Kurz vor Mitternacht auf dem Flughafen der lettischen Hauptstadt Riga gelandet, empfängt uns die laue baltische Sommernacht. Eine leichte Brise von der Rigaer Bucht her soll uns wohl als Willkommensgruß wohlwollend begrüßen und unsere müden Gesichter aufmuntern, denn auf der Fahrt in die Stadt gab es im nächtlichen Schein der hellen Lichter im Vorbeifahren doch viel Interessantes zu erspähen, vor allem das gelassene Dahingleiten der Düna (lettisch: Daugava)-Wellen kurz vor der Mündung in den Golf (die Bucht) von Riga.
Die kurze Nacht ließ uns die Reisestrapazen gut überwinden, denn die Freude über den für den Vormittag anberaumten Stadtrundgang mit einmaligen Sehenswürdigkeiten weckte allerlei Erwartungen, zumal Rigas Innenstadt 1997 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes Eingang gefunden hat.
Über die Antonjas iele (=Straße) gelangten wir vom Hotel auf die Alberta iela zum Museum Moderner Kunst und zu den zahlreichen Jugendstilbauten, für die Riga weltberühmt ist. Mit seinen 800 gut erhaltenen Gebäuden im Jugendstil überflügelt Riga in dieser Hinsicht Wien mit etwa 500 Jugendstilbauten. Auf der Elisabeth-Straße (Elizabetes iela in der Neustadt Rigas) reihen sich diese Prachtvillen aneinander, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im die Altstadt umgebenden Grüngürtel entstanden sind und als repräsentative Bauten gelten - wie die bereits zwischen 1876 und 1884 im neubyzantinischen Baustil entstandene Orthodoxe Kathedrale, die 1905 erbaute Universität, die neugotische Kunstakademie, das Nationaltheater, das Kunstmuseum und die Nationaloper – Zeugnisse vom damaligen Bauboom.
Man erfährt, dass zirka fünfzig Jugendstilbauten nach Plänen des russischen Architekten deutsch-jüdischer und schwedischer Abstammung, Michael Eisenstein, ab 1893 Baustadtrat von Riga, mit prunkvoll gestalteten Fassaden errichtet wurden. Später zog es Michael Eisenstein nach Berlin, wo er jedoch keine Bautätigkeit entfaltete. In die Filmgeschichte eingegangen ist sein 1898 in Riga geborener, bei Michaels geschiedener russischer Frau, Julia Konezkaja, in Sankt Petersburg verbliebener Sohn Sergej durch seine Revolutionsfilme „Panzerkreuzer Potemkin“ und „Oktober“.
Vor vielen dieser villenartigen historischen Bauten parken Nobelkarossen mit russischen Kennzeichen; viele wohlhabende Bürger der ehemaligen Sowjetunion haben sich hier einquartiert. Überall vernimmt man die russische Sprache. Die Jugend spricht Englisch, mitunter auch etwas Deutsch. Für den Großteil der hier lebenden Russen ist Lettland ihre Heimat; sie fühlen sich keineswegs als Fremde, erblickten doch die meisten hier das Licht der Welt und es ist angenehm, in einem EU-Land zu leben und zu arbeiten, obwohl die Löhne bescheiden sind.
Entlang der Elisabeth-Straße erstrecken sich ausgedehnte Parks und Grünanlagen, die zu einer Rast einladen. Beim Bastei-Hügel passieren wir den Stadtkanal und gelangen am imposanten Freiheitsdenkmal vorbei auf der Kalkstraße (Kalku-iela) ins Zentrum. Gegenüber vom Rathaus, auf dem Marktplatz, befindet sich das eindrucksvolle „Schwarzhäupterhaus“ das ursprünglich 1334 in gotischem Baustil errichtet wurde, doch mit der Fassade im Stil der niederländischen Renaissance. Ab 1477 fanden hier die Versammlungen der kaufmännischen Vereinigung der Schwarzhäupter statt. Diese Bezeichnung geht entweder auf die jungen, männlichen, unverheirateten schwarzhaarigen Mitglieder zurück oder – spekulativ – könnte auch ein Mohr in die Deutung eingebracht werden.
