Viele Theorien und Legenden ranken sich um die Daker, den nordischen Thrakerstamm, der bis zu der Eroberung durch die Römer im Jahre 106 große Teile des heutigen Rumäniens (Siebenbürgen, Banat, Kleine Walachei) bevölkerte. Kaum ein historisches Subjekt begeistert die heutigen Rumänen so sehr wie ihre mysteriösen Vorfahren, von denen keiner weiß, wohin sie so spurlos verschwunden sind. Wenn sie es denn taten, weil die vor allem in der Ceauşescu-Zeit beliebte Kontinuitätstheorie behauptet das Gegenteil... Tatsächlich gehörte es nicht zur Strategie der Römer, unterworfene Völker zu vertreiben. Wo aber sind die Daker dann geblieben? Schwer vorstellbar, dass sie sich mit den Römern fröhlich vermengten und die Sprösslinge mit ihren dakischen Müttern urplötzlich flächendeckend Lateinisch plapperten, woraus sich die heutige rumänische Sprache entwickelt haben soll. Oder waren die Wurzeln des Rumänischen schon vorher da? Sprechen wir heute, von späteren slawischen Einflüssen abgesehen, eigentlich „dakisch“?
Der Historiker Nicolae Densuşianu vertrat in seinem 1913 erschienenen, über 1000 Seiten starken Werk „Dacia preistorică“ die allerdings umstrittene Theorie, dass die Wiege der europäischen Zivilisation im heutigen Rumänien lag und die Dakersprache mit einer Form von Vulgärlatein identisch sei, die schon vor dem Einfall der Römer in diesem Raum existiert haben soll. In Rom zunächst ebenfalls verbreitet, wurde Vulgärlatein dort später von den Adeligen verpönt beziehungsweise zu einer „edleren“ Sprache weiterentwickelt, die wir heute als Latein kennen. Doch das Rätsel um die Dakersprache wird sich so schnell wohl nicht lösen lassen. Obwohl eine derartige Hochkultur ohne Schrift kaum vorstellbar ist, gehörte es zumindest nicht zu den Gewohnheiten der Daker, Schriftstücke in Stein zu verewigen. Angeblich sollen sie für ihre Amtskorrespondenz Baumschwämme verwendet haben. So finden wir – mit Ausnahme eines mysteriösen „C“-Zeichens, das in den Dakerfestungen gelegentlich auftaucht und vielleicht nur eine Markierung zur Positionierung darstellt – auch in den Steinkreisen von Sarmizegetusa Regia nicht die klitzekleinste Inschrift...
Mysteriöse Steinkreise
Faszinierend ist auch die Tatsache, dass der Gürtel der megalithischen Steinkreise – wie etwa die in Schottland und England gelegenen, 3000-2500 vor Christus entstandenen Kalendarien von Callanish, Stonehenge und Konsorten – sich gen Osten hin bis ins Dakerreich fortsetzten. Die Steinkreise von Sarmizegetusa Regia, Heiligtum in der Verteidigungsfestung der gleichnamigen dakischen Hauptstadt und heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, wurden als präzises Mondkalendarium identifiziert.
Einzigartig für die Bauweise der Daker und daher nur in dieser Region anzutreffen ist der „murus dacicus“, eine Steinmauer mit präzise behauenen Quadern, die viereckige Löcher aufweisen . In diese steckte man massive Querbalken für hölzerne Plattformen. Für private Häuser war hingegen Holz das bevorzugte Baumaterial. Nur die Villen der Adligen hatten steinerne Fundamente und einen Balkon zur Beaufsichtigung der Untertanen. Interessant, dass sich exakt der Stil dieser Dakerhäuser bis heute in einigen Regionen der Maramuresch und in Haţeg bewahrt hat. Erwähnenswert neben Sarmizegetusa Regia sind die Dakerfestungen Costeşti-Cetăţuie, Costeşti-Blidaru, Luncăni-Piatra Roşie, Băniţa und Căpâlna, die alle zum UNESCO Weltkulturerbe gehören.
