Unter dunklen Wolken wuchert struppiges Gras. Ein Pferdewagen holpert über den schmalen, steinigen Weg. Der Mann auf dem Wagen blickt mit zusammengekniffenen Augen zu dem Berg, hinter dem die kühle Sonne langsam versinkt. Er peitscht, einmal, zweimal, während in seinem Rücken ein Turm wie ein Periskop aus modrigen Burgmauern ragt. Schon bald, wenn die Sonne verschwindet, wird der Burgherr die Treppen des Turmes hinaufsteigen, auf das Land zu seinen Füßen blicken, sich die Lippen lecken und - aus dem Fenster in die Lüfte stürzen. Bis dahin muss der Mann auf dem Wagen zuhause sein, hinter verriegelter Tür und geschlossenen Fenstern. Sonst gnade ihm Gott.
Bilder wie diese sind es, die viele Touristen nach Siebenbürgen treiben, den Ort, aus dem Dracula stammt. Besonders beliebt sind Schäßburg, wo das historische Vorbild zur Dracula-Figur – der walachische Woiewode Vlad III. mit dem Beinamen Drăculea, „Sohn des Drachens“ – möglicherweise geboren wurde – und die Törzburg, wo der Held aus Bram Stokers Roman angeblich lebte. Welche Rolle spielt Dracula dort heute? Eine Spurensuche.
Touristenrummel und düstere Legenden
Törzburg/Bran ist ein Dorf mit etwa fünftausend Einwohnern und einem Ferienclub mit zwölf Villen auf sechs Hektar - fast achteinhalb Fußballfeldern. In seinen riesigen Restaurants tummeln sich mehr Kellner als Gäste, überlebensgroße Plüschtiere tanzen mit den Kindern der Gäste. Der „Club Vila Bran” beschwört keine mythisch-düstere Vampir-Stimmung; er will ein Ferienparadies für Familien sein. Diese genießen beim Essen, Baden und Bogenschießen den Ausblick auf die Karpaten: saftig grüne Berge, bedeckt von Wiesen und Wald in allen Grüntönen - von dunklem Tannengrün bis zum Hellgrün der Rotbuchen im Frühling. Mittendrin thront die Törzburg, aus deren Fenstern – so wird gerne glauben gemacht, auch wenn es keinerlei historischen Beleg dafür gibt – Draculas grausames Vorbild nach Feinden schielte: Vlad III. oder Vlad }epe{, der Pfähler.
Über Vlad III. Dr²culea gibt es seit seinen Lebzeiten düstere Legenden. Fakt ist: Er erbte den Beinamen von seinem Vater, der ihn mit der Aufnahme in den Drachenorden erhielt; „Dracul” bedeutet in diesem Fall „Drache”. Vierzehnjährig wird Vlad III. Geisel der Türken, sein Gefängniswärter foltert ihn, sein Bruder Mircea II. wird bald darauf lebendig begraben. Die Zeiten sind grausam; und auch dem erwachsenen Vlad III. gelingt das Kunststück, sich den Ruf der Grausamkeit zu erarbeiten. Als Woiwode der Walachei pfählt er Feinde und Verbrecher, merzt auf diese Weise die Gesetzlosen aus und legt den Grundstein für die Legenden, die man sich in Westeuropa heute über ihn erzählt: Er habe Menschen verstümmelt, verbrannt, enthäutet; habe ihnen die Kopfbedeckungen an die Köpfe genagelt, ihre Nasen ab- und ihre Geschlechtsteile herausgeschnitten. Im Vergleich mit dem Vlad III. aus den westeuropäischen Legenden ist Bram Stokers Dracula ein Menschenfreund.
Vergebliche Suche nach dem Grauen
Auf Schloss Törzburg hat Vlad Ţepeş nie gelebt; bestenfalls hat er hier einmal übernachtet, auf Durchreise. Aber wer Dracula sucht, sucht keine wissenschaftliche Wahrheit, sondern ein Gefühl, ein Schaudern. Findet er dies hier? Auf dem Weg zur Burg durchquert man eine Souvenirmeile. Händler bieten Abbildungen der Törzburg auf Holz, Magnet und Postkarten feil; daneben buntes Plastikspielzeug, rumänische Neujahrs-, venezianische Karnevals- und Hollywoodmonstermasken, Schneekugeln, Ferngläser, Holzschlangen, Plastikbälle; den Tand, den ein Tourist auf jeder Souvenirmeile der Welt findet. Zugegeben, es gibt einige Vampirartikel, wie Draculapostkarten oder -schlüsselanhänger; es gibt auch eine kleine Geisterbahn, die mit Dracula wirbt. Der Vater aller Vampire ist präsent; aber er drängt sich nicht auf.
