Chaos, Angst, Hunger, Heimweh und die unbändige Sehnsucht nach einer Welt, die es nicht mehr gab...

Über die Flucht der Banater Deutschen im Zweiten Weltkrieg – Erzählberichte von Zeitzeugen

Werner Kremm und Anton Sterbling (rechts) bei der Vorstellung des Buches auf den Literaturtagen in Reschitza im April dieses Jahres Foto: George Dumitriu

Das spannende 709 Seiten starke Buch soll dieses Jahr auch im Bukarester Goethe-Institut vorgestellt werden.

„Bloß bis Ungarn hieß es, nach dem Kampf kommen wir wieder. Wer verlässt schon gern sein Zuhause?“ So erinnerte sich Elfriede Müllers Mutter aus Tschanad, damals ein Kind, an ihre Flucht, als die Front im Zweiten Weltkrieg sich ihrem Banater Heimatort näherte. Tatsächlich kehrte nur die Hälfte der Familien wieder nach Hause zurück. Ausschlaggebend dafür war nicht nur die große Hungersnot, die in Deutschland, wo sie ankamen, herrschte, sondern oft auch die Sorge um Mann oder Sohn, die in russische Kriegsgefangenschaft geraten waren, oder schlicht und einfach: Heimweh. Und dann? Dann wartete zu Hause auf viele Rückkehrer die Deportation in die Sowjetunion oder in die Bărăgan-Steppe. Im besten Fall fanden sie einfach nur ihre Häuser besetzt vor. Und ausgeplündert, natürlich. 

„Der absolute Kriegswahnsinn: Es gab Familien, in denen der eine Sohn in der rumänischen, der andere in der deutschen Armee diente“, schreibt Elfriede Müller weiter. Und ab dem 23. August 1944 – dem Tag, an dem das zuvor mit Deutschland alliierte Rumänien die Fronten wechselte und sich an die Seite Russlands schlug, sollten diese Brüder plötzlich als Feinde gegeneinander kämpfen. Ihr Bericht im Sammelband „Flucht der Deutschen aus dem Banat im Herbst 1944:  Erzählberichte“, 2024 herausgegeben von Albert Bohn, Werner Kremm und Anton Sterbling gehört zu jenen, die am meisten unter die Haut gehen. Genau dieser Gänsehauteffekt aber ist, was den vorliegenden Erzählband von herkömmlichen Geschichtsbüchern unterscheidet: das authentische (Mit-) Erleben!  Auch wenn Erinnerungen immer auch Unschärfen und Lücken aufweisen und sie manchmal etwas holprig aufgeschrieben wurden. So, wie  der Mensch sich eben erinnert, nach fast 80 Jahren. Oft sind es, wie bei Elfriede Müller, auch die Erinnerungen der Eltern, innerhalb der Familie weiter und weitererzählt. Ihre Beweiskraft liegt in der Masse. Und in den Details, die sich Erzählung für Erzählung wie Puzzlestücke zu einem bunten Löcherteppich zusammenfügen. Die trockenen historischen Daten werden mit visuellen Eindrücken, Geräuschen, Gerüchen und lebhaften Gefühlen beladen. 

Würfelzucker im Straßengraben

Es war Sonntag, der 24. Oktober 1944: „Das ungarische Militär retirierte vor den Russen“, zitiert Elfriede Müller die Erinnerungen ihrer damals 13-jährigen Mutter weiter. Um schneller voranzukommen, warfen sie Lebensmittel von den Pferdewägen. Kisten mit Würfelzucker purzelten in den Straßengraben! Man kann sich vorstellen, wie die Kinder vielleicht ausströmten, um die Kostbarkeiten einzusammeln... Doch dann wurde es lähmend still in den Straßen. Etwa um 15 Uhr erreichte die Rote Armee das Dorf. „Die Mütter versteckten sich mit ihren Kindern in den Kellern und harrten tagelang aus.“ Man hatte Angst vor Übergriffen und Vergewaltigungen. Kurz darauf: russischer Gesang, Schreie, das Rattern der Pferdewägen und das Brummen der Autos. In den Häusern verlangten die Soldaten Lebensmittel und – komischerweise –  Uhren! Zwei Soldaten hielten dem Großvater von Elfriedes Mutter das Bajonett an den Hals: Er solle ein Schwein für sie schlachten. Nachts drangen betrunkene Sowjets in Häuser ein und vergewaltigten Mädchen und Frauen. „Eine junge Frau, Jahrgang 1926, legte sich samt Kleidung in frische Kuhfladen, übernachtete im Stall, konnte sich so aber vor Übergriffen schützen“, erinnerte sich das Mädchen.