Aufbruch nach Sarmizegetusa
Sarmizegetusa Regia sollte man nicht mit der zwischen Haţeg und Karansebesch/Caransebeş liegenden römischen Siedlung Sarmizegetusa Ulpia Traiana verwechseln, was leicht geschieht, denn auf einigen Karten sind beide Orte nur als Sarmizegetusa erwähnt. Von Hermannstadt/Sibiu kommend fährt man westlich in Richtung Deva und biegt bei Broos/Oraştie links nach Cetăţuia ab. Die Festung und die Steinkreise von Sarmizegetusa Regia liegen auf einem bewaldeten Plateau, ganz in der Nähe des Muntele Batrâna,wo die Daker einst eine Eisenmine betrieben. Durch idyllische Dörfer und Landschaft fahren wir bis zwei Kilometer vor die Anlage, wo die unasphaltierte Straße von immer mehr Felsblöcken und Stufen durchsetzt ist. Wer keinen Geländewagen hat, sollte ab hier einen Fußmarsch vorziehen.
Blutrinne, Steinscheiben und Säulenstümpfe
Hoch auf dem Plateau treten wir zwischen riesigen Buchen in den steinernen Ring der Festung. Hier und dort erinnert ein Stück „murus dacicus“ daran, dass wir uns in der größten Anlage befinden, die der von einigen Experten auf 10.000 Jahre geschätzten, alten Kultur der Daker entsprang. Sie wurde in 1200 Metern Höhe auf fünf Terrassen angelegt, nahm eine Fläche von 30.000 Quadratmetern ein und wurde von einem System aus drei Meter dicken und vier bis fünf Meter hohen Steinmauern geschützt. Der eisige Wind fährt in die trockenen Blätter und wirbelt sie über eine Straße aus gepflasterten Steinen, welche die Römer hier später angelegt hatten. Nach einem kurzen Waldstück treten wir auf eine Lichtung mit atemberaubendem Blick auf die umliegenden Berge. Zu unseren Füßen erstrecken sich die Überreste der steinernen Heiligtümer auf dem flachen, grasbedeckten Plateau. Ins Auge springen der große und der kleine Steinkreis, die Sonnenscheibe aus Andesit und die Säulenstümpfe der rechteckigen Sanktuarien. Von der Sonnenscheibe führt ein meterlanger Abflusskanal zum kleineren der rechteckigen Heiligtümer hin. Wieviel Opferblut für Zamolxe mag hier geflossen sein? Säulenstümpfe und Steinscheiben von ca. einem Meter Durchmesser liegen wie überdimensionale Tabletten im Gras verstreut herum. Ein klirrendblauer Himmel mit zerrissenen Wolkenfetzen treibt uns Schauer über den Rücken. Oder ist es die immer noch spürbare Energie dieses einst so heiligen Ortes?
Gigantische Festungsanlage
Eine Informationstafel verrät, dass sich innerhalb der Festungsmauern auch eine Siedlung mit Wohnungen, Werkstätten, Geschäften, Wasserreservoirs und Lagern befand. Die Zivilbürger der Hauptstadt wohnten jedoch neben der Festung auf Terrassen am Fuße des Berges, von denen einige von bis zu 14 Meter hohen Steinmauern gestützt wurden. Die Adligen hatten sogar fließendes Wasser in ihren Wohnungen, welches in Keramikrohren geleitet wurde. Die Straßen waren gepflastert, steinerne Rinnen und Dränagekanäle zogen sich durch die ganze Stadt. Archäologische Untersuchungen bescheinigen der Gesellschaft in Sarmizegetusa einen hohen Lebensstandard. Nur die einfache Dakerbevölkerung wohnte in primitiven, flachen Holzbauten, die vorwiegend als Schlaflager dienten. Tagsüber hielt man sich im Freien auf.
