Moral ohne Religion

Der Mensch ist freier denn je, doch was stellt er damit an?

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Atheisten zitieren gerne und oft Friedrich Nietzsche und machen es falsch. Dass der deutsche Philosoph häufig missverstanden wird, wäre inzwischen eine Untertreibung. Die fälschliche Aneignung eines Satzes, herausgerissen aus dem komplexen Werk einer ebenso komplexen Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, validiert Nietzsches Kernaussage: Es ging ihm nicht um die Verneinung eines Gottes, sondern um den Verlust moralischer Werte. Wenn man die Hälfte der Menschheit fragt, fußen diese Werte in den Religionen der Welt, ob alt oder neu.  Das heißt: Ohne Gott keine Moral. Ob diese Feststellung richtig oder falsch ist, bleibt eine Frage, die weiterhin spaltet. Was eben auch die Studie „The Global God Divide“ zeigt. Sie wurde letztes Jahr veröffentlicht und ist das Ergebnis von Befragungen auf sechs Kontinenten in 34 Ländern.

Doch wie ist es um die anderen 55 Prozent bestellt, die Religion nicht für das Gerüst moralischer Werte halten? Für sie ist Bildung wichtiger und wo ein Mangel herrscht, tendiert Religion die Lücke zu füllen.

Fehlbare Institutionen

Religion hat auf jeden Fall im 21. Jahrhundert viel zu beweisen. Oder zumindest die Institutionen, die sich in der Rolle sehen, irdische Vertreter des Göttlichen zu sein. Die Geschichte hat mehrmals gezeigt, dass sie, anders als Gott, nicht unfehlbar sind. Und so wie alle Institutionen sind auch die religiösen korrumpierbar. Die daraus resultierende Verblendung führt verständlicherweise zu einer Abkehr. Denn was man sucht ist das Unanfechtbare. Was die Idee von Gott dem Menschen verspricht, ist eine Autorität, die sich über ihn und über den natürlichen Gesetzen befindet. Der Glaube an eine unerschütterliche Macht, die alle Antworten kennt, die unfehlbar ist, spendet dem Menschen Hoffnung und Trost in einer Welt, in der Richtig oder Falsch oft in eine Grauzone fallen.

Je freier die Menschen werden, ob tatsächlich oder nur oberflächlich, desto mehr will sich ein Teil in ein totalitäres System flüchten. Eine Arbeit des Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien deutet auf die Gefahren eines totalitären Denkens innerhalb radikalisierter Bewegungen ohne Staatscharakter hin. Und auf die Ähnlichkeiten zwischen fundamentalistischen Religionsdeutungen mit den totalitären Ideologien.

Wenn also die Institution Gottes schwankt, ihr Fehlbarkeit nachgewiesen werden kann, ist die Reaktion oft auflehnerisch. Nicht gegen die Institution selbst, die in gewisser Weise versagt hat und eine Reform dringend braucht, was geschichtlich auch passiert ist, sondern gegen diejenigen, die es gewagt haben, die Institution und damit Gott bloßzustellen. Dabei werden oft die religiösen Lehren falsch gedeutet oder es herrscht ein Mangel an Deutung vor. Dass die Bibel oder der Koran interpretierbar sein können, hilft nicht besonders. Die Folge ist eine Radikalisierung bestimmter Gruppen, die eine religiöse Bewegung als Vorwand nehmen, um sich an der Welt zu rächen. Das alles resultiert aus einer allgemeinen Enttäuschung und dem fehlenden moralischen Anker.

Vereinbare Religion

Doch trotz der schwierigen Beziehung zur Religion bezeichnen sich weltweit nur rund 13 Prozent der Bevölkerung als Atheisten. Das besagt der „Global Index of Religion and Atheism”. Es stimmt aber auch, dass, je fortschrittlicher das Land ist, desto höher die Zahl der Atheisten. Auch in den Reihen von Wissenschaftlern gibt es mehr, die die Existenz eines Gottes bezweifeln. Ob es irgendwann eine Welt ohne Religionen geben wird, ist jedoch fraglich. Sollte es aber theoretisch dazu kommen, würde die Menschheit ihre moralischen Werte dann verlieren? Für Philosophen wie Herbert Schnädelbach steht dies außer Frage. Auch Friedrich Nietzsche sah darin die größte Herausforderung des Menschen.
Und es gibt schließlich noch eine Religion ohne Gott, die älter als das Christentum und der Islam ist: der Buddhismus.
Zwar ist es die Weltreligion mit der kleinsten Anhängerschaft weltweit (nur rund 360 Millionen), aber sie scheint mit der Wissenschaft vereinbar zu sein. Trotz einer über 2500 Jahre alten Geschichte ist sie besonders heute relevant. Denn im Mittelpunkt ihrer Lehren steht keine Gottheit, sondern der Mensch selbst. Wer sich bessern möchte, muss nicht auf einen Gott schauen oder sich davor fürchten, von einer übergeordneten Macht bestraft zu werden. Stattdessen werden durch Meditation die Antworten in sich selbst gesucht.