Lange bevor die Menschen aus Tschanad flüchteten, hatte sich das Unheil schon angekündigt: Im Sommer 1944 waren immer mehr rumänische Flüchtlinge aus Bessarabien und der Bukowina ins Dorf gekommen. Und geläutert von der eigenen Fluchterfahrung schreibt Elfriede Müllers Mutter später, es zeitlebens bereut zu haben, den sehr armen Flüchtlingen in ihrer unmittelbaren Nähe – ein Vater mit drei Töchtern, die Mutter der Mädchen war auf der Flucht gestorben – damals nicht mehr geholfen zu haben. „...ihr Hauptessen bestand aus Kleie. Es wäre unserer Familie ein Leichtes gewesen, etwas mehr vom Eigenen abzugeben.“

Historische Hintergründe

Hans Haas berichtet von den Begleitumständen der Flucht: Nachdem am 23. August 1944 der kommunistisch inspirierte Staatsstreich von König Michael I. stattfand, bei dem der rumänische Regierungchef, Marschall Ion Antonescu, abgesetzt wurde und Rumänien aus der antisowjetischen Koalition mit Deutschland austrat, hatte Hitler zur Vergeltung am 24. August Bukarest bombardieren lassen. Darauf erklärte Rumänien am 25. August seinem ehemaligen Waffenbruder den Krieg. Sämtliche im Land befindlichen deutschen Truppen mussten innerhalb von 48 Stunden abziehen, danach würde auf sie geschossen.

Im Banat fand daraufhin der „geordnete Rückzug“ deutscher Einheiten aus Süd-Rumänien sowie Teilen der Wehrmachts-Heeresgruppe E aus Griechenland statt. Hinzu kamen Kampfgruppen der 7. SS-Freiwilligen-Division „Prinz Eugen“, welche den Sowjets und Tito- Partisanen in Serbien weichen mussten. Ihr Kommandant war der aus Siebenbürgen stammende Artur Phelps, dessen Ernennung gezielt erfolgt war, um Freiwillige aus der deutschen Minderheit in Rumänien zu rekrutieren.

Durch die Kriegserklärung Rumäniens an Deutschland war es den Russen nun möglich, schneller nach Westen vorzudringen. Erste russische Spähtrupps wurden schon Mitte/Ende September in Semiklosch gesichtet. Immer wieder kam es zu Übergriffen auf die zivile Bevölkerung: Schlachtvieh und Pferde wurden beschlagnahmt, es gab Vergewaltigungen und vereinzelt Erschießungen. Als die Russen kurzfristig zurückgedrängt wurden, rief die Volksgruppenführung die deutsche Bevölkerung dann zur allgemeinen Flucht gen Westen auf. „Hier soll aber festgehalten werden, dass weder die Russen noch die Rumänen die deutsche Bevölkerung direkt zur Flucht getrieben oder gedrängt haben“, präzisiert Hans Haas. Es sei damit fraglich, ob es ohne diese Propaganda und das Bedrängen durch Volksgruppenfunktionäre überhaupt in einem solchen Ausmaß zu einer Flucht gekommen wäre, gibt er zu bedenken. 

Die „barfüßigen Russen“ auf den Fersen

„Die sich zurückziehende Wehrmacht ging in den Dörfern von Haus zu Haus und forderte die Menschen zur Flucht auf“, erzählt Mitherausgeber Werner Kremm, dessen Eltern und Großeltern mütterlicher- wie väterlicherseits und aus Großnikolaus stammend, ebenfalls betroffen waren, bei der Vorstellung des über 700 Seiten starken „Monsterwerks“ auf den Literaturtagen in Reschitza im April dieses Jahres. Schon damals hieß es, wer nicht gehe, riskiere, von den Russen deportiert zu werden. 

Dabei war das Schicksal mit den deutschen Einwanderern ins Banat auch vorher schon nicht zimperlich umgegangen, ruft er dem Publikum in Erinnerung: „Den Ersten der Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot, sagte man über die ersten drei Generationen, und ausgerechnet diese Dritten mussten dann flüchten…“.  

Kremm verweist aber auch auf die planerische Meisterleistung dieser Flucht: „Für 500 Planwagen mit 1000 Pferden aus einem Dorf mussten Unterkünfte bereitgestellt werden.“ Und auf die Ironie der Lage: „Die barfüßigen Russen jagten die organisierte Wehrmacht vor sich her!“ Einer der berühmtesten Offiziere in dieser Funktion, der drei Tage in Großsanktnikolaus verbrachte, sei übrigens der spätere österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim gewesen.

