Im Blindflug durch die Klimakrise

Kein Szenario für den Extremfall: Wie gefährlich ist unsere Zuversicht?

Als dieser Artikel entstand wüteten in Kanada 79 Waldbrände. Symbolfoto: Pixabay

Es gibt drei Arten, mit diffusen Bedrohungen umzugehen: 1. Sie zu negieren oder herunterzuspielen. 2. Sie zu dramatisieren und sich als Opfer darzustellen, um auf einen Retter von „außen” oder „oben” zu hoffen  - oder 3. die aufkeimende Panik in einen Energieschub zu transformieren, um gemeinsam den Notfall abzuwenden. Alle drei funktionieren nicht bei der Klimakrise: Negiert wurde viel zu lange; als Opfer wird uns niemand retten kommen – woher auch? –  und für das kollektive Anpacken ist es schon zu spät, die Uhren lassen sich nicht mehr zurückdrehen, meint nicht nur der britische Klimaforscher Bill Mc Guire in seinem Buch „Hothouse Earth”... 

Es gibt aber noch eine vierte Variante: Der Gefahr endlich offen ins Auge blicken und sich fragen, wie das schlimmste aller Szenarien aussehen könnte - und wie wahrscheinlich es wäre. Wenn man weiß, was um jeden Preis vermieden werden muss, kann man versuchen, zumindest eine weniger schlimme Variante anzustreben, die einem zuvor noch unakzeptabel schien. Doch dies erfordert Offenheit –  und Mut!

Statt dessen stecken die meisten Menschen – einschließlich Politiker und Wissenschaftler – lieber den Kopf in den Sand. Wie der Teufel vor dem Weihwasser scheut man sich, offen zuzugeben, dass der Klimawandel viel schneller und viel heftiger vonstatten geht als eingangs prognostiziert. Noch immer wird vorgegeben, die 1 bis 1,5 Grad Celsius Erderwärmung bis irgendwann verhindern zu wollen, wo sich die Welt bei derzeitigem Emissionsverhalten auf eine deutlich größere Ziffer zubewegt. Zurecht bemängeln einige Stimmen, dass es keine einzige wissenschaftliche Studie gibt, die abschätzen lässt, wie wahrscheinlich das Worst Case Szenario sein könnte: dass alles zusammenbricht, was die moderne menschliche Zivilisation heute ausmacht.  

Täuschende Zuversicht

Als ich vor Jahren in Rumänien aufs Land zog, beindruckte mich die Tatsache, dass hier noch ein Wissen existiert, welches ein Überleben ganz ohne moderne Infrastruktur ermöglicht. Nicht primitiv schien mir dieses Landleben, sondern genial, weil die Menschen  noch in der Lage sind, sich mit kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft völlig eigenständig zu versorgen. Notfalls auch ohne Fließwasser und Strom. Für den Winter füllen sie den Keller mit Eingemachtem und Eingelagertem, von Äpfeln, Karotten, Kartoffeln über das Sauerkrautfass und andere, nur mit Salz milchsauer vergorene Gemüse, mit Marmeladen, hausgemachten Würsten und Speck, ja sogar mit Milchprodukten wie Käse in Salzlake oder Joghurt mit einer dicken, schützenden Fettschicht darauf. Im hintersten Karpatenwinkel ist man tatsächlich sicher, dachte ich damals, selbst wenn im Falle eines großen Blackouts in den Millionenmetropolen der Strom ausgeht, die Leute in den Liften steckenbleiben und einfachste Dinge wie Klospülungen nicht mehr funktionieren. Ein Garten, ein Brunnen, ein paar Hühner und Ziegen... Ein unbequemes, hartes Leben wie im Mittelalter oder gar in der Jungsteinzeit - aber immerhin: überleben. 

Das war mein erster Gedanke. Dann kam der zweite: Wer hilft einem, das alles zu verteidigen, wenn hungrige Städter aus ihren obsolet gewordenen hochtechnisierten Infrastrukturen fliehen und in Horden zu Raubzügen in den Dörfern einfallen? Wer stellt die notwendigen Gegenstände für ein solches Leben her, wenn die industriellen Produkte aufgebraucht sind, sprich, wer töpfert, gerbt, spinnt oder schmiedet? Fazit: Wir sind nicht mehr in der Lage, so wie früher zu leben. Wir können es nicht mehr organisieren. Die Fähigkeit ist uns abhanden gekommen und die Strukturen, um Recht und Ordnung zu schaffen, ebenso. Keine Rede also von Rückkehr ins Mittelalter. Chaos und Anarchie wären die Folge, wenn irgendeine Katastrophe unsere gewohnte globale Infrastruktur zerstören würde. Wäre diese Katastrophe der Klimawandel, käme noch hinzu, dass Stürme, Wüstenbildung, Land-einbrüche durch tauenden Permafrost oder Vereisung die Landwirtschaft in vielen Regionen der Welt kompromittieren würde...

