Zu den Flügeln auch Wurzeln mitgeben

Im ehemaligen Töpferdorf Piscu soll ein einzigartiges Projekt Schule machen: eine Schule mit eigenem Museum

Virgil Scripcariu, Foto: George Dumitriu

Das Museumsgebäude soll bis zum September fertig sein. Foto: George Dumitriu

Der „Totempfahl“ - Längsschnitt eines uralten Baums - ist das Herzstück des Museums. Foto: George Dumitriu

Produkt eines Workshops mit Schülern und lokalen Töpfermeistern , wie sie in Zukunft im Parterre des Museums stattfinden sollen. Foto: George Dumitriu

„Piscu, kulturelles Dorf 2017“ steht auf dem Schild am Ortseingang. Längst haben sich die Einwohner daran gewöhnt, manche sind sogar ein bisschen stolz. Langsam beginnen sie zu begreifen, was sie verloren und wiedergewonnen haben: ihre kulturelle Identität. Dank der nunmehr 15-jährigen Aktivitäten von Familie Scripcariu vor Ort ist das traditionelle Töpferdorf wieder auferstanden. Nicht so wie vor 30 Jahren, als es noch 80 Töpfer gab und die Ware im ganzen Land gefragt war. Die Vergangenheit kann man nicht einholen. Doch man kann sie sich im Herzen bewahren, an seine Kinder und Kindeskinder weitergeben, ihnen zu ihren Flügeln, die sie ins Leben hinaustragen, auch Wurzeln mitgeben. Genau dies soll in Piscu in der „Schule mit dem Museum“ geschehen.

Rückblick, 24. Juni 2017: Auf der 4000-Quadratmeter großen Wiese in Piscu, knappe 40 Kilometer von Bukarest entfernt, soll ein Museum entstehen. Noch ist es nur eine Idee. Am Tag der „Ie“, der rumänischen Trachtenbluse, wird sie auf einer Art Volksfest der Öffentlichkeit präsentiert. Im Zentrum des bunten Treibens steht das Museum als Modell. Ringsum: Stände mit Essen, Büchern, Töpferwaren, Festzelt und Eiswagen, Demonstrationen von Handwerkskunst und vieles mehr. Natürlich dürfen auch die kleinen Flöten aus Ton in Form verschiedener Tiere nicht fehlen, die  typisch für diesen Ort sind. Schon in der Jungsteinzeit wurden sie in dieser Region hergestellt. Heute werden sie an einem Stand als Souvenirs feilgeboten. Für das Wachhalten solcher Traditionen sorgt das Ehepaar Adriana und Virgil Scripcariu, sie Kunsthistorikerin, er Bildhauer, die aus Bukarest aufs Dorf gezogen sind und mit ihren Kindern in Piscu leben. Sie betreiben dort ein Künstleratelier, eine kleine Privatschule, zu ihren Aktivitäten gehören Töpfer-Workshops, das Schreiben von Büchern und erzieherische Veranstaltungen zum Thema Kulturerbe. Das Museum ist ihr neues Projekt: Ein Privatmuseum, nur aus Spenden finanziert. Ein ehrgeiziger Plan.

7. Juli 2020. Wir folgen dem Mann mit dem winzigen Kätzchen auf dem Arm zu demselben Platz. „Es gehört meiner Tochter Maria, sie wird weinen, wenn es weg ist“, erklärt er beiläufig, warum er es von der Straße aufgelesen hat. Dann vor Ort die Überraschung: Der Traum ist zum Leben erwacht! Das einstige Modell erhebt sich vor uns wie ein riesiger Tempel. Säulen aus Akazienholz tragen ein quadratisches Dach. Ein Holzskelett, zwei Stockwerke, noch fehlt die Verglasung. Doch im September soll das Museum bereits eröffnet werden, erklärt Virgil Scripcariu. Dann zieht auch die Schule in das obere Stockwerk ein.

Wir lassen uns in der Mitte auf einer Art einstufigem Amphitheater nieder. Das Kätzchen schnurrt laut ins Aufzeichnungsgerät. In der Mitte des Gebäudes ragt der Längsschnitt eines uralten, gigantischen Baumstamms in die Höhe, direkt bis unter das lichtdurchflutete Dach. „Unser Totem“, lächelt Scripcariu. Der andere Teil des Baums, sein Zwillingsschnitt, dient als origineller Ausstellungstisch. Der Baumriese, einst Teil des „Codrul Vlasiei“, wurde bei Sanierungsarbeiten des Sees gefunden, an dem das Anwesen der Scripcarius, das Museum und am anderen Ufer das Kloster Țigănești liegen. Eine Kulturlandschaft, die das Museum als Herzstück verbinden soll. 

