„Die Revolution der Emotionen“

Über die Bedeutung von mentaler Gesundheit und die Notwendigkeit emotionaler Bildung

Bei „Afect“ hat der Engländer Mark Itzler diesen August im Kronstädter Zentralpark einen Trommel- und Gemeinschafts-Kreis abgehalten, um mithilfe von Musik und Zuhören ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. | Foto: Afect

„Wir können Emotionen nicht definieren, wir können viele von ihnen nicht einmal erkennen”, sagt Camelia Clem, Psychologin und Vorsitzende der Stiftung „Hera” in Kronstadt/Brașov. „Wir wissen nicht, dass es eine breite Palette an Emotionen gibt, die wir erleben. Wir erkennen meist nur, wann wir zornig oder traurig sind”. Dabei ist es doch so wichtig zu erkennen, was man fühlt, und zu lernen, mit dem, was im Inneren geschieht, umzugehen, sich im seelischen Gleichgewicht, in einem Zustand des Wohlbefindens zu befinden, der es ermöglicht, alltägliche Aufgaben zu bewältigen. 

Die Grundlage der emotionalen Kompetenz wird bereits bei der Geburt gelegt, sie prägt sich stark in uns ein und wirkt sich auf das ganze Leben aus. Sie wirkt sich auf unsere Fähigkeit zu denken und zu fühlen aus und beeinflusst den Lern- oder Arbeitsprozess. Sie hilft, Beziehungen zu führen und am sozialen Leben der Gesellschaft teilzuhaben. Psychische Gesundheit beeinflusst, ebenso wie die körperliche, unser Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit. Das Gute ist, dass sie ein Leben lang geformt werden kann.

„Mentale Gesundheit ist keine Laune, sie ist ein Muss – für jeden Menschen”, unterstreicht Clem. „Genau wie Mathematik und Rumänisch zu den Grundlagen unserer Entwicklung als Persönlichkeit beitragen, müsste auch emotionale Bildung in der Schule unterrichtet werden. Eine emotionale Alphabetisierung ist nötig”, meint die Fachfrau. 

Achtsamkeit üben

In manchen Ländern wie beispielsweise Frankreich oder Großbritannien gibt es Achtsamkeits-Programme schon im Kindergarten. In Rumänien gibt es eine Privatschule in Bukarest, wo „Mindfulness“ als Fach im Lehrplan steht. Die Kleinen lernen, das, was in ihnen vorgeht, zu erkennen und zu artikulieren, Gefühle voneinander zu differenzieren und deren Intensität zu erfassen. „Mindfulness“ (Achtsamkeit) hilft, zu verstehen, dass auch negative Gefühle zum Leben dazu gehören und dass es Methoden gibt, diese zu bewältigen. Man erfährt, wie man beispielsweise Ängste und Unruhe beruhigt, wie man mit Wut, Traurigkeit und Enttäuschung umgeht. So werden  Selbstvertrauen und emotionale Stabilität gestärkt, Probleme, Stress oder Konfliktsituationen gelassener aufgenommen, Flexibilität bekräftigt. Das sind alles sehr wichtige Fähigkeiten, die den Menschen ein Leben lang begleiten und dessen Handlungen steuern. 

Stigmatisierung und gesellschaftlicher Druck

Nichtsdestotrotz wird sehr wenig über die mentale Gesundheit gesprochen. Meist denkt man, wenn die Rede auf dieses Thema kommt, eher an psychische Erkrankungen. Menschen, die psychische Diagnosen haben, werden immer noch stigmatisiert und diskriminiert. Psychisches Leid wird oft nicht ernst genommen oder gar übersehen. Psychisch kranke Menschen kämpfen nicht nur mit der Erkrankung selbst, sondern auch mit dem Druck, den die Gesellschaft auf sie ausübt, die sie nicht versteht und oft nicht annimmt. Darüber hat die erst kürzlich im Alter von 32 Jahren verstorbene Journalistin Iulia Marin sehr detailliert berichtet. Die Reporterin, die für bedeutende Publikationen wie Adevărul, PressOne, Recorder, Gândul und Libertatea gearbeitet hat, schilderte mehrmals ausführlich, wie ermüdend es sei, ständig so tun zu müssen, als sei man in Ordnung, wenn man es nicht ist. Ihre schwere Depression und bipolare affektive Störung hat ihr Leben sehr stark negativ verändert. „Das ist der wichtigste Grund, weswegen ich mich entschieden habe, über die Diagnose zu schreiben. Weil es wichtig ist, dass sich die Menschen nicht zu verstecken brauchen”, schrieb Marin. Außerdem unterstrich sie, wie wichtig es sei, dass Arbeitgeber Angestellte mit psychischen Krankheiten akzeptieren und arbeiten lassen, weil ihnen das Halt gibt. 