Guterres: „Kollektiver Suizid“

Macht es Sinn, solche  Gedanken zu denken? Oder ist es nur ein grausames Spiel mit der Angst? Warnende Stimmen dazu gibt es: UN-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnete das Verhalten der Menschheit in Bezug auf die Klimakrise auf der Klimakonferenz 2022 in Berlin als „kollektiven Suizid”. Dennoch scheint die Mahnung an den Ohren der meisten Menschen immer noch vorbeizugehen. Viel-leicht, weil man dazu neigt, zu glauben, irgendwie wird es schon weitergehen. Oder zu hoffen, dass eine rettende wissenschaftliche Lösung wie ein Schachtelmännchen aus der Kiste springt:  Geoengineering nennt sich die Disziplin, die mit Ideen wie Spiegeln im All, einer künstlichen Atmosphäre mit lichtreflektierenden Schwefelgaspartikeln und Aerosolen oder Technologien, die CO2 aus der Luft extrahieren und binden, Hoffnung machen soll. Doch der Weltklimarat warnt vor solchen Eingriffen, selbst im Experimentierstadium. Noch verstehen wir das Gesamtphänomen Klima viel zu wenig, um negative Auswirkungen – etwa auf Meeresströmungen, das Polareis oder den Monsun - ausschließen zu können. Unklar sei außerdem, ob solche Modelle überhaupt funktionieren. Die beste Variante sei nach wie vor die Umstellung auf emissionsfreie Energien, der Totalverzicht auf fossile Brennstoffe wie Kohle, Erdöl, Gas.

Gefahr der Extinktion zu wenig erforscht

Die Wissenschaft ist sich inzwischen ziemlich einig, was die Ursache des Klimawandels betrifft: der Mensch. Nur, dass die Masse der Menschen dies einen feuchten Kehricht kümmert. Während in Kanada gerade 79 aktive Waldbrände wüten, lässt man hierzulande den Motor im Auto  laufen, während man schnell etwas erledigt, damit es innen schön kühl bleibt. Woher trotz aller Hiobsbotschaften diese krasse Ignoranz? Oder: naive Zuversicht? Aber: Wurden wir nicht ein Leben lang konditioniert, so zu denken? Zu jeder drohenden Katastrophe gab es bisher immer eine Lösung. Unser Unterbewusstsein reagiert nicht auf existenzbedrohende Gefahren, weil wir sie nicht wirklich für möglich halten. 

So nimmt es kein Wunder, dass die Gefahr einer Auslöschung der menschlichen Zivilisation durch globale Erderwärmung viel zu wenig erforscht ist, wie eine in der Zeitschrift der amerikanischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichte Studie bereits 2022 anprangerte. Die Autoren warnten, dass bei einer Erderwärmung von über drei Grad Celsius „bis 2070 soziale und politische Folgen direkten Einfluss auf die beiden nuklearen Supermächte und die sieben Hochisolations-Laboratorien mit gefährlichen pathogenen Erregern  haben werden”. Sie fordern, dass sich Wissenschaftler und die UNO endlich mit dem Risiko solch katastrophaler Entwicklungen auseinandersetzen. Bis jetzt würden Versuche, dramatische Entwicklungen zu verstehen, nur in populärwissenschaftlichen Büchern unternommen, z.B. „The Uninhabitable Earth” von David Wallace-Wells (2017). Darin heißt es z.B.: Wenn die Feuchtkugeltemperatur 31 Grad überschreitet, wird körperliche Arbeit lebensgefährlich. Als Feuchtkugeltemperatur  bezeichnet man die niedrigste Temperatur, die durch Verdunstungskühlung erreicht werden kann. Sie hängt stark von der Luftfeuchtigkeit ab – je höher diese ausfällt, desto niedrigere Außentemperaturen führen dazu, dass Schwitzen den Körper nicht mehr abkühlt. Dann droht der Hitzetod. Bei 100% Luftfeuchtigkeit entspricht die Feuchtkugeltemperatur der Außentemperatur. 

Studien zeigten, dass eine Feuchtkugeltemperatur von 31 Grad bei gesunden jungen Menschen im Schatten bereits kritisch wird. Bisher überschritten die Feuchtkugeltemperaturen jedoch selten die 30 Grad Marke, wie etwa im Juli 2023 in Delhi. In Pakistan und Indien, vor allem entlang der Flüsse Indus und Ganges, wo Millionen Menschen leben, könnten jedoch bis zur Jahrhundertwende tödliche Feuchtkugeltemperaturen auftreten, so ein Artikel der APA von 2022. 

