Liebe nach Maß

Man lese zuvor Lukas 7,36-50, um das Folgende zu verstehen, das ohne die Autorität Christi keinen Sinn hätte. Hier ist von Liebe die Rede, von Liebe zwischen Menschen und von Liebe zwischen Mensch und Gott. Unser Heiland belehrt den Pharisäer Simon anhand eines Gleichnisses, was es mit der Liebe zwischen Menschen auf sich hat, und anhand der gegebenen Situation, wie die Liebe zwischen Mensch und Gott funktioniert. Auch wir, ganz gleich in wessen Nachfolge wir stehen – des Pharisäers, des Gläubigers, der Schuldner oder der Sünderin –, auch wir sollten uns von Jesus belehren lassen.

Im Gleichnis sagt uns der Herr, dass es in der Liebe Abstufungen gibt, von wenig bis viel, abhängig vom Umfang des Komforttransfers in die eine und die andere Richtung. Es ist doch sehr komfortabel, d.h. behaglich und tröstlich, zu erfahren, dass einem die Schuld erlassen ist, dass einem die Sünden vergeben sind. Solche Wunder wecken Gefühle, wecken die Liebe, die in uns schlummert. Hier lüftet Jesus ein großes Geheimnis, indem er Antwort gibt auf die Fragen: Wie kommt es, dass wir diese und jene Menschen lieben? Wie kommt es, dass wir Gott lieben? Weil sie uns wohltun, sagt er, weil sie uns das geben, was uns fehlt, weil sie gerechte Ordnungen durchbrechen, um an uns Barmherzigkeit zu üben.

Dass die Intensität der Liebe in direktem Verhältnis steht zu den erfahrenen Wohltaten, bzw. dem geleisteten Gehorsam, ist für Romantiker schwer hinnehmbar, denn sie haben es gern, die Liebe, vor allem die Liebe Gottes zu den Menschen, als einen seligen, obligaten Zustand zu betrachten, der frei ist von Erwartungen, Erfüllungen und Mitleid. Aber dem ist nicht so. Jesus offenbart uns, dass die Liebe in Begleitung dieser drei Satelliten auftritt: Erwartung, Erfüllung und Mitleid. Im Gleichnis leiht der Gläubiger zweien seiner Mitmenschen Geld und  erwartet Rückzahlung. Als seine Erwartung nicht erfüllt werden kann, zeigt sich seine Liebe als Mitleid. Das ist bei Gott genau so. Die erfahrene Barmherzigkeit weckt in den Schuldnern bzw. den Sündern ebenfalls Liebe; bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger.

So ist es auch zwischen Jesus, dem wahren Gott, und der Sünderin: Diese war von Gott ausgestattet mit Schönheit, Anmut und Liebreiz, sie hatte aber ihre Begabungen falsch eingesetzt und viele Sünden auf sich geladen. Ihr erwachtes Gewissen bewegt sie zur Buße und die Kunde vom Sohn Gottes sowie ihre Hoffnung und ihr Glaube an die Möglichkeit der Vergebung bringen sie zu Jesus. Es kommt zu Tränen, Küssen und zarten Berührungen, so wie sie es eben gewohnt war, ihre Liebe auszudrücken. Sie tut das öffentlich, ohne sich zu schämen und Jesus lässt es geschehen, macht es sogar zum Anschauungsmaterial seiner Belehrung an Simon, ohne dass es ihm peinlich wäre. Davon kann man lernen.

Es ist erhellend, zu erfahren, dass dort, wo Hoffnung und Glaube den Menschen leiten, die Liebe sich auch einstellt: Die Sünderin äußert ihre Liebe, ehe ihr vergeben wurde, und sie wird nicht enttäuscht, denn Gott ist treu. Darum sollte ein Christ, der an Gott glaubt, seiner Liebe zu ihm durch Gehorsam und Nächstenliebe Ausdruck verleihen, ehe er eine Menge Sünden angehäuft hat, die nach Gerechtigkeit und Barmherzigkeit schreien. Denn der himmlische Vater kann nicht bloß Unrecht vergeben, er kann seine Lieblinge auch davor bewahren, so dass sie nicht als Sünder vor ihm im Staub liegen müssen, sondern erhobenen Hauptes und Herzens mit Freude seinem Erscheinen entgegensehen können. Amen.