Gleich zweimal geflüchtet sind die Eltern von Mitherausgeber Anton Sterbling: Als die Lage besser schien, waren sie zurückgekommen. Doch nicht nur wurden Rückkehrer als Drückeberger vor der Russland-Deportation verunglimpft, meist haben sie auch alles verloren, und so mancher ist anschließend noch in den Bărăgan deportiert worden. 

Die Erlebnisberichte – „Erzählberichte zum Fluchtgeschehen, zu traumatischen Erlebnissen, Heimweh und der Sehnsucht nach der Welt, die es nicht mehr gab“, so der eingängliche Widmungstext – kamen nach öffentlichen Aufrufen zustande und gehen bis heute ein, erzählt Kremm, der bereits an einen Fortsetzungsband denkt. 

„Die Geschichte ist eine große Lehrmeisterin. Leider fehlen ihr meist die Schüler“, zitiert er die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann im Nachwort an seine Landsleute. Der Erfolg des Buches – denn die in Reschitza vorgestellte ist bereits die zweite Auflage – straft Bachmann wohl ausnahmsweise Lügen. Oder übersteigt das Gelesene schlicht die Vorstellungskraft der Menschen? 

Nie wieder schien ihr Bettwäsche weißer

Was Flucht außer Heimweh, Unsicherheit, Ungewissheit, Chaos und Angst noch alles bedeutet – nämlich unsäglicher Dreck, Durchfall, Krankheit, Hunger, Hilf- und manchmal Rücksichtslosigkeit – wird aus dem Erzählbericht von Käthe Schmidt sehr deutlich. Schwanger und mit drei kleinen Kindern war sie zusammen mit einer Freundin und deren Kindern nach Österreich geflüchtet, die Männer noch an der Front. Ein Wehrmachtsauto brachte sie fort aus ihrem Heimatdorf. Zurück blieben beide Eltern, winkend, ein Bild, dass sich der jungen Frau schmerzlich einprägte, ahnte man doch, dass es ein überstürzter Abschied für immer war, und doch hatten sie die Tochter zur Flucht gedrängt. „Fort, für immer fort…“ 

Die Flüchtenden kamen zuerst auf Bauernhöfen unter. Nicht immer waren sie willkommen. „Dann erging der Befehl, dass die Serben uns zur Donau fahren sollten“, erzählt Käthe weiter. Sie verbringt mit der Kleinsten eine Nacht in einem Kuhstall, die Freundin hütet mit den übrigen Kindern den Pferdewagen, „sonst hätten wir die Serben nie wiedergesehen“. 

Auf der Donaufähre in Baja herrscht Chaos: Menschen, Tiere, Pferdegespanne und Wehrmachtswägen drängen ohne Rücksicht auf andere auf die enge Zufahrt. Vor ihren Augen versinkt ein überlanger Wagen voller Menschen, dessen Pferde durchgegangen waren, in der Donau. „Kein einziger Arm hatte sich zur Hilfe gerührt.“ Das Bild verfolgt sie lange in den Träumen. 

Im Bahnhof von Batasek kalter Oktoberregen: Ihre Schar war inzwischen auf fünf Frauen und 21 Kinder angewachsen. Tagelang warten auf einen Zug. „Mein Gott, wie sahen bloß unsere Kinder aus! Strümpfe und Kleider klebten an ihrem Körper. Der war voller eitriger Ausschläge und Wunden.“ Dem schwer ergatterten Zug fehlen dann mal Kohlen, mal Wasser für die Dampflok, schleppend geht es voran. Als plötzlich gar keine Züge mehr fahren, werden sie wieder auf Wehrmachtautos verladen. Käthe sitzt mit der jüngsten Tochter, die fiebert und an Durchfall leidet, neben dem Fahrer in der Kabine. Ruhr! „Der Gestank wurde unerträglich, ich legte ihr so gut ich konnte alles Greifbare unter und warf das Angstverschmutze heimlich zum Fenster raus.“ Der Fahrer droht mit dem Rausschmiss. Auch das Vorankommen wird immer schwieriger: Verendete Pferde, Kühe und Schweine, schadhafte Wagen, weggeworfene Gepäcksstücke versperrten immer wieder die Fahrbahn. Am Straßenrand: improvisierte Gräber, „ein frisch aufgeworfenes Hügelchen, ein Kreuz drauf, mit einer Inschrift, von einem Spaten...“. Bei einem Halt reicht ihr eine Rotkreuzschwester eine Packung Zellstoff zum Fenster herein. Bald erkrankt auch die jüngste Tochter der Freundin an der Ruhr. In der Nacht schlachten die deutschen Soldaten ein Schwein und feiern mit den Begleitschwestern. Die Geflüchteten in ihrer Obhut bekommen nichts davon ab, „den Kindern blieb der Schnabel sauber“. 