„Desaströse Auswirkungen“ bis 2070 möglich

Wetter.de zitiert im April 2024 eine Studie des University College London: „Selbst wenn der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur bei knapp unter zwei Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit bliebe, würde die Zahl der Hitzetoten bis zur Mitte des Jahrhunderts um 370 Prozent steigen.” Die Wissenschaft befasst sich derzeit lediglich mit den Auswirkungen einer mittleren globalen Erwärmung von über 1,5 oder 2 Grad Celsius – und kommt zu dem vagen Schluss, dass den Wirtschaftssystemen dann „große Herausforderungen” bevorstehen. Ab wann ein Zusammenbruch droht, war bisher nicht Gegenstand der Forschung.  

Die Versuche, einzuschätzen, was bei einer Erderwärmung von über 3 Grad passiert, seien „völlig unzureichend im Vergleich zur Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines solchen Szenarios”, kritisiert Dr. Luke Kemp von der Universität Cambridge in Großbritannien, Leiter der obengenannten amerikanischen Studie. Sein Ko-Autor Chi Xu von der Universität Nanjing in China hält solche „desaströsen Auswirkungen” bis 2070 für möglich.  Noch 46 Jahre - das wird so mancher Leser dieser Zeilen erleben!

Die Studie verweist auch darauf, dass sekundäre Effekte der Erderwärmung viel zu wenig untersucht werden: Lebensmittelkrisen, finanzielle Krisen, bewaffnete Konflikte oder Krankheitsherde. Dasselbe gilt für Mechanismen, die eine sprunghafte weitere Temperaturerhöhung auslösen können, etwa durch die Emissionen von Methan aus dem auftauenden Permafrost oder wenn die Wälder beginnen, Kohlenstoff freizusetzen statt zu absorbieren.

Die Wissenschaft muss wachrütteln!

Inzwischen erleben wir fast täglich neue Rekorde. Sonntag, der 21. Juli 2024, war laut Wetterwarnsystem Copernicus der heißeste Tag der Weltgeschichte. Schon der darauffolgende Montag brach diesen Rekord. „Wahrhaft überwältigend aber ist die große Differenz zwischen den Temperaturen von diesem und den früheren Rekorden”, sagt Copernicus-Direktor Carlo Buontempo. Und mahnt: „Wir befinden uns bereits auf unergründetem Territorium, was die Erderwärmung betrifft...” 

Wer dem Drachen ins Auge blickt, statt seine Existenz zu ignorieren oder zu hoffen, dass er vielleicht doch gnädiger als erwartet sein wird, kann ihn vielleicht nicht töten. Aber behindern, verzögern, Ausweichmanöver planen. Andererseits könnten vor Augen geführte Endzeitszenarien die Politik und die Bevölkerung eher davon überzeugen, die Bedrohung des Klimawandels ernster zu nehmen und die Maßnahmen zu unterstützen.  „Wir müssen erkennen, wie schlimm die Dinge stehen, um die globale Katastrophe zu verhindern”, sagte Mc Guire im Juli 2022 zu The Guardian. „Rückgängig machen lässt sich der Klimawandel nicht. Stürme, Überschwemmungen, Dürre und Hitzewellen werden die derzeitigen Extremwerte bald übersteigen. Wir müssen uns auf eine Zukunft einstellen, in der tödliche Hitzewellen und Temperaturen über 50 Grad Celsius in den Tropen normal sind. Aber auch in den gemäßigten Breiten werden die Sommer back-ofenheiß und die Ozeane warm und sauer.” 

Der ehemalige Berater der britischen Regierung gab damals zu, dass er als extreme Stimme gilt. Während die meisten Klimaexperten behaupten, es gäbe immer noch ein kleines Zeitfenster, um die Treibhausemissionen signifikant zu reduzieren, wies Mc Guire dies kategorisch zurück. „Ich kenne eine Menge Leute in der Klimaforschung die das eine in der Öffentlichkeit und das andere in privatem Umfeld sagen.”

Klimaexperte mit „Heidenangst”

 Im März 2024 warnt der emeritierte Professor in der Schweizer Zeitung „Blick”: „Wir erleben zu unseren Lebzeiten eine Erwärmung, die in den letzten 4,6 Milliarden Jahren wahrscheinlich einzigartig ist.” Und: Er sei wütend - auf uns alle! Wem der Klimawandel keine Angst mache, der habe nichts verstanden.  Die Lösung: sich zusammenschließen und vernetzen, nur als Gemeinschaft könne man noch etwas bewirken. Politik und Wirtschaft hätten versagt. Darum müsse die Wissenschaft die Öffentlichkeit jetzt wachrütteln und die ungeschönte Wahrheit aussprechen. „Was mit unserer Welt geschieht”, gesteht McGuire , „macht mir eine Heidenangst!”