Vor dem Rathaus, in dem Nils Ušakovs, russischer Lette (40 J. alt) – ursprünglich Journalist, – seit 2012 als Bürgermeister fungiert, erhebt sich im Herzen der Stadt die Rolandstatue. Solche meistens aus Sandstein gefertigte Statuen gelten als Symbol der Stadtrechte und werden als Ritter mit bloßem Schwert, dem Richtschwert, dargestellt.
In der zwischen 1860 und 1863 im neoklassizistischem Stil nach Plänen von Ludwig Bohnstedt errichteten Lettischen Nationaloper, zunächst als „Deutsches Theater“ gedacht, erfolgten die heimischen Auftritte der Mezzosopranistin Elina Garanca, der Dirigenten Mariss Jansons, Gidon Kremers, Andris Nelsons u.a. Ältere Spuren des städtischen Musiklebens führen zurück zu Richard Wagner, der vom 21. August 1837 bis zum 7. Mai 1839 als Musikdirektor im Rigaer Stadttheater, in der Königsstraße im damaligen Vietinghoffschen Hause (derzeit Riharda Vagnera iela 4), tätig war. In der alten Hansastadt Riga arbeitete Wagner u. a. an seiner tragischen Oper „Rienzi, der letzte der Tribunen“. Wagner dirigierte in Riga erstmals mit dem Rücken zum Publikum, was den Unmut seiner Dienstgeber auslöste.
Eintauchen in die Stadtgeschichte
Der Namensgeber der Stadt an der Düna vor der Mündung in den Golf von Riga war das Flüsschen Ridzene (deutsch: Riege), das in der Stadt selbst in die Düna mündet. Bereits um 1150 gelangten deutsche Kaufleute nach Livland und errichteten dort einen Handelsplatz. 1201 gründete der Bischof Albert von Buxhoeveden aus Bremen die Stadt Riga, die zur Hauptstadt Livlands und Hanse-Stadt wurde und rasch wuchs. Das gelang vor allem durch die Ostkolonisation, im Zuge derer die Bischöfe deutsche Siedler ins Land holten. Dies erfolgte mit tatkräftiger Unterstützung der Ritterorden, allen voran des Schwertbrüderordens und anschließend des Deutschen Ordens. Es kam zu kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen den Erzbischöfen von Riga und dem Deutschen Orden, wobei die Erzbischöfe im Nachbarstaat Dänemark und beim deutschen Kaiser Schutz suchten. Beim Frieden von Wolmar, nach der Schlacht vom 30. März 1491, erkannte der Erzbischof den Deutschen Orden als Schutzmacht Livlands an.
Nach der Reformation erlangte die Stadt um 1570 den Status einer freien Reichsstadt des Heiligen Römischen Reiches. Nachdem der schwedische König Gustav Adolf II. 1621 die Stadt eingenommen und der vierzigjährigen polnisch-litauischen Herrschaft ein Ende gesetzt hatte, wurde Riga nach Stockholm die zweitgrößte Stadt im Königreich Schweden. Riga blieb bis ins 18. Jahrhundert schwedisch, nachdem es im Russisch-Schwedischen Krieg (1656–1658) der russischen Belagerung getrotzt hatte. Der Große Nordische Krieg besiegelte jedoch das Schicksal der Stadt und ihrer Bevölkerung, denn nachdem sie in der Schlacht an der Düna (19. Juli1701) die Angriffe der russischen Truppen abwehren konnte, ergab sie sich am 4. Juli1710. Riga wurde dem Zarenreich einverleibt und Sitz des Gouvernements Livland. Fürderhin wurde der Schriftverkehr in der „russischen Kanzlei“ (Militärbehörden) und in der „deutschen Kanzlei“ (Landesbehörden) abgewickelt. Gemäß der neuen Stadtverfassung von 1787 wurde der Bürgerschaft ein Mitspracherecht nebst den drei traditionellen „Ständen“ – Magistrat, Große Gilde und Kleine Gilde – gewährleistet.
