Aufsitzen und das Pferd reiten

Martxelo Otamendi ist neuer MIDAS-Präsident – Die Suche nach dem richtigen Weg in die Zukunft

Foto: Primorski Dnevnik/Carlo Sclauzero

 

Der Baske Martxelo Otamendi (67) wurde beim Kongress der Europäischen Vereinigung von Tageszeitungen in Minderheiten- und Regionalsprachen (MIDAS) in Nova Gorica/Gorizia/Görz zum Präsidenten gewählt. Er folgt auf Edit Slezák von der ungarischen Zeitung „Új Szó“ in der Slowakei. Das Interview führte Hatto Schmidt.

Sie werden MIDAS-Präsident in einer für seriösen Journalismus im Allgemeinen und erst recht für Minderheiten-Tageszeitungen schwierigen Zeit. Welche Herausforderungen sehen Sie auf den Journalismus zukommen? 

Wir leben in der größten Krise des Journalismus seit vielen, vielen Jahren. Ich denke, dass sogar der Beruf an sich in Frage gestellt ist. Seit zwei Jahrhunderten war er ein Job für Journalisten. Wir arbeiteten mit Nachrichten und verkauften sie an unsere Käufer und Abonnenten, an unsere Leser. Das war ein sehr exklusiver Club: Es gab Medien, es gab Journalisten, und es gab die Käufer. Das hat sich sehr stark verändert. Nun gibt es viele Menschen, die im Medienbereich tätig sind. Einige betreiben Journalismus, andere machen etwas, das wie Journalismus aussieht, aber keiner ist. Viele Leute arbeiten heute im Internet und auf vielen unterschiedlichen Plattformen. Wer davon ist Journalist? Kann jeder von uns Journalist sein, oder werden wir immer noch Mitglieder eines sehr exklusiven Clubs sein, des Clubs der Journalisten?  Wir haben Zweifel an unserer Arbeit, an unserem Beruf. 

Auch wirtschaftlich ist der Journalismus in Krise. 

Für die großen Medien waren die letzten zwei Jahrhunderte ein sehr gutes Geschäft. Sie haben viel Geld verdient. Es gab sehr starke Unternehmen, in einigen Fällen mit Hunderten von Journalisten. Ich spreche von den großen Zeitungen, von sehr großen Unternehmen mit einem großen Einfluss auf das gesellschaftliche und politische Leben, die sehr unterschiedliche Interessen verfolgen, seien es politische oder wirtschaftliche. Nun sehen sich historische Unternehmen wie „New York Times“, „Wa-shington Post“ und andere vor riesige Herausforderungen gestellt. 

Dann wird es wohl für Medien, die in kleinen Sprachen veröffentlicht werden, noch viel schwieriger werden?

Manchmal denke ich, dass kleine Strukturen besser überleben können als große, denn es ist sehr schwierig, mit so einer großen Struktur zu arbeiten, wenn man Hunderte von Mitarbeitern und Hunderte von Journalisten hat, die über die ganze Welt verteilt sind. Ich denke, dass es für sie schwieriger sein kann, mit dieser Krise umzugehen, als für uns. 

Auch die neuen Technologien sind eine Herausforderung für den Journalismus. 

Viele Jahre lang gab es keine Veränderungen. Es gab Ereignisse, Journalisten, die die Geschichte erzählten, und Menschen, die die Geschichte kauften, die von Journalisten erzählt wurde. Früher gab es Schreibmaschinen, dann kamen elektrische Geräte und später die Computer, es gab nun spezielle Redaktionssysteme. Jetzt aber bricht ein neues Zeitalter an: Die künstliche Intelligenz könnte eine der größten Herausforderungen werden, vor die wir je gestellt wurden, weil es für die Menschen sehr schwierig werden wird, zwischen Wahrheit und manipulierten Nachrichten zu unterscheiden.

Minderheiten-Tageszeitungen sind in der Regel kleine Zeitungen. Können sie diese Herausforderung bewältigen?

Wir sind es gewohnt, in Krisen zu arbeiten, weil wir klein sind. Wir wissen, wie man es macht, und wir müssen unser Bestes tun, um weiterhin Medien in einer kleinen Sprache, einer Minderheitensprache, zu veröffentlichen. Viele der Mitglieder von MIDAS sind es gewohnt, unter sehr harten und schlechten Bedingungen zu arbeiten. 

Muss man künstliche Intelligenz als Gefahr ansehen, oder könnte sie auch hilfreich sein?  

