Wer an diesem Samstag den vorliegenden Text liest, wird etwas klüger sein als der Autor dieser Zeilen zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift, am vorigen Sonntag, gewesen ist. Denn heute müsste schon bekannt geworden sein, wie die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika am Dienstag gewählt haben und wem sie sich für die kommenden vier Jahre anvertraut haben. Richtig hieß es in dieser Zeitung vor einer Woche, dass die Amerikaner zwischen einem rechthaberischen Großmaul, der seit 2016 nicht nur sein Land, sondern die gesamte internationale Szene durchgewirbelt, dabei aber die USA längst nicht wieder groß gemacht hat, und einem debil wirkenden Versöhnling, der wie kaum ein anderer für den Niedergang der „Democratic Party“ steht, wählen mussten.
Dass es Amerika längst nicht mehr gut geht, bezeugen Werdegang, Charakter und Aussagen der beiden Kandidaten, vor allem aber die Tatsache, dass die Demokraten und ihre Anhängerschaft, vom Schock der Trump-Wahl von 2016 längst nicht erholt, keinen besseren Gegenkandidaten aufstellen konnten als Joseph Biden, ein paar Jahre älter als der Amtsinhaber und eigentlich längst pensionsreifer Hoffnungsträger. Man kann sich folgenden Vergleich nicht verkneifen, obwohl er natürlich brüchig ist: Der Zerfall der Sowjetunion begann – aus Gründen, die keiner weiteren Erörterung bedürfen –, als sich die Nomenklatura in eine Gerontokratie verwandelte und auf den alten und kranken Breschnew andere alte und kranke Männer folgten, bis endlich der jugendlich wirkende Gorbatschow Reformen anzettelte, die das Ende nur noch schneller herbeiführten. Ereilt Amerika dasselbe Schicksal?
Die USA sind sicherlich nicht die Sowjetunion, aber wer sich nur die beiden Wahlduelle zwischen Trump und Biden angeschaut hat, wird den Beigeschmack einer grotesken Gerontokratie nicht los: Da streiten sich zwei Männer, ein 74- und ein 78-Jähriger, um die Zukunft eines zerfallenden Imperiums, dessen Machtanspruch auf der Weltbühne längst nicht mehr einfach hingenommen wird; dessen Gesellschaft noch immer an rassistisch gezogenen Demarkationslinien zu zerbrechen droht und darüber hinaus auch noch von der Corona-Pandemie geplagt wird. Amerika ist 2020 keineswegs „greater“ als 2016. Es ist ein gespaltenes, gequältes Land, in dem der Traum von Freiheit, Wettkampf und persönlichem Erfolg zu einem Alptraum von wirtschaftlicher Misere und Ungleichheit, von Rassentrennung und polizeilicher Willkür wurde – sowie von Bürgern, die sich, verängstigt und misstrauisch, in den eigenen vier Wänden verbarrikadieren und Waffen horten wie so mancher Europäer das Toilettenpapier zu Beginn der Frühjahrs-Lockdowns, die nun wieder zur Tagesordnung gehören. Dabei verstanden die Amerikaner ihre Gesellschaft stets als eine Meritokratie, als eine Leistungsgesellschaft, der es gelungen ist, die Freiheit und den Wohlstand im eigenen Land zu sichern und zu mehren und darüber hinaus die Welt vom Nazi- und später auch vom kommunistischen Terror zu befreien.
Der „alten Welt“ gab Amerika schon immer eine Menge Rätsel auf und wahrscheinlich tut es das auch heute. Im 19. Jahrhundert konnte niemand das Wesen der jungen US-Demokratie besser erfassen als der Franzose Alexis de Tocqueville; ihm folgte eine lange Reihe von Reisenden, Schriftstellern, Historikern, Publizisten, Soziologen und Ökonomen, die sich mit dem Geist Amerikas beschäftigten. Aus dem ungehobelten Pionier, der die Wildnis bezwang (und dabei Indianer umsiedelte und ermordete und in Ketten gelegte Afroamerikaner auf Baumwoll-Plantagen zu Tode quälte), wurde später der etwas oberflächliche, aber sich überall einmischende, reiche Onkel, der seine kämpfenden Enkelkinder nach Europa schickte, sich selbst genügte, weiterhin von der „city upon the hill“ träumte; derjenige, der dem Russen sagte, er solle die Mauer abreißen und sich auf weltpolitische Abenteuer begab, die manchmal zu Irrfahrten wurden. Wer versteht noch Amerika?
Von zwei Büchern soll hier die Rede sein, die in diesen Tagen, in denen sich wieder einmal Europäer anstrengen, Amerika zu verstehen, nicht nur Antworten liefern, sondern auch eine Prosa funkelnder Schönheit abgeben. Beide bieten eine angenehme Lektüre, sie sind spannend und aufschlussreich, hoch informativ und doch nicht belehrend.
