Weit verreisen macht Spaß, oder? Auch wenn es nicht unbedingt nur mit Ferienplänen zu tun hat. Als es vor Zeiten noch gang und gäbe war, sein Bündel zu schnüren und sich die Welt auf Schusters Rappen zu erlaufen, wusste kaum jemand, was unter „Erholung“, „Auszeit“ oder „Urlaub“ zu verstehen ist. Man leistete eben, was Not tat. Reisen war eine aufregende Sache, und für Leute, die etwas für ihr Leben lernen wollten, sogar ein Muss. Aber eines, das man nicht als lästige Pflicht empfand. Heute ist es nicht anders. Nur mit dem Unterschied, dass man sich wünscht, die Monate im Voraus geplante Reise möge schnell gehen. So viel Zeit wie möglich verbringen möchte man schließ-lich nicht unterwegs, sondern am Zielort.
Das Ankommen von drei Lehrerinnen und fünf Schülerinnen des Samuel-von-Brukenthal-Gymnasiums am späten Nachmittag des 26. Mai an der Ostseeküste Lettlands war verkehrstechnisch kein Problem. Von Hermannstadt/Sibiu nach Riga über München als einzigem Zwischenstopp der Reise in luftiger Höhe ging das 21. Jahrhundert als Zeitalter eines super ausgefeilten Flugzeug- und Flughafenbaus wieder mal als Sieger aus dem Vergleich mit der Vergangenheit hervor. War sie schlechter, nur weil langsamer? Natürlich nicht.
Mit Lufthansa und airBaltic jedoch klappt es, zügiger als vormals in das ganz schön weit weg liegende Baltikum zu reisen. Und trotz all der maschinellen Fortschrittlichkeit unserer Zeit hat sie jede Menge mit Handwerk zu tun, die Luftfahrt. Immer noch sind es Menschen, die Flugzeuge bauen und sie als Piloten im Cockpit vom Start- zum Landeflughafen steuern. Ob klarer Zufall oder nicht: Zwischen der Ostseehafenstadt Liepaja – von ihrer Fläche her fast genau so groß wie Mediasch in Siebenbürgen, aber um 30.000 Einwohner stärker – und ihrem kleinen Nachbarort Grobina liegt ein Trainingsgelände für Übungsflugzeuge der Pilotenakademie von airBaltic. Sie ist voll im Rennen, die 1995 vom lettischen Staat in den Luftraum lancierte Verkehrsgesellschaft.
Die Bildungsreise der drei Lehrerinnen und fünf Schülerinnen vom Brukenthal-Gymnasium führte sicher-heitshalber nicht hin, sondern nur daran vorbei. Liepaja und Grobina dagegen waren die Orte, in deren Umkreis unlängst an den letzten fünf Tagen im Mai die letzte Begegnung des Erasmus-Plus-Projekts „Entrepreneurial journey – reanimating craftsmanship“ stattfand. Für das Finale des Projekts, worin es seit 2019 um nichts anderes als Handwerk ging, traf man sich aus Portugal, Griechenland, Österreich und Rumänien flugs in Lettland. Gastgeberin war für diesmal endlich die Sekundarschule Grobina. Sie ist nach der lettischen Schriftstellerin Zenta Maurina benannt.
Europa für alle
Statt für bestimmte handwerkliche Fähigkeiten ist die 1978 im Exil verstorbene Namensgeberin der „Grobinas vidusskola“ wegen den Essays ihrer Handschrift berühmt geworden. An ihrer schwierigen Wortwahl aber können selbst erwachsene Muttersprachler sich die Zähne ausbeißen. Denn „europäische Kultur ist Wechselwirkung, gegenseitige Durchdringung gegenwärtiger und vergangener Kulturen, harmonische Einheit organischer Mannigfaltigkeit.“ Nur jemand wie Samuel von Brukenthal hätte sich mit Zenta Maurina intellektuell auf Augenhöhe unterhalten können. Soll und muss es auch heute so kompliziert zugehen? Nichts gegen gescheite Köpfe, aber Europa und die Welt können nicht nur aus Akademikern und Berufsdenkern bestehen. Besser noch, wenn Schule und Handwerk zusammengehen.
Man braucht nämlich einander und kann auch beim Arbeiten mit Werkzeug und Rohmaterial statt Papier und Stift ganz besonders viel Spaß haben. [tefania Bala{, Ana Pali{tan, Paula Dörr, Noemi Suveic² und Ingrid Wander dürften es seit der Rückreise von der Erasmus-Plus-Projekt-Begegnung in Lettland nur bejahen. Auch ihren Lehrerinnen vom Brukenthal-Gymnasium Dana Cre]eanu (Chemie), Cristina Varga (Englisch) und Bianke Grecu (Deutsch) war spät abends nach der Landung am Flughafen Hermannstadt helle Begeisterung über die Erfahrung und das Erlebnis Lettland anzusehen.