Sie kann beides sein. Einige der Dinge, die wir jeden Tag benutzen, haben einen doppelten Nutzen. Wir müssen aber wissen, wie wir die künstliche Intelligenz in unserer täglichen Arbeit einsetzen. Im Grunde genommen sollte unsere Arbeit dieselbe sein wie seit jeher: Wir müssen recherchieren, Interviews führen, Artikel und Kommentare schreiben. Wir wissen nicht, wie wir in den nächsten zehn oder 20 Jahren leben werden. Ich denke, es ist das erste Mal in der Geschichte, dass wir nicht sehen können, wo uns die neue Art von Technologie hinführt. Am Anfang schrieb der Journalist mit einem Stift, dann mit einer Schreibmaschine, und dann mit dem Computer. Aber im Grunde war es dasselbe: wir haben geschrieben, und der Text wurde von uns geschrieben, nicht von einer Maschine. 

Das scheint sich gerade definitiv zu ändern. 

Heute sehen wir, dass viele Nachrichten von einem Computer generiert werden, nicht von einem Menschen, von einem Journalisten. Das Schwierigste für mich ist zu sehen, dass wir uns nicht vorstellen können, wie wir in Zukunft arbeiten werden, wie die Medien in den nächsten zehn Jahren arbeiten werden. Wird es in den nächsten 20 Jahren überhaupt noch Bedarf an Journalisten geben? Oder es ist eine Frage von Maschinen? Das ist die Zukunft, der wir uns stellen müssen. Aber das wird auch im Bereich der Medizin geschehen, bei Autos, Flugzeugen und in der Literatur. Es wird Bücher geben, die von künstlicher Intelligenz geschrieben werden. Die neuen Technologien sind eine große Chance, aber ich weiß nicht, wie wir das positiv gestalten können, anstatt es negativ für uns zu sehen, für uns, für die Gemeinschaft, für unsere Leute, für unsere Arbeit, für unsere Sprachen. 

Was kann MIDAS tun, um den Mitgliedern in dieser Situation zu helfen? 

Wir müssen zusammenarbeiten und versuchen, uns gegenseitig zu helfen, wie wir es immer getan haben. Es gab in der MIDAS immer jemanden, der schneller war als andere. Wir müssen unser Wissen unter den Mitgliedern teilen und ständig Erfahrungen austauschen und versuchen, außerhalb von MIDAS Experten zu finden, die uns zeigen, wie wir künftig arbeiten können, oder die uns Ideen geben, wie die Zukunft aussehen wird, was wir als kleine Medien angesichts dieser technologischen Veränderungen und neuer Tendenzen tun können. Es wird für die MIDAS-Mitglieder nicht einfacher sein, neue Arbeitsweisen zu entwickeln, aber wir müssen sehr genau verfolgen, was andere tun. Und wenn jemand eine gute Idee hat, sollten wir in der Lage sein, sie schnell mit anderen Mitgliedern zu teilen. Denn – ich wiederhole – es ist das erste Mal in unserem Beruf und in allen anderen Bereichen der Welt, dass wir nicht sehen können, wie wir in den nächsten zehn bis 20 Jahren arbeiten werden. Die Entwicklung der Technologie wird exponentiell sein, sie wird äußerst schnell vo-rangehen.

Eines der größten Probleme der Medienlandschaft ist, dass die Zahl der Print-Leser zurückgeht, sie werden älter, und die jüngeren Leute kaufen keine gedruckte Zeitung, sie wollen auch nicht für Online-Inhalte bezahlen. Wie kann seriöser Journalismus Einnahmen generieren, die die Kosten decken und Geld für Investitionen zur Verfügung stellen? 

Wir sind Zeitungen von sprachlichen Gemeinschaften. Unsere Leser unterstützen die Sprache, das ist für sie das allerwichtigste Element. Wir müssen sehr nahe an unserer Gemeinschaft sein. Die Leser müssen das Gefühl haben, dass wir ihnen einen Dienst erweisen, und dass die Situation der Sprache sehr schwierig würde, falls die Medien in dieser Sprache verschwinden. Der Schlüssel für die Zukunft – und das war auch in der Vergangenheit der Schlüssel, es ist immer das Gleiche – besteht darin, unserer Gemeinschaft nahe zu sein: unseren Leser, unseren Sponsoren, den Werbekunden. Wir müssen die öffentliche Verwaltung davon überzeugen, dass es sehr schwierig sein wird, die Sprache zu erhalten, wenn sie keine Schulen, Medien und Sprecher hat. Die Sprache ist für uns ein sehr wichtiges Element, um Erfahrungen mit unserer Gemeinschaft zu teilen. Deshalb müssen wir ihr sehr nahe sein, und sie muss das Gefühl haben, dass wir ihr einen Dienst erweisen. Und sie muss stolz auf unsere Arbeit sein. Das ist sehr wichtig. 