Die Realisierung der Steinkonstruktionen in der Festung bedeutete einen enormen Aufwand. Obwohl es in der unmittelbaren Umgebung keine geeigneten Steine gab, war die Hauptstadt von Hunderten weiteren Festungen umgeben, die sich über 5000 Quadratmeter ins Land erstreckten. Die Daker bauten in Höhen bis zu 2050 Metern. „Sie ummauern sogar ihre Berge“, notierte ein zeitgenössischer Geschichtsschreiber. Auf allen Gipfeln fand man behauene Steine, teils bis zu 3 Tonnen schwer. Der Transport solcher Megalithblöcke bleibt bis heute rätselhaft. Doch die Daker waren nicht nur großartige Baumeister, sondern auch gute Techniker, Eisenschmiede, Mathematiker und Astronomen.
Astronomische Zeitmesser
Das Sanktuarium der Daker besteht aus einem großen Steinkreis von 29,40 Metern Durchmesser, als heiliger Kalender bekannt. Er gliedert sich in eine Apsis mit NNW-SSE Ausrichtung mit zwei sie umgebenden, kreisförmigen Anlagen. Der Eingang der Apsis wird durch zwei Kalksteinsäulen markiert. Im Inneren definieren vier später hinzugefügte Holzpfeiler den Altar. Die Kreise um die Apsis bestehen aus je 84 und 210 kleinen Pylonen aus Andesit.
Zehn rechteckige Sanktuarien mit Säulen aus Kalkstein und Holz (nachgebildet), ein kleinerer Steinkreis und die Sonnenscheibe mit ihren noch erkennbaren Strahlenarmen komplettieren die Anlage des Kultortes. Der Historiker Vasile Dragomir behauptet, das Heiligtum von Sarmizegetusa könne an Präzision mit dem Kalender von Stonehenge durchaus konkurrieren. Ähnlich wie die alten Ägypter katalogisierten auch die Daker den Sternenhimmel auf der Basis von Stundenmaßen.
Das Ende von Decebal
In den Jahren 101-102 und 105-106 führte der römische Kaiser Trajan zwei Feldzüge gegen Dakerkönig Decebal und besiegte die Daker schließlich. Die Hauptstadt Sarmizegetusa wurde erobert, in Brand gesetzt und weitgehend zerstört. Heute erinnert die gigantische Trajanssäule, die 113 in Rom errichtet wurde und eines der bedeutendsten römischen Kunstwerke darstellt, an das tragische Ereignis. Eine Nachbildung der Säule befindet sich im Nationalen Museum für Geschichte in Bukarest. Die Tragik der Niederlage reflektiert sich in kleinsten Details – etwa einer Szene, in der ein römischer Soldat einer Dakerprinzessin dreist ans Gesäß fasst... Decebal selbst hat die Erniedrigungen nicht miterlebt. Um der römischen Gefangenschaft zu entgehen, nahm er sich unweit von der Festung Căpâlna das Leben. Sein Kopf reiste als Siegesbeweis nach Rom...
Und keine Schriftzeichen...
Im Umfeld der Festung von Sarmizegetusa wurden Goldmünzen, Kalksteinblöcke mit griechischen Buchstaben und ein riesiges Kultgefäß mit lateinischem Stempel „Decebalvs per Scorilo“ (Decebal Sohn von Scorilo) gefunden. Letzteres nährt Spekulationen über die dakisch-vulgärlateinische Herkunft der rumänischen Sprache, zumal das Gefäß aus der Zeit vor der römischen Eroberung stammen soll! Andererseits gab es außenpolitische Beziehungen, die wohl auch Fremdsprachenkenntnisse erforderten. Ansonsten gehörte es nicht zur Gewohnheit der Daker, Steinwände, Gebrauchs- oder Kunstgegenstände zu beschriften. So trotzen nur ihre steinernen Monumente als stumme Zeitzeugen den Siegen und den Niederlagen, den Kulturen, die da kommen und wieder untergehen, als wortloser Gruß aus der Vergangenheit...