„Ins lebende Fleisch geschnitten“

Warum es im Skandal um den Abriss der Matache-Halle um weit mehr als Denkmalschutz geht

Architekt Şerban Sturdza kämpft für Transparenz und Menschlichkeit bei der Stadtplanung.

Verlassen und verwahrlost - das Matache-Viertel

Ausgeschlachtetes Haus hinter der abgerissenen Halle
Fotos: George Dumitriu

Fotos 4-8: Abriss und Abtransport der Matache Halle Fotos: Archiv Pro Patrimonio

Am 25. März 2013 verschwand bei Nacht und Nebel ein historisches Gebäude von der Bildfläche der Hauptstadt. Eilig wurden die Trümmer entsorgt, die wertvolle metallene Dachkonstruktion brutal mit der Flex in Stücke geschnitten, dann abtransportiert auf zwei Lastwägen zu einem Lager in der Giurgiu-Chaussee. Der Wagen, der ihnen trotz Unwetter und später Stunde gefolgt war, blieb dort vor verschlossenen Toren. Hier ließ man den unliebsamen Störenfried, der im Rahmen der Vereinigung der freiwilligen Architekten (mit über 30 Architekten, Stadtplanern, Statikern, Verkehrsingenieuren, ja sogar Kunstkritikern und Soziologen) seit drei Jahren das Schicksal der Matache-Halle verfolgt und dabei allerlei kollaterale Missstände aufzeigte, natürlich nicht hinein. Es handelt sich um den Vizepräsidenten des Architektenordens(OAR) und Präsidenten der NGO Pro Patrimonio, Şerban Sturdza.

„Wer hat Angst vor dem Matache-Viertel?“ so lautet der bezeichnende Titel des von Pro Patrimonio herausgegebenen Buches, das sich nicht nur mit der Aufarbeitung der Geschehnisse um die Matache-Halle, sondern dem Schicksal des ganzen Stadtviertels befasst. Denn tatsächlich geht es nicht nur um den Abriss des alten Gemäuers, nicht nur darum, dass man dem Bukarester Rathaus systematische Täuschung, Regelverstöße und unwürdige Missachtung der Bedürfnisse der betroffenen Bewohner des Viertels vorwirft, mit dem offensichtlichen Ziel, ein  Stadtplanungsprojekt ohne öffentliche Diskussionen und Rücksicht auf Kollateralschäden durchzudrücken. Nach diesen Plänen soll das Viertel mitsamt seinen historischen Monumenten einer neuen Hauptverkehrsader, Buzeşti-Berzei, geopfert werden, die das eingewachsene sozial-ökonomische Netz rund um die Matache-Halle als kommerzielles Zentrum brutal zerschneidet. Noch mehr Betonflächen also, noch mehr Autos, noch mehr moderne Hochhäuser, Glaspaläste und Blocks. Eine Entmenschlichung der Stadt, in der „Gott Auto“ an erster Stelle steht. Dem allgemeinen europäischen Trend zu einem gesunden Gleichgewicht zwischen Mensch und Infrastruktur steht dies diametral entgegen.

„Wir wissen, dass das Gebiet Matache - Nordbahnhof ein armes mit sozialen Problemen ist“ schreibt Mirela Duculescu im Vorwort des Buches. „Wir glauben aber nicht, dass die chirurgische Entfernung durch Abriss, Asphaltieren und Zupflastern mit Blocks eine Lösung ist. Wie wäre es statt dessen, wenn die Veränderung des Viertels einem Gleichgewicht zwischen Auto und Mensch Rechnung tragen würde? Wie wäre es, wenn die Menschen lernen würden zu sagen, was sie sich für ihr Viertel und ihre Stadt wünschen?“

„Ich habe im Prinzip nichts gegen die Straße“, stellt Şerban Sturdza im Gespräch klar. Nur die rücksichtslose Vorgehensweise zum Durchsetzen eines einzigen, in vielerlei Hinsicht fehlerhaften Konzepts stößt ihm übel auf. Zumal es bessere Alternativen hätte geben können, wäre das vom Katheder der Universität „Ion Mincu“ geplante Projekt wenigstens in einem Wettbewerb ausgeschrieben worden. Um dem Argument der Gegner entgegenzuwirken, nur zu kritisieren und nichts Konstruktives beizutragen, brachte Pro Patrimonio das vorliegende Buch heraus. Neben alternativen Vorschlägen zu einer Gestaltung der Zone ist es auch dazu gedacht, die Öffentlichkeit zu informieren und zu sensibilisieren.