Eine Schule im Museum

Im Zentrum aber steht die Schule. „Die Kinder sollen das Gefühl haben, dass das Museum ihnen gehört“, erklärt der Künstler. Vor neun Jahren gründeten die Scripcarius die kleine Grundschule – auch aus eigenem Interesse, sie haben selbst sechs Kinder. Die Idee gefiel auch anderen Bukarestern, die aufs Land gezogen waren. In jedem Jahr wird eine neue Klasse eröffnet, zuletzt eine dritte mit 15 Kindern. „Wir haben einen Lehrplan mit Schwerpunkt Kulturerbe, Musik und Englisch intensiv, der eine ausgeglichene Entwicklung bietet“, erklärt Virgil Scripcariu. Nebenbei können die Kleinen an der Töpferscheibe ihre Kreativität ausleben. Auch andere Schulen besuchen die Workshops in Piscu, an denen Töpfermeister aus dem Dorf beteiligt sind. Bisher fanden all diese Aktivitäten auf dem privaten Anwesen der Familie statt. „Doch nun hatten wir das Gefühl, es sei Zeit, das alles aus unserem Hof auszulagern, an einen eigenen Ort. Die Menschen brauchen starke Eindrücke. Wenn du improvisierst, ist die Idee vielleicht sympathisch, nett, aber sie wird nicht überleben. Wir wollen diesen Ort dauerhaft bekannt machen.“

Gedächtnis eines Dorfs

Vor 15 Jahren, als die Scripcarius nach Piscu zogen, sah die Situation noch ganz anders aus. Das traditionelle Töpferdorf war auf dem besten Weg, die Handwerkstradition zu verlieren. „Ohne jedwede Reaktion der Gesellschaft, ohne ein Zucken“, sagt Scripcariu. „Die Menschen haben ein pragmatisches Denken: Wenn der Markt nicht mehr braucht, was ich biete, muss ich das eben aufgeben.“ Vor der Revolution bestand noch eine riesige Nachfrage, fährt er fort. Doch dann eroberten Billigwaren aus China den Markt. „Die Veränderung brach so plötzlich über das Dorf herein, dass die Leute gar keine Zeit und wohl auch nicht die Intelligenz hatten, ihre Produkte dem modernen Zeitgeist anzupassen, für den durch-aus ein gewisse Marktnische besteht.“ Diese will das Museum zu einem Teil bedienen, in einem Laden sollen  Besucher auch Produkte lokaler Meister und aus den Workshops erstehen können. „Doch unser Ziel ist  nicht, die Produktion wieder aufzugreifen. Wir setzen auf kulturelle Aktivitäten.“

Im oberen Stockwerk des Museums sind in einer Nische Tontöpfe symbolisch vor den Rückenlehnen des Gestühls der alten Dorfkirche aufgereiht. „Auf dieser Wand sollen einmal die Namen aller Töpfer stehen, an die man sich im Dorf noch erinnern kann. An die 200 werden es wohl sein.“ Ein ganzer Raum soll der Geschichte von Piscu gewidmet werden. „Sie verdient es, erzählt zu werden“, meint Scripcariu. „Die Töpfer von Piscu waren selbst zur Zeit des Kommunismus extrem kapitalistisch und sehr wohlhabend und hatten eigene, strenge Regeln – erstaunlich, wie sie damals so existieren konnten!“ 

Langsam entdecken auch die Dorfbewohner den Wert ihrer Traditionen wieder. Das Museum ist ihr Gedächtnis. Es erinnert sie an ihre Väter und Großväter. In den Objekten, die die Scripcarius von ihnen für die Ausstellung erwarben, erkennen sie ihre eigenen Wurzeln wieder.

