„Mich interessiert zuvorderst, ob mein Gegenüber Charakter hat“

Vier Fragen an Remus Cernea, Präsidentschafts-Kandidat für 2024

Die westlich-demokratische Welt sollte sich auf ihren Selbstschutz konzentrieren und ihren Expansionskurs aufgeben, gab Rumäniens Ex-Außenminister Teodor Baconschi 2021 in der „Dilema Veche“ zu interpretieren. Remus Cernea jedoch rechnet damit, dass die demokratische Welt des Westens räumlich weiter wachsen wird. | Foto: privat

Mitte Januar 2022 hat Remus Cernea (Jahrgang 1974) um „Audienz“ beim Vorsitzenden der AUR gebeten. Noch immer weigert George Simion sich, sie ihm zu geben. Weil Remus Cernea darauf besteht, dass sie live gefilmt wird und von der Presse verfolgt werden kann. „Bislang hat er Angst vor dieser Audienz und weiß, dass ich ihn in Erklärungsnot brächte“, so Cernea. Der Absolvent der Fakultät für Philosophie an der Universität Bukarest (2001) hatte es noch nie leicht, Mitstreitende für seine bürgernahen Ansichten zu gewinnen. Ein Mandat als Parlaments-Abgeordneter von 2012 bis 2016 ist sein bisher größter Erfolg. Als er einmal in einem der besten Gymnasien Bukarests eine Schulklasse nach drei Freiheiten und drei Rechten fragte, „kam keine Antwort.“ Aber der Gründer und erste Präsident (2008 bis 2012) des Humanistischen Vereins in Rumänien hat viel Erfahrung im Nicht-Locker-Lassen. 1998 gründete er die Kulturgesellschaft „Noesis“ und schuf mit Freunden die erste Multimedia-Enzyklopädie über Kapazitäten wie Caragiale und Brâncuși, die 2002 von Ex-Staatspräsident Iliescu ausgezeichnet wurde. Seine Kandidatur für das Amt des Staatschefs ab Dezember 2024 hat Remus Cernea am 21. Februar 2022 als Youtube-Gast von Journalist Sabin Gherman lanciert. Unabhängig, für eine Partei oder für ein Parteienbündnis? Er weiß es noch nicht. Klar ist ihm nur, wofür er sich als politisch gewählter Präsident Rumäniens einsetzen würde. Die Antworten auf folgende vier Fragen hat Klaus Philippi aufgezeichnet.

Remus Cernea, Ihnen und Ihrem Fanclub ist schon jetzt bekannt, dass Sie im Herbst 2024 als Kandidat für das Amt des Präsidenten von Rumänien in den Wahlkampf gehen wollen. Wie dieser in der ersten und gegebenenfalls zweiten Runde für Sie und alle Wähler ausgehen könnte, die Ihnen ihre Stimme geben möchten, lässt sich noch nicht eindeutig abschätzen. Was treibt Sie im Kern an, in den Wettbewerb um die Nachfolge von Klaus Johannis einzusteigen?
Für die Politik Rumäniens ist es das übelste Szenario, 2024 in der Stichwahl um das Präsidentschaftsamt zwischen der PSD und der AUR optieren zu müssen. Das Kürzel der letztgenannten Partei artikuliere ich so, wie man im Infinitiv das rumänische Verb „a urî“ausspricht: „Hassen“ beschreibt meiner Meinung nach die Doktrin dieser populistischen, nationalistischen und extremistischen Partei am besten. Eine Partei mit starken Akzenten auf Diskriminierung unterschiedlicher Minderheiten in Rumänien. Dass sie Haltungen vertritt, die direkt oder indirekt der Propaganda von Putin nützen, stellt sich jetzt während des Krieges in der Ukraine erst recht klar heraus.
Um den Einzug der Kandidaten von der PSD und der AUR in die Stichwahl um das Präsidentschaftsamt zu verhindern, ist es nötig, dass die pro-europäischen, pro-demokratischen, pro-atlantischen und neuerdings auch pro-ukrainischen Kräfte und Parteien, denen die Verteidigung der Werte der offenen Gesellschaft unverzichtbar ist, miteinander koalieren. Es geht nichts ohne menschliche Würde und Menschenrechte. Selbst wenn wir unterschiedliche Meinungen zu punktuellen Fragen vertreten, ist es wichtig, dass wir all unsere politischen Polemiken in einem Geist von gegenseitigem Respekt austragen. 
Eine Koalition dieser Richtung muss formiert werden, und zwar so schnell wie möglich. Damit meine ich sowohl Parteien, die politisch schon sehr bekannt sind, als auch jüngere Parteien und solche, die in nächster Zeit gegründet werden. Also eine Koalition von Parteien, die sich die demokratischen, pro-europäischen und der NATO gegenüber freundlich eingestellten Werte auf die Karte schreiben.