„Ich wäre heute nirgendwo, wenn ich nicht verstanden, zugelassen, angehört und trainiert worden wäre, nicht aufzugeben. Das Schlimmste für einen Menschen, der an einer mentalen Krankheit leidet, ist, nicht darüber zu sprechen”, erklärt Florența Simion von „Hera“. Aber Betroffene reden nicht darüber, weil das Thema tabu ist und weil diese Erkrankungen als Schande angesehen werden. 

13 Prozent der Jugendlichen leiden

„Wenn es um das Thema mentale Gesundheit geht, ist jedes Land ein Entwicklungsland“, sagte UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore. Die Organisation hatte den „Bericht zur Situation der Kinder in der Welt 2021“ veröffentlicht, der zeigt, dass 13 Prozent aller jungen Menschen zwischen zehn und 19 Jahren weltweit mit einer mentalen Krankheit wie Depression und Angststörung leben. Das sind 80 Millionen Jugendliche im Alter von 10 bis 14 Jahren und 86 Millionen im Alter von 15 bis 19 Jahren. Das bedeutet, dass das Wohlbefinden jedes siebenten jungen Menschen beeinträchtigt ist. 

Depression und Angststörungen

In Rumänien gibt es keine Statistik bezüglich der Personen, die an psychischen Erkrankungen leiden. Es besteht auf politischer Ebene offenbar kein Interesse, zu erfahren, welcher der mentale Zustand der Bevölkerung ist. Dabei „kennt jeder von uns jemanden, der Angststörungen oder Depression hat“, sagt Simion. Die große Anzahl an Patienten und an Menschen, deren Seelenheil durch mentales Leid beeinträchtigt wird, hat die Vertreterinnen der Kronstädter Stiftung dazu bewogen, ein Festival für mentale Gesundheit ins Leben zu rufen. „Kronstadt ist geschichtlich gesehen eine revolutionäre Stadt. Deswegen wollen wir, dass eine Revolution der Emotionen in Kronstadt beginnt, die es Leuten bewusst macht, wie wichtig und notwendig emotionale Bildung und mentale Gesundheit eigentlich sind”, sagt Camelia Clem.

Festival mit großem Anklang 

Seit drei Jahren bringt „Hera“ das Thema der mentalen Gesundheit in die Öffentlichkeit. Und zwar direkt in die Mall und in den Park, wo sehr viele Menschen verkehren. Im Rahmen des Festivals „Afect“ (Affekt) ermöglichen sie dem Publikum Treffen mit bekannten Psychologen, Psychiatern, Professoren und Buchautoren. Hunderte Menschen nehmen an einem Wochenende im Sommer an den Veranstaltungen teil und hören oder sprechen über Dinge, über die man gewöhnlich nicht spricht, wie beispielsweise Sucht, Trauma, Angststörungen, Depression. Filmvorführungen, Theateraufführungen, Buchlancierungen oder Workshops dienen als Anlass, über psychische Gesundheit zu sprechen. „Menschen suchen eine Abkürzung, sie wollen ein Rezept, das sie befolgen, das effizient ist und schnell funktioniert, damit es ihnen gut geht”, erklärt die Vizepräsidentin der Stiftung. 

Sie müssen aber lernen, Geduld mit sich zu haben, ihre Emotionen (auch die negativen) zu akzeptieren oder das Weinen zuzulassen. Man sollte Gefühle nicht unterdrücken, jedoch lernen, sie zu erkennen und zu meistern. „Emotion muss gelebt werden. Wenn wir das schaffen, ist sie wie eine Welle – sie kommt und geht. Das Problem taucht dann auf, wenn wir gegen sie kämpfen, weil wir Angst vor ihr haben, weil sie uns fremd ist und uns niemand gelehrt hat, was wir damit machen sollen.”

Bei „Afect“ wird viel geredet, aber es wird auch viel mit dem Körper gearbeitet. Im Rahmen von Workshops übt das zahlreiche Publikum Methoden, Stress abzubauen, Freude zuzulassen oder Gemeinschaft zu erleben. Die meistbesuchten Werkstätten sind die TRE-Workshops, bei denen durch eine Abfolge von Körperübungen neurogenes Zittern hervorgerufen wird. Dieses bringt die Aufmerksamkeit auf den Körper und löst angesammelte muskuläre Anspannung, unterstützt Stressabbau und die Minderung von Angstzuständen. TRE (Tension and Trauma Releasing Exercises) ist gut gegen Muskelverspannungen und Rückenschmerzen, aber auch gegen Wut und Hyperaktivität. Diese Methode ist allerdings als Ergänzung zur klassischen Psychotherapie zu sehen, da ein Fachmann/eine Fachfrau bei der Verarbeitung dessen, was bei den Übungen aufkommt, helfen muss.