Riga wurde zu einem wichtigen Hafen und zu einem der bedeutendsten Industriezentren des Zarenreiches, in dem ein Gemisch von verschiedenen Ethnien existierte: Letten, Deutsche, Russen und religiös gesehen: Christen, Juden, Altgläubige u. a.
Obwohl unter russischer Herrschaft, wurden der Großgrundbesitz und die Kultur bis ins 19. Jahrhundert von der deutschen Oberschicht maßgeblich geprägt und bis 1891 blieb Deutsch die offizielle Amtssprache. Im deutschsprachigen Theater wurden im 19. Jahrhundert Konzerte von Clara Schumann, Franz Liszt, Wilhelmine Schröder-Devrient, Anton Grigorjewitsch Rubinstein u. a. gegeben. Bereits im 18. Jahrhundert wirkte hier von 1764 bis 1769 an der Domschule der Dichter und Kultur-Philosoph Johann Gottfried Herder, an den in der Nähe des Domplatzes ein Denkmal erinnert.
Am rechten Düna-Ufer erstreckt sich Rigas Altstadt, ein historisches Juwel, das nach der Beseitigung der Befestigungsanlagen und der Stadtmauer über ausgedehnte Parkanlagen verfügt. Der Stadtkanal markiert die Trennung von Altstadt und Neustadt. Der 1211 von Bischof Albert von Buxthoeven in Auftrag gegebene Bau des Doms, im 14. und 15. Jahrhundert durch Seitenschiffe erweitert, war mehreren Zerstörungen ausgesetzt, seine Orgel gehört zu den mächtigsten ihrer Art weltweit. Zu den ältesten Kirchen der Stadt zählt man die 1209 erwähnte Petrikirche, die ebenfalls mehrere Male zerstört wurde. Die katholische Kathedrale der Stadt – die Jakobskirche –, 1582 vom polnischen König gekauft, wurde den Jesuiten überlassen.
Der Amtssitz des lettischen Staatspräsidenten befindet sich im 1330 errichteten Stadtschloss, das ursprünglich vom Schwertbrüderorden als Festung genutzt worden war. Imposant ist das 1867 errichtete, einem florentinischen Prachtpalais ähnelnden Gebäude, die Saeima, das als Sitz des Lettischen Parlaments dient.
Nicht zu übersehen ist das sich im Übergangsbereich zwischen Alt- und Neustadt befindende Freiheitsdenkmal aus dem Jahre 1935, mit einem 20 Meter hohen Obelisken – eine weibliche Allegorie der Freiheit.
Erwähnenswert sind auch die einstigen Zeppelin-Hallen im südlichen Stadtteil –Moskauer Vorstadt genannt –, der 1958 errichtete Kultur- und Wissenschaftspalast, der an den russischen Zuckerbäckerstil der Stalinzeit erinnert. Im selben Stadtteil sind auch die Ruinen der Synagoge des Rigaer Ghettos von einst erhalten geblieben.Für die Bevölkerung Rigas wie des Baltikums generell liegen diese, geografisch gesehen, nicht an der Ostsee, denn aus ihrer Sicht ist das richtigerweise die Westsee, was ja, genau betrachtet, vollkommen in Ordnung ist.
An für baltische Verhältnisse heißen Sommertagen ist ein Besuch des rund zehn Kilometer vor den Toren Rigas gelegenen Badeortes Jürmala empfehlenswert. Entlang des 20 Kilometer langen weißen Sandstrandes sind die in ihrer Holzbauart errichteten Villen sehenswert. Empfehlenswert sind auch die Schwefelheilquellen im Ort Kemeri.