Als Mitglied der NATO hat Rumänien wegen des Kriegs in der Ukraine beschlossen, seinen Verteidigungs-Etat von 2 Prozent aus dem Bruttoinlandsprodukt auf 2,5 Prozent anzuheben. Es täte ihm leid für Pazifisten, aber der aus Russland drohenden Gefahr könne nicht anders als durch militärische Aufstockung begegnet werden, bestätigte EU-Parlamentsmitglied und Diplomat Nicolae Ștefănuță Mitte März auf Youtube in einem Gespräch mit Journalist Sabin Gherman aus Klausenburg. 
Was erklären Sie vor dieser Kulisse Wählern und Politikern, die seit Jahren vergeblich darauf warten, dass endlich mindestens sechs statt nur dürftige drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung ausgegeben werden?

Als Demokraten wollen wir keinen Krieg, und Demokratien führen keinen Krieg untereinander – sie sind friedlich und bevorteilen die Tugenden des Dialogs. In einer Demokratie schlagen wir einander nicht die Köpfe ein und setzen keine Diktaturen oder Tyranneien in die Tat um. Es geht auch nicht an, Rechte anderer zu beschneiden, nein, sondern im Gegenteil darum, ihre Rechte zu respektieren. 
Bei all den Meinungsdifferenzen untereinander wollen wir Frieden auf der ganzen Welt. Solange es Diktatoren wie Putin in Russland oder Kim Jong-un in Nordkorea gibt, müssen wir aber in der Lage sein, unsere demokratischen Länder vor möglichen Aggressionen zu verteidigen. Und wir beobachten, dass nicht nur die totalitären Staaten, sondern auch der Terrorismus in Gestalt von Attentaten in Westeuropa und den USA sehr gefährlich für unsere Demokratien ist.
Hoch bewaffnete Armeen sind nicht, was wir eigentlich bezwecken, aber sie sind nötig. Wir müssen verstehen, dass wir unsere Freiheit, auf die wir doch so viel halten, nicht verteidigen können, wenn wir nicht die stärksten Armeen auf der Welt haben. Denn nur so wird es uns gelingen, die Demokratie, unsere Freiheit und unsere Rechte zu schützen.
Selbstverständlich kommt dabei Bildung als essentieller Faktor ins Spiel. Ohne Zugang zu qualitätsvoller Bildung, der einem großen Teil der Bürger – wenn möglich sogar allen – möglich sein soll, ist es für uns vergeblich, von einer zivilisierten und demokratischen Gesellschaft zu träumen. Dass Menschen ihr Bewusstsein bilden und ihr kreatives Potential entfachen können sollen, um letztlich ihren Lebensunterhalt durch ein zumindest annehmbares Gehalt zu bestreiten, ist für eine solide Demokratie in einem gutgehenden Land unabdingbar. Es muss danach gestrebt werden, den Anteil von Menschen in finanzieller Notlage so klein wie nur möglich zu halten.
Die politische Koalition mit Perspektive auf das Jahr 2024, von der ich vorher sprach,  sollte ganz besonders viel Gewicht auf Bildung legen. 2024 werden binnen weniger Monate vier eigene Wahlgänge stattfinden: EU-Parlamentswahlen, nationale Kommunalwahlen, Parlamentswahl und die Präsidentschaftswahl. Das wird zu einer Kondensation zahlreicher politischer Kämpfe in einem sehr kurzen Zeitraum führen. Über Bildung wurde in Rumänien schon sehr viel gesprochen, aber getan wurde sehr wenig. 
Trotz aller Versprechen aus politischer Richtung und entgegen einem 2011 vom Parlament fast einstimmig beschlossenen Gesetz, das die Veranschlagung von jährlich mindestens sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung vorschreibt, blieb es immer bei knapp drei bis ganz wenig mehr als vier Prozent. Setzt Rumänien nicht mehr auf Bildung und wissenschaftliche Forschung, wird es auch in Zukunft Schlusslicht der EU bleiben.