Auch der russische Schriftsteller Leo Tolstoi glaubte an einen moralischen Kompass, der jeden Menschen leitet. Wir wissen im Grunde, was richtig und was falsch ist, so Tolstoi. Die Entscheidung, die wir fällen, ob wir auf unsere innere Stimme hören oder nicht, ob wir gesellschaftlichen oder Gruppenzwängen nachgeben und entgegen dem eigenen Gewissen handeln, führen zum persönlichen Unglück. Ein Grund, weshalb viele Menschen in Alkohol oder Drogen flüchten.

Ist also Religion das Gerüst unserer moralischen Werte – oder umgekehrt? Ihrer Entstehung liegt klar der menschliche Drang zugrunde, die Welt zu verstehen. Heute klingt es absurd, dass unsere Vorfahren die Sonne anbeteten oder die Sterne für Krieger oder übernatürliche Kreaturen hielten. Viele der Fragen, auf die Religion uns eine Antwort gab, so einfach sie auch war, haben wir inzwischen beantwortet.

Sinnfindung

Aber die wirklich brennende Frage bleibt. Nicht unbedingt die Frage nach einem Leben nach dem Tod, sondern viel mehr die Frage nach dem Sinn unseres Daseins. Der klinische Psychologe Jordan Peterson führt den Grund, weshalb viele Menschen unglücklich sind, darauf zurück, dass sie keinen Sinn im Leben finden.

Ein Problem, das sich in den nächsten Jahren akzentuieren wird. Schließlich wird schon jetzt eine neue industrielle Revolution prognostiziert. Die Entwicklung künstlicher Intelligenz wird dazu führen, dass mehr und mehr Menschen ihre Arbeit verlieren werden.

Die schwierigste Reise im Leben bleibt die der eigenen Selbsterkenntnis. Die Frage „Quo Vadis” können wir nur dann beantworten, wenn wir zuerst wissen, was wir eigentlich wollen und wer wir eigentlich wirklich sind. Eine Antwort zu finden ist schwer, weil wir tagtäglich von so vielen Informationen zugemüllt werden, dass wir unsere eigene Stimme nicht mehr hören.

Religion könnte uns vor uns selber retten, wenn wir sie vor sich selbst retten. Das kann durchaus arrogant klingen, aber wichtig ist und bleibt der Dialog. Ist sie das Gerüst unserer Moral? Eine Frage, die jeder selbst beantworten muss. Im Zeitalter von Coca-Cola und Facebook haben wir tatsächlich die Qual der Wahl: Zugang zu jeder Form von Information. Wir können entscheiden, welchen Gott wir anbeten oder ob überhaupt. Und diese Entscheidung ist die Herausforderung unserer Generation. Denn es ist schwer, selbst Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu treffen. Besonders wenn unsere Väter und Großväter dafür stets eine autoritäre Figur gehabt haben, die sie von dieser Bürde befreite.

Gott ist tot

Friedrich Nietzsche hat niemals die Worte ausgesprochen: „Gott ist tot!”. Stattdessen schrieb er in „Die fröhliche Wissenschaft” eine Parabel nieder, in der die Figur des „tollen Menschen” erscheint.  Und dieser deklariert: „Wohin ist Gott?” Und dann: „Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“ Schliesslich verkündet dieser gar: „Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet.”

Es liegt also an uns. Wir sind die Architekten unseres kurzen Lebens und heute mehr denn je hat man uns sämtliche Werkzeuge in die Hand gedrückt, um unser Leben so aufzubauen, wie wir es wünschen. Ein großes Wagnis, welches wir aber unternehmen müssen. Wir sind es sowohl unseren Vätern schuldig, als auch unseren Kindern.