„Amerika!“ lautet die deutsche Übersetzung des umfassenden Reiseberichts des niederländischen Journalisten und Essayisten Geert Mak. Seine Bücher sind der deutschen Leserschaft bekannt, Mak gehört zu jenen europäischen Intellektuellen, deren Stimme über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus gehört wird. 2009-2010 reiste Mak in Begleitung seiner Frau quer durch die Vereinigten Staaten, er fuhr in einem Jeep Liberty von Sag Harbor auf Long Island im Bundesstaat New York über die Staaten Neuenglands nach Michigan und Wisconsin, kam dann über North Dakota, Idaho und Montana an die Westküste; er besuchte San Francisco und Monterey in Kalifornien, fuhr weiter über die Mojave-Wüste nach Arizona und New Mexico, bereiste dann Texas von Amarillo im Norden bis nach Houston am Golf von Mexiko und beendete seine Erkundung in New Orleans.
Eine einzige Frage beschäftigt den niederländischen Bestseller-Autor: Was ist aus dem amerikanischen Traum geworden? Dabei scheint sich Mak in Amerika zu verlieben, seine Liebe für Land und Leute entdeckt er fernab ausgetrampelter Pfade – in den Vororten der Großstädte, in verlassenen, abgeschriebenen Kleinsiedlungen; stille, für immer dem Verfall preisgegebene Erinnerungen an die große Eroberung der unendlichen Weiten durch den weißen Mann. Mak fährt über Nebenstraßen und durch Orte, die von unglaublicher Armut und unermesslichem Wohlstand, von dem Streben nach Glück, von Freiheitsidealen und deren ununterbrochener Zertretung erzählen. Der niederländische Autor erkundet die Mythen der Amerikaner, ihr Selbstverständnis, er spürt die Großartigkeit der Landschaft und überträgt sie auf die Menschen; er fühlt die Zerrissenheit der Gesellschaft und die Angst breiter Schichten, die kaum über den nächsten Tag kommen. Dabei spricht er mit Farmern und Fabrikarbeitern, mit Lkw-Fahrern, Lehrern und Professoren, mit Ärzten und Fischern, mit Journalisten. Unterschiedlichste Menschen bieten dem stets wachen Erkunder Gelegenheit für außergewöhnliche Beobachtungen und für hinreißende Geschichten.
Mak und seine Frau haben immer einen amerikanischen Begleiter, einen der ganz besonderen Art. Denn im Niederländischen trägt Maks Buch den Titel „Reizen zonder John – op zoek naar Amerika“ („Reisen ohne John – Auf der Suche nach Amerika“) – und dieser John ist kein anderer als der herausragende John Steinbeck, der 1960 gemeinsam mit seinem Pudel Charley durch sein Land gereist ist und 1962 seinen Reisebericht mit dem Titel „Die Reise mit Charley. Auf der Suche nach Amerika“ veröffentlicht hat. Mak folgt Steinbeck auf derselben Strecke und versucht all jene Orte aufzufinden, die Steinbeck erwähnt. Während aber dieser von Enttäuschung zu Enttäuschung durch das weite Land rumpelt, geht Mak nicht in die Falle, die dem enttäuschten Liebhaber und arroganten Europäer droht; er sieht zwar, was zu kritisieren ist und was mitunter auch Steinbeck zu bemängeln hatte, doch seine Prosa ist weder voreingenommen noch verschnupft.
Wem Mak gefallen sollte, aber weiterhin nach Antworten sucht, sei auch Jill Lepores „Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“ empfohlen. Auf mehr als 1000 Seiten erzählt die preisgekrönte Historikerin, die an der Harvard University lehrt, die Geschichte der USA, und dies gelingt ihr auf eine derart frische und neue Art, als hätte man von diesem Land zum ersten Mal gehört, wie es ein Rezensent der Hamburger „Die Zeit“ treffend formulierte. Lepore startet ihren historischen Exkurs mit den Entdeckungsreisen des Kolumbus und beendet ihn mit dem Sieg von Donald Trump. Ihre umfangreiche Rückschau bleibt stets im Spiegel der „Wahrheiten“ von Thomas Jefferson, auf deren Fundament die Vereinigten Staaten gegründet wurden. Doch Lepore erkennt und beleuchtet die inneren Widersprüche der amerikanischen Verfassung und das nie aufhörende, oft blutige Ringen um den richtigen Weg. Im Vordergrund ihrer Erzählung steht der Kampf um Rechte und gegen Diskriminierung: der Indianer, der Afroamerikaner, der Frauen.
Lepores Geschichte der USA ist vor allem eine politische Geschichte. Wirtschafts- oder Kulturfragen werden zwar erörtert, sie bleiben aber Details, die meisterhaft zu einer Gesamtdarstellung miteinander verbunden werden. Von einigen Fachkollegen für den einen oder anderen Fehler kritisiert, gelingt es der Historikerin Lepore dennoch, die Geschichte der USA unterhaltsam und unprätentiös darzustellen. Anschaulich und lebendig, mitunter mit dichterischer Verspieltheit geschrieben, lässt Lepores Buch die Quellen selbst zu Wort kommen; den zwar präsenten analytischen Rahmen drängt sie dem Leser kaum auf. Bekannte und unbekannte Gestalten der amerikanischen Geschichte werden klug eingeordnet, einfache Menschen jenseits der großen Bühne der Politik werden in die Erzählung eingebunden und mit Symbolkraft beladen.
Wer Jill Lepores Buch wie auch Geert Maks Band in die Hand nimmt, wird sie sicherlich klüger als zuvor wieder zuklappen.