Genauso wie Nicolae Ștefănuță und Dritte waren auch Sie selbst im Februar 2022 schon einmal Gesprächsgast bei Sabin Gherman auf Youtube. Damals behaupteten Sie, sich in vielen Denkschemata auszukennen und sogar in einer Begegnung mit Neomarxisten stets die Oberhand behalten zu können. Wie eigentlich kann man ein Gespräch mit Extremisten wagen, ohne sie sich noch mehr als nötig zu Feinden zu machen?
Ein erster Ansatzpunkt wäre der, mit ihnen im Gespräch zu bleiben und es auf der Ebene allgemeiner Ideen ohne persönliche Attacken zu führen. Extremisten können links oder rechts gesinnt sein, und ich habe Erfahrungen in der Begegnung mit beiden Ausprägungen gemacht. An Polemiken hat es dabei nie gemangelt. 
Doch ich bin jeweils bereit gewesen, diesen Kampf der Ideen zu kämpfen, ganz gleich, mit was für Extremisten ich es auch zu tun hatte. Zumindest in Rumänien bin ich ihnen niemals ausgewichen. Obwohl sie meist den polemischen Weg einer persönlichen Attacke auf mich wählten, habe ich ihnen nie auf dieselbe Art und Weise zurück geantwortet, sondern ihnen stets auch die andere Backe hingehalten, um es mit einer moralischen, alten und erprobten Redewendung zu sagen. Meiner Meinung nach muss der öffentliche Weg des polemischen Streits mit den Extremisten aus mehreren Gründen bewusst beschritten werden.
Sobald Du mit einem Extremisten sprichst, sprichst Du nicht nur mit ihm. Eure Diskussion wird auch von einem breiten Publikum verfolgt, und dieses Publikum muss sehen, dass den Extremisten widersprochen werden kann und dass ihre Pseudo-Argumente widerlegt werden können. 
Es ist wichtig, dass die extremistischen Attitüden im öffentlichen Raum ständig demontiert und kritisiert werden. Werden sie es nicht, begegnet ein schwach informiertes Publikum den Extremisten schließlich mit Vertrauen. Wir brauchen Courage und Überzeugung, uns in Polemiken mit Extremisten zu werfen.
Corneliu Vadim Tudor und Gigi Becali waren die prominentesten Gegner meiner Vergangenheit im Fernsehen und fuhren zumeist persönliche Angriffe auf mich. Meine Art dafür, ihnen nur auf der Ebene der abstrakten Ideen zu antworten statt zurück zu hauen, hat etliche Zuschauer beeindruckt: „Erstaunlich, wie gut Du dich selbst beherrschst!“

Radikalität kann auch in religiöser Hinsicht zu einer wirklichen Gefahr ausarten. Sie selbst sind davon überzeugt, dass es möglich ist, auch ohne religiösen Glauben ein Leben zu führen, das keine moralischen Gewissensbisse bereitet. 
Sollten Sie tatsächlich zum Staatspräsidenten Rumäniens gewählt werden, müssten Sie aber als ein Vermittler mitmischen, dem es um mehr als nur um seine persönliche Meinung geht. Es ist doch wichtig, dabei über alles Fragen nach Gott hinweg einen Mittelweg zu finden, auf dem die Leute miteinander klarkommen. Wie würden Sie zwischen Gläubigen und Atheisten oder jeglichem kirchlichen Leben fernen Bürgern zu moderieren versuchen?

Ich finde, dass es keine Rolle spielt, ob man Atheist oder gläubig ist. Was zählt, ist der Charakter, die Art des Verhaltens zur Umgebung. Zu einer moralischen Person werden kann man entweder durch Berufung auf die Lehren der Bibel oder anderer religiöser Schriften, oder mit philosophischer Argumentation. 
Mein eigenes moralisches Bewusstsein habe ich mir durch das Lesen von Philosophen gebaut, doch auch in der Bibel bin ich hie und da fündig geworden – siehe die Praxis, Streitsüchtigen auch die andere Backe hinzuhalten. Statt Aggression und Gewalt mit Aggression und Gewalt zu behandeln, sollte man besser Selbstbeherrschung üben und die Lage zu entspannen versuchen. So nämlich, wie ein Atheist oder jemand ohne religiöses Hintergrundwissen zu einer moralischen Person werden kann, ist es auch möglich, trotz Gläubigkeit unmoralisch zu bleiben. Im Namen von Religion wurden schon viele Verbrechen begangen. Der Glaube garantiert nicht, dass Du ein guter Mensch bist. 
Mich interessiert zuvorderst, ob mein Gegenüber Charakter hat. Und als Staatsbedienstete stehen wir alle in der Pflicht, Toleranz zwischen Menschen unterschiedlicher Ansichten über Glauben zu pflegen, Menschen ohne Glauben eingeschlossen. Für die Freiheit des Einzelnen ist das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche lebenswichtig.