Falsche Therapeuten

Psychotherapie und andere Methoden werden in Rumänien immer beliebter. Das erklärt wohl auch die steigende Zahl an falschen Therapeuten und Betreuern (bekannt auch als Coach), die personenzentrierte Beratungsdienstleistungen anbieten. Vor allem leicht verletzliche Menschen wurden so manipuliert, in vielen Fällen telefonisch und für hohe Summen. Die Publikation PressOne hat erst kürzlich eine Investigation diesbezüglich veröffentlicht, die dazu geführt hat, dass der Verband der Psychologen (Colegiul Psihologilor) gegen solche „Heiler“ ermittelt. Florența Simion erklärt, dass Psychotherapeuten auf Empfehlung von Freunden oder Bekannten gewählt werden sollten, denen es infolge der Therapie sichtlich besser geht. Der Patient sollte überprüfen, ob der Arzt im Verband der Psychologen eingeschrieben ist und letztlich, aber nicht weniger wichtig, ob die Chemie zwischen Patient und Fachmann passt. 

Kronstädter können während des Festivals mit ausgebildeten Psychologen über ihre seelischen Probleme sprechen. Dafür wurde ein sogenannter „Psiholoc“ geöffnet, der Einzelgespräche fördert. 

„Afect“ wird aus privaten Mitteln finanziert und ist kostenfrei für alle Teilnehmer. „Das Festival ist ein Tropfen im Ozean“, meint die Vizevorsitzende der Stiftung. Mentale Bildung müsste durch öffentliche Politiken durchgeführt werden. Bis das geschieht, plant „Hera“ weitere Auflagen in Kronstadt und vielleicht auch in anderen Großstädten.

Tipps für ein besseres Leben

Das Internet steckt voller Tipps und Tricks für ein glückliches, sorgloses Leben, das gut für Posts auf Facebook oder Instagram ist. Was rät aber eine Psychologin, die unterstreicht, dass es in Ordnung ist, auch schlechte Tage zu haben, Wut oder Eifersucht zu empfinden, traurig zu sein oder lustlos? Sie rät, mehr auf unseren Körper zu achten, weil dann die Gedanken, die gewöhnlich automatisch aufkommen, schweigen. Bei Bewegung werden Glückshormone ausgeschüttet, sodass sich der Mensch wohl fühlt. Sie empfiehlt die kleinen Dinge, die einem selbst Freude bereiten, ins Leben einzubinden und sich Zeit für sich selbst zu nehmen: ein Spaziergang in der Natur, Tanzen, ein heißes Bad, sind einige Ideen. Zeit mit Freunden und lieben Menschen zu genießen, ist auch wichtig, weil ein tragfähiges soziales Netz hilft, glücklich zu sein. Des Weiteren empfiehlt sie, Atemübungen und Meditation durchzuführen, Achtsamkeit und Dankbarkeit zu üben für alle kleinen Dinge. Entspannung und Ruhe bringen auch regelmäßige Pausen (jede Stunde!),  Schlaf, Musikhören oder Singen, mit einem Kind Spielen oder ein Haustier Kraulen – alles einfache Dinge, die aber sehr viel zählen.

Simion empfiehlt auch, neue Orte zu besichtigen, neue Dinge auszuprobieren, ein Mal die Woche die Zähne mit der anderen Hand zu putzen oder einen ungewohnten Weg zur Arbeit zu gehen. Das führt dazu, dass das Gehirn flexibler in Bezug auf Veränderungen wird. „Psychotherapie ist aber unabdingbar. Das sage ich nicht als Psychotherapeutin, sondern als Kundin, denn mir hat sie das Leben verändert. Therapie lehrt dich, in Kontakt mit dir selbst zu sein und zu bleiben. Und dich nicht zu ernst zu nehmen”.

Unbedingt sollte man ein digitales Detox einführen, weniger Handy und TV-Gerät, weil diese den Kontakt zum Selbst blockieren. „Das Gehirn gewöhnt sich an extrem starke Stimuli. Vor allem für Kinder wird dadurch die Welt ohne diese langweilig. Eine Lösung wäre, dass Erwachsene mit den Kindern zum Fenster hinausblicken. Einfach nur schauen und den Ausblick genießen.”

Die Welt ist hektisch und stressig, man handelt oft wie ein Roboter, erledigt To-Do-Listen, vergräbt sich in Probleme. Dennoch können kleine Änderungen lebensverändernd wirken. „Es ist eine Wahl, wie wir unser Leben führen. Man kann sich ändern, wenn man will“, ermutigt Simion.