Der seltsame Bruder jenseits des Pruth

Eine Schule im Museum – ein Museum für eine Schule. In Rumänien ist dies bislang ein einzigartiges Modell. Doch es könnte Schule machen, hofft Virgil Scripcariu. Und bekennt: „Wir wissen selbst noch nicht genau, wie das alles einmal in der Endfassung aussieht. Doch es macht uns Spaß, zu experimentieren und unsere Grenzen immer weiter zu verschieben.“ 
Neues anzustoßen, den eigenen Horizont zu erweitern – dazu gehört wohl auch ein Projekt, das sich die Familie Ende 2017 vorgenommen hatte. „Wir hatten das Gefühl, dass wir einmal etwas tun müssten, das über unsere alltäglichen Aktivitäten hinausreicht,“ erklärt der Bildhauer. Der Wunsch sollte sich bald erfüllen. Durch Zufall entdeckten sie in der Republik Moldau ein Dorf, das er verwundert als „Spiegelkommune“ bezeichnet. Seltsame Parallelen verbinden es mit Piscu: Das Dorf heißt }ig²ne{ti und beherbergt ein gleichnamiges Kloster - auch in Piscu gibt es ein Kloster }ig²ne{ti. Beide Klöster liegen an einem See und am Wald, beide sind dem „Entschlafen der Muttergottes“ geweiht und wurden im selben Jahrhundert gegründet. Beide Dörfer liegen rund 40 Kilometer im Norden der jeweiligen Hauptstadt: Piscu bei Bukarest, Țigănești bei Chișinău. Beide haben eine uralte Töpfertradition. Die erstaunlichste Gemeinsamkeit aber: In beiden Dörfern war die Herstellung von zoomorphen Pfeifen aus Ton seit Menschengedenken Tradition! 

Am 8. Januar 2018, dem dortigen Weihnachtstag, trafen die Scripcarius erst-mals in Țigănești ein. Die Bürgermeisterin hatte dem Besuch mit Begeisterung entgegen gesehen. Spontan wurde ein Partnerschaftsvertrag aufgesetzt und beschlossen, in dem dortigen verlassenen Schulgebäude mit gemeinsamen Kräften ebenfalls ein Töpfermuseum einzurichten. Mithilfe von Freiwilligen vor Ort wurde das Steingebäude renoviert und öffnete seine Tore im Beisein der alten Meister, die seit über 30 Jahren nicht mehr an der Töpferscheibe gesessen hatten. „Es war bewegend, zu sehen, wie die hochbetagten Meister versuchten, dem Ton eine Form zu verleihen. Sie waren völlig aus der Übung, es fehlte ihnen bereits an der Kraft, die man zum Töpfern braucht.“ Schule und Museum - schon wieder eine Parallele! Und noch etwas verbindet die beiden Dörfer: 2018 bewarben sie sich gemeinsam um den Titel „kulturelles Dorf“, der jedes Jahr vom Verein „Die schönsten Dörfer Rumäniens“ gemeinsam mit dem Bukarester Dorfmuseum „Dimitrie Gusti“ unter Schirmherrschaft der französischen Botschaft durchgeführt wird. Mit Erfolg: }ig²ne{ti wurde das erste Dorf jenseits des Pruth, das diesen Titel trägt.

„Eigentlich sollten wir jetzt gerade dort sein und ein gemeinsames Ferienlager abhalten“, bemerkt Virgil Scripcariu bedauernd. Die Pandemie, in der Moldau gerade auf ihrem Höhepunkt, hat das Vorhaben zunächst vereitelt.

Was es noch zu bewahren lohnt

In dem Film auf Youtube, der die Entstehung des Museums in der moldauischen Partnergemeinde dokumentiert, erzählt er von der dortigen Dorfgemeinschaft. Tief beeindruckt hat ihn, wie selbstverständlich sie bis heute  funktioniert. Dies unterscheidet }ig²ne{ti von Piscu. Das moderne Leben hat die Gemeinschaft dort längst zerstreut. Doch so manches von früher wäre es wert gewesen, erhalten zu bleiben, denkt Scripcariu. 

Er hofft, dass durch die Schule im Museum auch seine eigenen Kinder diese Werte für sich entdecken. Die Aktivitäten der Eltern sind für sie alltäglich und daher selbstverständlich. Doch durch die Aufmerksamkeit, die sie von anerkannten Experten erhalten, und das Erstaunen der Besucher, erkennen sie langsam das Besondere, an dem sie täglich teilhaben. „Eine meiner Töchter hat bereits den Wunsch, Kulturmanagerin zu werden“, freut sich Scripcariu. „In der Familie zu arbeiten ist auch etwas, was längst verloren gegangen ist. Wir könnten ein wertvolles Beispiel für andere sein.“