„Anaaa!“ tönt es durch den Nebel zur Insel hinüber, wo die Umrisse der Klostertürme hinter hängenden Weiden und dichtem Schilfdickicht nur schwach zu erahnen sind. „Anaaa!“ ruft der Mann noch einmal, und seine beiden Begleiter sehen ihn ungläubig an. Da löst sich aus den milchigen Schwaden ein kleiner, schwarzer Punkt, der langsam näherzukommen scheint. Ein Ruderboot!
So war es vor zehn Jahren, erinnert sich George Dumitriu, als er erstmals zwei Kollegen zur Dokumentation dieses historischen Kulturerbes auf dem Snagov See herführte. Lange war das Kloster auf der Insel nur per Boot erreichbar, entweder selbstrudernd vom nahen Strandbad aus – ein kleines Abenteuer in kaum seetüchtigen Nussschalen aus angewittertem Plastik. Oder per exquisitem Rudertaxi -– für Eingeweihte, die den Geheimcode kennen...
Heute ist Ana, die rudernde Klostergehilfin, längst pensioniert. Über den See führt eine moderne Eisenbrücke, vor der ein schwarzgelockter Junge dreist drei Lei einzufordern versucht, während sich der Rest der Sippe als selbsternannte Parkeinweiser vor den beeindruckenden Villen betätigt. Am anderen Ende der Brücke versucht ein Mann, ein verirrtes Straßenhündchen von der Insel zu scheuchen. Vorbei dieAbgeschiedenheit der Jahrhunderte, vorbei die paradiesische Ruhe im rosenumrankten Klostergärtchen, und auch die Nonne, die ich vor Jahren hier noch antraf, lebt nicht mehr. Nirgendwo, so scheint uns, spürt man den Wandel der Zeiten so sehr wie an diesem Ort. Seine Geschichte beginnt wie sein Anblick im morgendlichen Nebel: Ein waberndes Trugbild im Dunst, das erst langsam Kontur gewinnt.
Bewegte Geschichte einer kleinen Insel
Schon die Daker hatten hier eine Festung erbaut, erzählt die charmante Führerin, während sie sich tiefer in ihren Mantel hüllt. Die eisige Luft in der Klosterkirche lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Oder ist es der Hauch des Geistes von Vlad dem Pfähler (Vlad Ţepeş), dessen gemarterter Torso hier seine letzte Ruhe fand? Grabungen 1933 ergaben, dass auf den dakischen Grundmauern im 11. Jahrhundert ein hölzernes Kloster stand, das einem Brand zum Opfer fiel. Aus der Zeit von Vlads Großvater, Mircea dem Alten (1386-1418), gibt es ein Dokument, das erstmals die Existenz eines Klosters an dieser Stelle erwähnt. Als gesichert gilt, dass der Glockenturm aus dessen Zeit stammt. 1453 erbaute dann Vladislav II. eine Kapelle, die jedoch 1600 überschwemmt wurde und im See versank.
1456 befestigte Vlad Ţepeş den Klosterkomplex durch eine Verteidigungsmauer und ließ eine Zugbrücke und einen unterirdischen Tunnel errichten. Letzterer existiert bis heute, wurde jedoch von Ceauşescu, dessen Palast sich am anderen Seeufer befand, aus Angst vor Eindringlingen geflutet. Im Inneren der Festung ließ der Walachenfürst Vlad ein Gefängnis für Verräter und Räuber errichten. In Kriegszeiten galt die Klosterfestung fortan als Zuflucht für Frauen und Kinder der Fürstenfamilie.
Die heutige Version der Klosterkirche stammt aus der Zeit von Neagoe Basarab (1512-1521) und wurde 1563 von Dobromir dem Jungen mit Pflanzenfarben bemalt. Das Votivbild in der Kirche stellt die Familie Basarab als Gründerfamilie dar. In der Zeit von 1694 bis 1705 avancierte das Kloster von Snagov als wichtiges orthodoxes Zentrum, in dem Fürst Brâncoveanu die erste Druckerei des Landes gründete. Der schweren hölzernen Druckerpresse entsprangen bedeutende religiöse Werke in rumänischer, griechischer und arabischer Sprache.
Einige Jahre fungierte das Kloster parallel als solches und als Gefängnis. 1848 wurden hier 52 Paşoptisten ( Revolutionäre von 1848) eingesperrt und später im See ersäuft. Erst 1856 wurde das Kloster in eine Umerziehungsanstalt für kriminelle Jugendliche umfunktioniert.