Es gibt riesige Unterschiede bei der Größe dieser Gemeinschaften. Welche Rolle spielen diese Unterschiede?

Deutsch ist eine große Sprache. Für die deutsche Sprache wäre es kein großes Problem, wenn die Medien in Südtirol verschwinden. Aber es wäre ein großes Problem für die Gemeinschaft der Deutschsprachigen in Südtirol. Bei kleinen Sprachen wie Baskisch, Galizisch oder Katalanisch wäre es ein großes Problem für die ganze Sprache, nicht allein für die Gemeinschaft, vor allem für die Sprache. 

Nach dem „Nordschleswiger“, der im Februar 2021 von Print auf Online umgestellt hat, haben zu Jahresbeginn auch zwei andere MIDAS-Mitgliedszeitungen in Rumänien, zwei ungarischsprachige Zeitungen, dasselbe getan. Wie sehen Sie diese Entwicklung? 

Wir können den Lauf der Geschichte nicht ändern. Die Zukunft kommt. Wir haben jetzt Elektroautos, und in den nächsten Jahren wird es mehr und mehr davon geben. Wir müssen uns weiterentwickeln, wir müssen uns bewegen, wir müssen mit den Veränderungen Schritt halten. Wenn das Pferd kommt, musst du es reiten. Du kannst nicht sagen, nein, ich mag kein Pferd. Es geht um die Zukunft! Wenn also das Pferd kommt, musst du aufsteigen und es reiten. Wir müssen so handeln, wie wir es immer getan haben,  aber immer mit der Unterstützung der Gemeinschaft. Es geht um die Gemeinschaft, und nur darum. Die Gemeinschaft wird uns retten, und wir werden die Gemeinschaft retten, jeder den anderen. Wenn wir unsere Gemeinschaft hinter uns haben, die uns Schutz gewährt, wird sie uns Geld geben und unsere Arbeit gut bewerten. Nichts war einfach, und nichts wird in Zukunft einfach sein.

Muss MIDAS den Weg für Online-Zeitungen öffnen, die nicht in gedruckter Version erscheinen? 

Ja. Am Anfang gab es keinen Platz für Online-Zeitungen in MIDAS. Um Mitglied zu werden, musste man in Papierform veröffentlichen. Aber die Zukunft ist online. Als die Journalisten in Galicien ihre neue Zeitung „Nós Diario“ als auf Papier gedruckte Zeitung gründeten, sagte ich zu ihnen: Ihr seid verrückt! Ihr werdet die letzte neu gegründete Zeitung auf der Welt sein, die gedruckt wird: Niemand gründet mehr Medien in Papierform! Wir müssen uns an die neuen Veränderungen anpassen. Jetzt sprechen wir über Online, aber was wird in den nächsten zehn Jahren sein? Was für Mitglieder wird MIDAS in den nächsten zehn Jahren haben? Ich weiß es nicht. Aber es wird sie geben. Es ist wohl das erste Mal in der Welt, dass wir nicht wissen, was in zehn Jahren sein wird. In den letzten 200 Jahren konnte man es sich ausrechnen, weil der Wandel sehr langsam war. Aber jetzt geht alles sehr, sehr schnell. Das Wichtigste ist, offen für die Veränderungen zu sein, das Pferd zu nehmen und es zu reiten. 


Martxelo Otamendi 
Martxelo Otamendi war seit deren Gründung im Jahr 2003 bis 2024 Chefredakteur der ausschließlich in baskischer Sprache erscheinenden Tageszeitung „Berria“. Zuvor war er seit 1993 für die Vorgängerzeitung „Euskaldunon Egunkaria“ verantwortlich gewesen. Diese wurde 2003 von der spanischen Justiz unter der Anklage der Unterstützung der baskischen Terrororganisation ETA geschlossen. Otamendi wurde zusammen mit neun weiteren Redakteuren und Verlagsmitarbeitern verhaftet. In der Haft, die über ein Jahr andauerte, wurden sie gefoltert. Hunderttausende Menschen protestierten auf den Straßen von Donostia/San Sebastian gegen dieses Geschehen in einem angeblichen Rechtsstaat. Der Skandal erregte europaweit Aufsehen. 2010 wurden alle Angeklagten letztinstanzlich von den Vorwürfen freigesprochen, die Schließung der Zeitung für unbegründet erklärt. 2012 wurde Spanien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für schuldig erklärt, den Foltervorwürfen nicht nachgegangen zu sein.