Enteignet, geplündert, demoliert... doch das Kulturministerium schweigt

Um die Vorwürfe des Architekten zu verstehen, beleuchten wir kurz die Geschichte der Matache-Halle als Gravitationszentrum der bisherigen Geschehnisse. Ende 2010 wurde die 1887 erbaute, nach dem Fleischer Matache Loloescu benannte Markthalle – die einzige im 21. Jahrhundert noch funktionierende aus dem 19. Jahrhundert – im Hinblick auf das Straßenbauprojekt Boulevard Uranus enteignet und der Besitzer zur Räumung gezwungen. In der Stadtzonenplanung (PUZ) vom April 2011 sah das Rathaus ihre Demolierung vor. Auf der Basis fehlender Genehmigungen konnte der Plan jedoch von der NGO Salvaţi Bucureştiul gerichtlich angefochten werden. Im Sommer 2011 versprach das Rathaus, um das Bauprojekt endlich vorantreiben zu können, die Halle an Ort und Stelle zu belassen, zu restaurieren und in den kulturellen und touristischen Kreislauf der Stadt einzubinden.
Die verlassene Halle wurde jedoch monatelang ungesichert stehen gelassen und bis November 2011 so stark geschädigt, dass ihr Einsturz drohte. Erst dann wurde sie auf Veranlassung des Rathauses verschlossen, doch nach wie vor konnten Diebe eindringen und stahlen Baumaterial, wertvolle Fassaden- und Metallteile.

Im September 2012 kündigte Bürgermeister Oprescu plötzlich trotz des mit Salvaţi Bucureştiul unterzeichneten Vertrags zur Belassung der Halle und entsprechenden offiziellen Erklärungen an, diese um 37 Meter „versetzen“ zu wollen. Im Falle eines historischen Monuments ein klarer Verstoß gegen nationales und internationales Recht. Am 25. März 2013, als die öffentliche Debatte des neuen Stadtplans im Rathaus noch in vollem Gange war, wurden in einer stürmischen Nacht plötzlich Fakten geschaffen: die Matache-Halle wurde überstürzt abgerissen, ohne die üblichen Sichtungen historisch bedeutenden Materials, das beim Abtragen hätte zutage treten können. Warum diese Eile? „Der öffentliche Druck war zu groß geworden“, erläutert Şerban Sturdza. „Auf diese Weise wollte man den unauflösbaren Gordischen Knoten einfach zerschlagen.“

Tatsächlich gab es viele Argumente, die für eine Instandsetzung des Bauwerks an Ort und Stelle gesprochen hätten. Pro Patrimonio hatte sie am 15. Januar 2013 in einem an das Kulturministerium gerichteten (bis heute unbeantworteten) Brief zusammengefasst:

-Die Halle hätte bewahrt werden können, ohne das geplante Straßenprofil zu beeinträchtigen.
-Die Halle sei ein historisches Unikat mit kultureller, sozialer, finanzieller und touristischer Bedeutung und in ihrer Funktion ein notwendiges Element für die soziale Kohäsion des gesamten Viertels.
-Der ökonomische Wert der Halle ist größer am ursprünglichen Ort. Der für die Versetzung vorgesehene Ort ist zudem von anderen Gebäuden belegt, die unnötigerweise abgerissen werden müssten.
-Das Gebäude befand sich in einem reparaturfähigen Zustand. Die Kosten für die Instandsetzung wären weit geringer als die einer Versetzung. Das Kellergewölbe aus Ziegeln oder die metallene Dachkonstruktion könnten nicht ohne substanzielle Verluste demontiert werden.
-Die Versetzung eines historischen Monuments ist nach nationalem und internationalem Recht illegal (Art. 4/Gesetz 422/2001, Art. 5/Gesetz 157/1997 und Art. 7/Konvention von Venedig 1964); die Matache-Halle stellt keinen „extremen Notfall“ im Sinne der Legislation dar.
-Bei der „Rekonstruktion“ eines historischen Monumentes handelt es sich de facto um eine Fälschung.
-Ein gewachsenes Stadtbild benötigt die Vielfalt aus alten und neuen Gebäuden.

Aus dem Ministerium kam hierzu nie eine Reaktion. Statt dessen wurde hingenommen, dass die Liste der zum Kulturerbe zählenden Monumente stillschweigend ausgedünnt wurde. Einige wurden von der Denkmalliste gestrichen, andere schon demoliert, bevor der Prozess abgeschlossen war. „Der Skandal besteht darin, dass die Stadt so etwas nicht entscheiden kann“, moniert Şerban Sturdza. „Kulturerbe gehört allen. Man darf es nicht ohne wissenschaftlich fundierte Analyse einfach umdeklarieren.“ Im Falle der Matache-Halle hatte man tatsächlich eine solche Studie beantragt. Leider ging der Schuss total nach hinten los: Statt Abriss empfahlen die Experten, das Monument von Kategorie B auf Kategorie A hochzustufen!