Kleinere Umbauten im Laufe der Zeit sind heute noch ersichtlich: Die zugemauerten Fenster des offenen Vorraums, der später zum Pronaos umgestaltet wurde, die Gräber der Mitglieder der Fürstenfamilien, die im heutigen Pronaos ihre letzte Ruhe fanden. 1977 litt das Gebäude stark unter dem großen Erdbeben. Zwischen 1992 und 2011 wurde die Kirche, einschließlich der kunstvollen Fresken, umfassend restauriert. Taucher bestätigten auch die Existenz des Tunnels, einige dort sichergestellte Gegenstände befinden sich heute in der Klosterkirche.
Blutrünstiger Herrscher oder patriotischer Landesfürst
Direkt vor dem Altar finden wir das steinere Grab des berüchtigten Vlad }epe{, dessen Leben und Wirken bis heute die Gemüter teilt. Für die einen war er blutrünstiger Tyrann, die anderen erkennen ihn als strengen, aber treuen Landesvater an, der nur durch drastische Maßnahmen – das öffentliche Pfählen der Übeltäter – in der Lage war, Recht und Ordnung durchzusetzen. Man erzählt von goldenen Bechern an Brunnen, die nicht gestohlen wurden.
Wer seinen Geldbeutel bei einer Rast vergaß, fand ihn noch Tage später unversehrt am selben Ort. Das Pfählen hatte jedoch nicht der Walachenfürst erfunden – im Orient war es, wie ein assyrischer Text aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. verrät, seit Langem als übliche Strafe in Gebrauch. Vlad , der 1431 in Schässburg geboren wurde und 1444 zusammen mit seinem jüngeren Bruder Radu als Geisel in die Obhut des Sultans in Adrianopel gelangte, hatte es dort von den Orientalen übernommen.
Als er 1456, von den Türken vorbereitet und unterstützt, den walachischen Thron bestieg, führte er die grausamen Sitten auch im eigenen Land ein. Bald jedoch trat er in die Fußstapfen seines Vaters Vlad II. – dem der römisch-deutsche Kaiser Sigismund für seinen Mut in den Schlachten gegen das osmanische Reich den Drachenorden verliehen hatte und der seither den Beinamen Dracul (Drache) trug – und wandte sich gegen die Türken. Über sein Ende gibt es unterschiedliche Versionen. Als gesichert gilt jedoch, dass sein Kopf nach Konstantinopel gesandt und auf einem Pfahl aufgespießt der Öffentlichkeit vorgeführt wurde. Sein Torso liegt uns im Grab vor dem Altar im Naos der Klosterkirche zu Füßen. Es soll sein ausdrücklicher Wunsch gewesen sein, vor den Flügeltüren des Altars bestattet zu werden, damit der Priester bei jedem Gottesdienst auf sein Grab treten müsse, so die Führerin.
Trügerisches Idyll
Wir können uns kaum sattsehen an den bunten Fresken, den zahlreichen, seltsamen Symbolen, die den Saum des sogenannten Labyrinths am unteren Teil der Wände zieren, an den ausdrucksstarken Gesichtern der Serafime und Cherubime, den prachtvollen Darstellungen der Gründerfürsten. Im Garten hinter der Kirche wiegen sich gewaltige Tannen und saftiggrüne Trauerweiden im Wind. Im Sommer tummeln sich hier Hühner, Gänse und Enten vor rosengesäumten Wegen. Nur ein steinerner Brunnen straft das friedliche Idyll Lügen: Ihn haben die Gefangenen zur Zeit Vlad Ţepeş mit bloßen Händen gegraben...
Heute lebt in dem Kloster nur noch ein Pfarrer. Seine von Gärten und Kleinviehverschlägen umgebene Abtei liegt direkt neben dem gedrungenen Backsteingebäude des massiven Glockenturms. Regelmäßig Gottesdienste gibt es hier noch. Doch das Personal für den Klosterbetrieb kommt von außen, über die schwere eiserne Brücke, dem einzigen Zugang zu der Klosterinsel. Klonk, klonk, hallen ihre Schritte weit hörbar über den See. Nur manchmal, wenn der Nebel sich auf das Wasser niedersenkt und ein eisiger Wind durch das dichte Schilfrohr heult, meint man, aus dunkler Vergangenheit einen Ruf zu vernehmen. „Anaaa! Anaaa!“ Da – ein kleiner, schwarzer Punkt löst sich aus den wabernden Nebelschwaden. Ana? Ich wische mir die Tränen aus den Augenwinkeln.
Sie ist nicht mehr da...