sei zum Christentum übergegangen. Davon hat man sich ab den siebziger Jahren verabschiedet und von der bleibenden Erwählung des Volkes Israel gesprochen. Der Dialog der GEKE zum Thema fand zunächst hauptsächlich im deutschen und im nordamerikanischen Kontext statt – vor allen Dingen vor dem Hintergrund des Holocaust und der Shoah. Es ging immer wieder um die Schuldfrage, um die Shoah und die Frage einer Theologie nach dem Holocaust: Wie können wir damit umgehen, dass Gott nicht gehandelt hat am Judentum? Mit dem Übergang der Diskussion auf die Ebene der GEKE wurde sie aus dem rein deutschen Kontext herausgelöst: Es wurde gefragt, wie es in Italien war, wo Juden und Evangelische über Jahrhunderte die beiden Minderheiten waren, die ausgegrenzt waren. Es hat sich herausgestellt, dass die evangelischen Pfarrer damals ihren Hebräisch-Unterricht von den Rabbinern erhielten. In den Niederlanden haben sich protestantische Kirchen in kleinste Grüppchen zerspalten, waren oft mit jüdischen Gruppen sehr eng und haben eigene Sonderlehren entwickelt. Diese Perspektiven sind weniger sichtbar, wenn man nur die deutsche oder nordamerikanische Perspektive einnimmt.

Wie sehen Sie die evangelische Kirche und das siebenbürgische multikonfessionelle Umfeld in Rumänien?

In Siebenbürgen haben wir eine sehr interessante multikonfessionelle und multikulturelle Mischung. Für mich ist es interessant, dass wir hier eine Region haben, in der man sehen kann, dass die Konfession ein Identitätsmerkmal ist. Wenn jemand sagt, ich bin reformiert, weiß hier jeder, dass er oder sie ungarisch ist. Wenn jemand hier erzählt, dass er zur evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses gehört, weiß jeder, dass diese Person vermutlich Deutsch spricht. Und das ist so in gesamt Südosteuropa.

Wie hat Ihr Engagement in der Ökumene Ihr Christsein verändert?

Mein Christsein ist von Anfang an ökumenisch bestimmt gewesen. Ich war als Evangelischer bei den katholischen Pfadfindern und habe später auch katholische und orthodoxe Theologie studiert. Für mich ist das wichtigste, sich nicht zu schnell auf die Konfession festzulegen, sondern zu fragen, was ist eigentlich gerade richtig? Es ist interessant, dass gerade im ökumenischen Dialog Menschen oft Positionen vertreten, die sie innerhalb der eigenen Gemeinschaft niemals vertreten würden. Michael Weinrich, ein früherer Präsident der GEKE, nennt das das ökumenische Paradox: Wir werden im Dialog zu jemandem, der wir gar nicht sind, weil wir plötzlich unser Etikett wieder annehmen, das wir uns selbst einmal gegeben haben oder das andere uns aufsetzen. Wir verteidigen etwas, was wir innerhalb der eigenen Gruppe nicht verteidigen würden. Da müssen wir einfach ehrlich sein und fragen, was wir wirklich glauben und nicht, was unsere Vorväter und Vormütter an dieser Stelle geglaubt haben und was wir jetzt nur noch verteidigen.