Durch den Abriss waren nun – Rechtslage hin oder her – irreversible Fakten geschaffen worden. Theoretisch bleibt die Option der Versetzung, doch praktisch ist dies eine Farce. Denn „wer dabei an fachkundige Zerlegung und Verwendung der originalen Materialien denkt, wie bei einigen Kirchen in Bukarest zur Ceauşescu-Zeit oder beim Tempel von Abu Simbel in Ägyten geschehen, irrt gewaltig“, gibt Sturdza zu bedenken. Schon deswegen interessierte ihn der Abtransport der Dachkonstruktion, die nun verbogen und zersägt in einem Depot liegt. Es sei zu bezweifeln, dass man sie überhaupt noch verwenden kann, rügt der Architekt. „Die neue Matache-Halle wird eine Fälschung sein, von Kulturdenkmal keine Spur!“

Illegal, unmenschlich und entgegen der europäischen Praxis

Wer glaubt, die NGO würden nun schweigen, weil die Halle verloren und den Bauplänen nichts mehr im Wege steht, hat sich gewaltig geirrt. Wie stinkende Gasblasen blubbern weitere Missstände an die Oberfläche der Öffentlichkeit: Enteignungen im Winter 2012, per Gesetz in dieser Jahreszeit verboten, wie Sturdza erklärt. Innerhalb von 72 Stunden mussten die Bewohner ihre Wohnungen räumen. Wohin mit dem Zeug in der kurzen Zeit? So mancher hat sein gesamtes Hab und Gut verloren. Klagen zwecklos, denn das Gesetz bietet zwei Varianten an: Entweder man akzeptiert das angebotene Geld, oder man geht vor Gericht und verliert diesen Anspruch. „Manche wurden an den Rand von Bukarest umgesiedelt“, weiß der Architekt. Viele haben ihren Arbeitsplatz verloren. Er erzählt von einem Restaurant neben der Halle, dem nun die Pleite droht. Ein ganzes Viertel ist hier einst zum Markt gegangen. Heute gähnen verlassene Ruinen mit offenen Mündern voller Müll. Einsame Hunde durchstöbern sie auf der Suche nach Essbarem. Auf dem Asphalt liegt ein zerbrochener Engel, von einer Fassade gestürzt...

Weitere Enteignungen sind vorauszusehen. In der Nähe des Boulevards Buzeşti-Berzei sollen nach dem neuen PUZ auf ca. 8000 Quadratmetern Neubauten entstehen. Wer bauen will, muss jedoch mindesten 800 Quadratmeter haben, verlangt auf einmal die Stadt. Die Grundstücke, die verschiedenen Besitzern gehören, sind natürlich alle kleiner. Immobilienhaie lecken sich sicher schon die Lefzen.
„Wie ein Reißverschluss wird der gigantische Boulevard die Stadt durchtrennen“, sinniert Sturdza. Mehrspurige Fahrbahnen, gesäumt von hochmodernen Fassaden. „Dahinter beginnt das Leben zweiter Klasse, das keiner sehen soll.“ „Sie haben ins lebende Fleisch geschnitten“, klagt er die Stadtplaner an. Die europäische Praxis hingegen hat sich nach vielen Fehlschlägen in eine ganz andere Richtung entwickelt. Umstrukturierungen eines Viertels dürfen nicht mit menschlichen Verlusten einhergehen.
„Enteignete mit sozialen Problemen sammeln sich am Stadtrand an. Doch irgendwann wird der soziale Druck dort zu groß. Dann besteht Explosionsgefahr“, befürchtet Sturdza.

Der Kampf geht weiter

Selbst jetzt geben sich die freiwilligen Architekten nicht geschlagen. Ein Infozentrum für die Bürger möchten sie gründen, in einem alten Kino im Matache-Viertel. „Das Viertel soll regeneriert werden, auch wenn die Markthalle verloren ist“, hofft Sturdza und fügt an: „Doch die Leute sind verängstigt. Nur wenn es ihnen gelingt, starke Beziehungen mit der NGO aufzubauen, ist eine Rettung möglich.“
Inzwischen geht es darum, bis dahin das Überleben der Verbliebenen zu sichern. Die freiwilligen Architekten bestellen Essen aus dem kleinen Restaurant, damit dort nicht weitere Leute entlassen werden müssen. Salvaţi Bucureştiul hat die Klage gegen das Rathaus wieder aufgenommen. Das Buch, das bald in englischer Sprache erscheinen soll, hält geduldig Lösungen bereit. Für diejenigen, die sich dafür interessieren, wie die Alternative zum Boulevard Buzeşti-Berzei aussehen könnte – mit Radwegen, Fußgängerzonen und Parks. Oder für diejenigen in Europa, die wissen wollen, was in Bukarest überhaupt geschieht. „Das Spiel ist erst gewonnen, wenn die gegnerische Mannschaft im Bus sitzt“, sagt ein Fußballsprichwort. Manch-mal gibt es ja ein Tor in allerletzter Minute...

Das Buch zum Thema: „Cui i-e frică de cartierul Matache?“ ISBN 978-973-0-32245-9, Pro Patrimonio, Bukarest 2012