Ich lebe mit der Hand auf der Bremse

Geschichte einer geplanten Auswanderung

Geschichten beginnt man mit der Vornote, deswegen muss ich erwähnen, dass ich letztes Jahr als Sprachmittlerin mit rumänischen Migrierten in der deutschen Diaspora gearbeitet habe. Die Leute haben ihren Koffer gepackt, Dinge nebeneinandergereiht, verstaut und wieder ausgepackt und schließlich den Reißverschluss zugezogen. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Sie haben sich in das Auto gesetzt und sind zwanzig Stunden gefahren und auf eine Matratze gefallen, auf dem Linoleumboden einer fremden Wohnung bei irgendeinem Verwandten.

Ana war siebzehn Jahre alt und in der elften Klasse, als im Dezember 1989 dem kommunistischen System ein Ende gemacht wurde, und bald wird sie eine von ihnen sein. Es ist auch nicht entscheidend, wann oder ob sie emigriert, sondern dass sich dieser konkrete Gedanke wie ein roter Faden durch die letzten Jahrzehnte ihres Lebens zieht. Ana ist ein Dorfkind und bei ihrer Großmutter im Banat aufgewachsen, bis ihre Eltern, als sie vier Jahre alt war, eine Wohnung in einem Block kauften. Alle sind in die nächstgrößte Stadt gezogen. Der 70er Jahre Block von Ana in Temeswar/Timișoara ist schattig und neben den dichten Kronen der Laubbäume, den Linden und Rotbuchen legt sich etwas tropisches Dunkles und Schützendes um seine Fassade.    

Die Gegensprechanlage läutet zwei Minuten, ich setze mich auf die Treppe am Eingang und kraule die Hauskatze eines Nachbarn mit knallrotem Halsband hinter den Ohren. Ana ist in den späten Vierzigern und hat schon als alles in ihrem Leben gearbeitet: Verkäuferin, Friseurin, Rezeptionsdame. Mit neununddreißig hat sie die Schule zur medizinischen Assistentin gemacht und vor drei Jahren haben wir uns in einer Pflegeeinrichtung kennengelernt. Ich habe die Nachttische mit Chlorbrühe gesäubert und den Leuten ihre Tabletten unter den Brei gemischt.
Ana sagt, sie wäre schon lange in Deutschland, wenn ihr Vater mit seinen fünfundsiebzig nicht krank wäre. Sie hat viele Verwandte in Deutschland, in Dortmund, Mannheim und Düsseldorf. Ihre Cousine ist in den 90er Jahren migriert, seitdem hört Ana jedes Weihnachten die gleiche Frage: Wann kommst du endlich? Sie lebt mit angezogener Bremse, ihr sind die Hände gebunden und sie wartet darauf, eine Entscheidung zu treffen. Das Aufschieben ist unvermeidlicher Teil des Weggehens. Es ist gut, dass sie die Miete für die Wohnung nicht zahlen muss. Ihr Ehemann wohnt seit vielen Jahren nicht mehr bei ihr, ist sporadisch nach Düsseldorf, hat Deutsch gelernt, schwarzgearbeitet, wurde dort von vorne nach hinten betrogen und arbeitet heute in derselben Stadt als Krankenpfleger für einen Tausender im Monat. Ana erscheint das etwas wenig. Sie verdient hier nur 400 Euro im Monat, weil sie nicht in einem staatlichen Krankenhaus angestellt ist. Da wären die Löhne besser, aber ihr gefällt die Arbeit in einem kleinen Altersheim, wo sie den Leuten mit gutem Gewissen helfen kann.