Die Souvernirmeile geht über in das Burggelände. Der Vampirjäger läuft durch einen kleinen Garten, an einem Teich vorbei, bergauf. Vor dem Schlosseingang posieren Besucher für ein Foto: Sie reißen Augen und Mund gierig auf und formen eine erhobene Hand zur Kralle. Er schlängelt sich an ihnen vorbei, betritt das Schloss und ist - verwirrt. Er erwartete eine Kulisse, ein Fest popkultureller Zitate: spinnwebenverhangenes Gemäuer, flackerndes Licht, enge Gänge, niedrige Decken; eine begehbare Geisterbahn, mit naiv gezeichneten Folterpraktiken auf dunklen, zerkratzten Tafeln.
Im wirklichen Schloss riecht es nach frischer Farbe, die Wände strahlen fleckenlos weiß. Als wollten sie rufen: Hier hat Dracula sicher nicht gelebt - welcher Vampir lebt inmitten hellweißer Wände? Die Gemächer sind sauber und gepflegt, darin stehen Möbel wie Schaufensterstücke von Antiquitätenläden. Gegen Ende der Besichtigung, wenn der Tourist bereits sicher ist, dass weder Dracula noch sonst ein düsterer Schreckensfürst hier spukt, findet er oben im Turmzimmer zwei nüchterne Tafeln mit Erklärungen zu Vlad }epe{ und Bram Stoker. Die Törzburg ist das Gegenteil dessen, was ein Freund von inszeniertem Grusel erwartet: ein gut instandgehaltenes Schloss. An dieser Stelle, somit, ein Aufklärungs-Schloss.
Kein Schreckensland, sondern grünes Paradies
Bram Stoker hatte seine Gründe dafür, Dracula in Osteuropa morden zu lassen. Das Wort „Vampir” hat slawische Wurzeln, Osteuropa ist die Heimat des Vampirglaubens, der erste „Vampir” stammt, laut Wikipedia, aus Kroatien. Doch der wichtigste Grund war wohl das Bild Osteuropas im Westen. Ende des 19. Jahrhunderts, zu der Zeit, als Stoker seinen Roman verfasste, war Osteuropa für die Bewohner des Westens der Orient, die barbarische, fremde Bedrohung vor der Haustür; wild, roh, düster, voller Aberglaube, Hexerei und grausiger Begebenheiten. Ein Raum, über den die Leser wenig genug wussten, um ihrer Fantasie freien Lauf lassen zu können. Wer noch heute Osteuropa für einen fremden, gruseligen Ort hält, der tut gut daran, sich nach Schäßburg/Sighişoara zu begeben.
Schäßburg ist ein pittoreskes Städtchen mit elsässisch anmutender Altstadt, bunt, sauber, voller belebter Straßencafés. Souvenirstände neben Sehenswürdigkeiten wie dem Stundturm, der das Museum der Zünfte enthält und von dessen Spitze man die Stadt von oben begutachten kann. Eine Aussicht auf die Umgebung genießt man, wenn man die überdachte Schülertreppe zur Bergkirche hinaufsteigt und über den Bergfriedhof spaziert. Daran, dass in diesem bezaubernden Städtchen 1431 der Pfähler Vlad zur Welt gekommen sein soll, erinnern heute vor allem englischsprechende Männer mit langen Haarzöpfen und schwarzen T-Shirts mit Vampirköpfen oder Tourdaten von Heavy-Metal-Bands.
Für die Vampirfans ist das angebliche Geburtshaus Vlads die wichtigste Sehenswürdigkeit. Es liegt unweit des Stadtturms und wurde tatsächlich erst nach der Geburt Vlads erbaut. Trotzdem steht ein Klappschild in Form eines Vampirgesichts davor und wirbt für das Restaurant in „Draculas Geburtsstätte“. Im Inneren des Lokals hängen alte Schlagwaffen an den Wänden; im Obergeschoss befindet sich ein Folterzimmer, das man für fünf Lei besichtigen kann. Als ich die Eintrittskarte kaufen will, ist der Zuständige allerdings nicht da, ich solle später noch einmal vorbeikommen. Offenbar nimmt man auch im Geburtshaus Vlad }epe{’ diesen nicht so wichtig. Und das muss man auch nicht. Schäßburg ist auch ohne Schreckgestalt einen Ausflug wert.
So erfährt, wer sich auf die Spuren Draculas begibt, zweierlei: Erstens ist Siebenbürgen kein düsteres Schreckensland, sondern ein grünes Paradies mit malerischen Städten. Zweitens herrscht hier kein ungebremstes Marketingdenken, das die historische Wahrheit bis zum Zerreißen dehnt und den Dracula-Mythos ausschlachtet. Gerade auf der Törzburg widersteht man der Verlockung, das Schloss disneymäßig aufzubrezeln. Man hält sich an Tatsachen, auch wenn dies weniger Einnahmen verspricht. Wer weiß, wie lange das so bleibt. Denn derzeit steht die Törzburg zum Verkauf an.