Einprägsam, orientierend und verblüffend
Ein Hammer aus der Heimwerkstatt, frische Blüten und grün im Saft stehende Stängel kleiner Pflanzen reichen aus, weiße T-Shirts oder Leinen-Taschen nach Lust und Laune mit Blumenmustern zu bedrucken. „Eco Printing“ heißt diese Technik, die in der Tat ohne Chemie auskommt. Schön laut allerdings ist sie, sobald zehn oder noch mehr Leute simultan auf ihre Kreationen einhämmern. Still wurde es dagegen im Dachgeschoss derselben Sekundarschule in Grobina, wo Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sich Buntstifte griffen und Vordrucke von tierischen oder menschlichen Trickfilm-Figuren ausmalten. Das Scannen der QR-Codes zauberte kurze 3D-Animationen mit den von Hand gefärbten Modellen auf die Smartphones.
Am dritten Tag der Begegnung wurde es noch eine Spur lebendiger – weil das schweißtreibende Spionagespiel „Flucht aus der UdSSR“ nichts mit digitaler Animation zu tun hatte. Es stieg unter Führung jungen Personals der lettischen Armee ganz nahe am Ostseestrand im Norden von Liepaja und führte durch manchen Tunnel von den Ruinen der Befestigungsanlagen, die das Zarenreich hier 1908 hatte bauen lassen. Eine Nachstellung der historischen Zeit von 1945 bis 1991, bei der auch Gasmasken und Dunkelheit nicht fehlen durften. Ingrid Wander zufolge „ein bisschen schrecklich“, und für Paula Dörr auch mit einer Portion „Grusel“ verbunden. „Ein interessantes Erlebnis, das ich aber nicht unbedingt wiederholen würde“, meinte Ana Pali{tan Stunden später auf dem Weg zum freien Ostseestrand von Liepaja.
Selber Hand anlegen war erwartungsgemäß auch im Werkraum der gastgebenden Schule die Devise. Der Tischler vom Haus – einer mit Leib und Seele, selbstverständlich – schenkte allen, ob Erwachsene oder Jugendliche, hölzerne Kügelchen, ein Stück dicken Faden und ein in Form gedrechseltes Stück Holz mit vorgebohrten Löchlein. Dreierlei Dinge, aus denen verflixte Fadenspiele und logischerweise Mitbringsel mit Pfiff für die Familie und Freunde zuhause gebaut werden konnten. Bauklötze staunte Bianke Grecu vom Brukenthal-Gymnasium Hermannstadt beim Verlassen des Werkraumes der baltischen Projekt-Partner. Drei Tage später erklärte eine Frau vom Team des „Amatnieku Nams“ (lettisch für „Handwerks-Haus“) in der Altstadt von Liepaja, dass in ganz Lettland das Üben einfachen Arbeitens mit Leder, Holz und Metall zur Allgemeinbildung an den Schulen zählt.
Gute Bildung von Angebot und Nachfrage
Also rührt die Wertschätzung der Letten für Handwerke nicht eben von ungefähr. Die Exkursion nach Kuldiga, das nicht an der Ostsee liegt, aber trotzdem verdient als „Venedig Lettlands“ gilt, zeigte an, warum der mittlere der drei baltischen Staaten wirtschaftlich zwar nicht aus der EU heraussticht, kulturell jedoch besonders stark ist: einmal jährlich im Sommer versammeln sich zig Tischler Lettlands in der Altstadt von Kuldiga, um kostenlos neue Qualitäts-Fenster für historische Häuser von Bewohnern zu bauen, die es sich sonst aus eigener Tasche kaum oder gar nicht leisten könnten. So bäckt Gesellschaft zusammen.
Apropos Backen – das international besetzte Erasmus-Plus-Projekt „Entrepreneurial Journey – Reanimating Craftsmanship“ endete am Montagabend, dem 30. Mai, vor den beiden Holzöfen der Bäckerei „Alejas“ im lettischen Rucava an der Grenze zu Litauen. Alle Teilnehmer verzierten je ein Brot mit mehreren Sorten Samen, ehe es zum Ausbacken in den Ofen geschoben wurde. Auch ich als Zeitungs-Reporter des Teams vom Brukenthal-Gymnasium durfte Körner auf ein Stück Teig streuen. Die Brotscheiben, die ich zuhause in Hermannstadt davon abschnitt, waren so kräftig, dass es für knappe zwei Wochen reichte. Lettland hat gesund satt gemacht. Sogar das eigentlich einfache Rühren von Butter in einem alten Backsteinhaus inmitten des lettischen Kurlandes traf bei allen voll in den Geschmacksnerv. Selbermachen ist der beste Trick, nicht zu stark von Importware abhängig zu werden. Nebenbei exportiert er auch noch Freundlichkeit.