Vor allem lebt Ana mit dem Telefon am Ohr, ihre Kinder rufen an, ihr Vater, der im Treppenhaus nebenan wohnt, lässt das Handy sturmklingeln. Er vergisst, murmelt sie, früher konnte er für sich sorgen, hat selbst gekocht, den Weihnachtsbraten zubereitet. Er war Koch bei der Armee und als ihm letztes Jahr die Festtagsmahlzeit missglückte, schaute er verwirrt ins Leere. Verstand die Welt nicht mehr. Anas Ehemann Sorin ruft an. Seine Tochter erzählt, dass er ein strenger Mann ist und sie heute mehr reden als früher, während er noch bei ihnen wohnte. Wegen der Corona-Pandemie musste sie ihr Studium in Klausenburg/Cluj-Napoca abbrechen, die Miete war hoch und schließlich möchte auch sie mit ihrer Mutter in die Fremde. So viele Leute, die anwesend sind, ohne da zu sein. 

Ich werde bekocht, man hält mich offensichtlich für gänzlich unfähig, selbst zu wissen, welche Futtermengen ich auf meinen Teller laden kann. Ana brät in riesigen Pfannen, Dampf steigt auf und bleibt zwischen den nassen Blusen an der Decke hängen. Sie seufzt, was sollen wir machen. Seit dreißig Jahren schaut sie zu, was in Rumänien passiert und seit dreißig Jahre denkt sie an das Fortgehen. Ich würde Flucht sagen. Ich würde mich unterbrechen und sagen, dass sie als partizipative EU-Bürgerin migriert. Ich sage am Ende nur, dass es kompliziert ist.

Ich muss an die rumänischen Leute in der Diaspora denken, denen es anders geht. Die immer lieb und blöd lächeln, weil sie nicht verstehen, was in den Behörden passiert und dann 200 Euro von ihrem Gehalt an Verwandte im Heimatland überweisen. Jeden Monat schickt Sorin Geld. Wenn Ana nach Deutschland fährt, setzt sich der materielle Austausch der Migration fort: Telemea, Salam und Kuchen reisen mit ihr. Ich denke daran, wie das ist, wenn man eine Person dreimal täglich anruft, aber nur einmal im Jahr die Hand auf ihren Arm legen kann. Und atmet und die Hand liegen lässt, auf der Haut ruhen lässt, bis sie heiß und klebrig wird und dann zieht man sich auch die Gefühle aus, verstaut sie im Koffer, faltet sie zwischen der Dreckwäsche zusammen und geht.

Wenn ihr Vater noch schwächer wird, dann kann sie ihn tagsüber nicht mehr allein lassen. Dann muss sie entweder jemanden finden, der ihn pflegt oder ein privates Altersheim finden. Dafür reicht die Rente nicht. Ana würde ihren Job kündigen und anfangen, in einem staatlichen Krankenhaus zu arbeiten, wo sie das Doppelte verdient. Sie streicht sich aufgewühlt eine rot gefärbte Locke aus dem Gesicht und erzählt, wie einfach es in Deutschland ist. Dass man den Vater nur anmelden und krankenversichern müsste, und dann würde er jede Hilfe bekommen. Eine dünne AOK-Karte aus Plastik und fertig. Wie sie die Lage seziert, klingt es nicht verbittert, nur ausgelaugt. Manche Leute sagen Arbeitsmigration. Ich denke, diese Leute haben nichts verstanden.

Für Ana ist die Migration zwangsläufig, irgendwann hat sie die Weichen gestellt und ihre Verwandten in den Zug gesetzt. Andere gehen weniger gut vorbereitet, denken die Geschichte nicht von hinten nach vorne. Sind nie aus ihrem Dorf herausgekommen. Ana lässt sich nicht entmutigen, sie ist dünn, klein und zäh, aber ihre Gesichtszüge und der blaue Lidschatten verleihen ihren Zügen etwas Weiches, beinahe Eulenhaftes. Irgendwann fliegt sie los, da bin ich sicher. Sie kann nicht anders. Und auch wenn dieser Migration viel Verzweiflung vorauseilt, kann der Außenstehende nicht anders, als angesichts dieser Konsequenz, die nichts anderes zu sein scheint, als sein Leben in die eigene Hand zu nehmen, überrascht zu blinzeln.