Dann wieder tagelanges Festsitzen. 

Nach Flüchtlingsheimen in Wien und Herzogenburg landet Käthe zur Entbindung in einer Klinik mit richtigem Bett. „Mit weißer Wäsche. Nie in meinem Leben, weder vor- noch nachher, schien mir Bettwäsche weißer “. Sie gebiert einen Knaben. Ein Kind mehr zu versorgen! Im Lager: Hunger und täglich Fliegeralarm…

Am 21. Dezember 1944 holt ihr Schwager sie nach Polen. Und genau am selben Tag geht die Fluchtgeschichte ein Jahr später in Fortsetzung: über Dresden ins Elbtal, über Egern nach Bayern, Holledau. Und unter den gegebenen Umständen fast schon unverständlich gibt es plötzlich ein Happy End: „Anfang Juni, am Fronleichnamstag endlich, stand mein Mann vor uns.“

Daheimgeblieben: „Jeder wusste, wir sind zurzeit Freiwild“

Haas bezweifelt, dass sich die Flüchtenden der Tragweite und des Ausmaßes ihrer Entscheidung bewusst waren: die anschließenden Plünderungen von Vorräten, Hausrat und Vieh durch die anderen ethnischen Gruppen ihres Heimatortes, die sofortige Besetzung der Häuser durch Familien aus den rumänischen und serbischen Stadtteilen, die Strapazen einer solchen Flucht.

In Marienfeld waren rund 20 Prozent der Bewohner nicht geflüchtet, erinnern sich Elisabeth Hegel und Helene Günther („Der 23. August 1944 in Marienfeld und die Tage danach“). Die Radios und Fahräder wurden eingezogen. „Die Leute standen am Gemeindehaus herum und beratschlagten über Flüchten oder Verbleiben. Um fünf Uhr nachmittags war das Dorf dann leer. Die Menschen versteckten sich. Die Hunde kläfften. Das zurückgelassene Vieh schrie.“ - „Jeder der Daheimgebliebenen wusste: wir sind zurzeit Freiwild.“ - „Pack und Gesindel lief hastig in leerstehende Häuser. Dort fraßen sie sich voll bis zum Gehtnichtmehr. Und raubten und plünderten.“ Partisanen hatten 48 Stunden Plünderungsrecht. Zu Hunderten fielen sie ein. Dann zogen russische Truppen durch Marienfeld. Die Dorfbewohner sahen aus den Dachluken bis spät in die Nacht hinunter. Einige Männer schlugen sich durch die Front und brachten Nachrichten von den aus Marienfeld Geflüchteten. „Was uns am meisten Sorgen machte, war der Bericht, dass Transporte mit Jugoslawien-Deutschen bereits unterwegs in die UdSSR waren.“

Rückkehrer: Was blieb von der Heimat?

Von den Geflüchteten sei nach dem Krieg etwa die Hälfte zurückgekehrt, schreibt Haas. Der Rest verblieb in Österreich oder Deutschland oder zog weiter nach Frankreich oder Übersee, sogar bis nach Brasilien (Entre Rios). Die Flucht sei damit der eigentliche Zeitpunkt, an dem der Exodus der deutschen Minderheit aus dem Banat begann. 

So manche Flucht verlief in Etappen. Die Familie von Hans Haas flüchtete zuerst nur bis Ungarn, dann erhielten sie die Nachricht, „der Russe wäre weit zurückgeschlagen worden“ und kehrten wieder heim. Die eigentliche, ernsthafte Flucht erfolgte am 7. Oktober: Mit dem bereitgestellten Wehrmachtsauto ging es über Keglewitschhausen, Albeba und Kübeckshausen (Ungarn) bis Szegedin. Vor der Theißbrücke dann ein Fliegerangriff. 

In Österreich, Tulln an der Donau, holen die Sowjets die Flüchtenden ein. „Als diese hörten, dass wir aus Rumänien stammen, hielten sie uns für von den Nazis Zwangsverschleppte, für rumänische Arbeitskräfte.“ Da man sich sehnlichst eine Rückkehr in die Heimat wünschte, erhielten sie von den Russen einen Repatriierungsschein und Benzin für einen Traktor. Mit dem Traktor und mehreren Anhängern  begaben sich 35 Semikloscher Landsleute auf eine „beschwerliche Heimreise voller Gefahren, besonders für die jungen, weiblichen Treck-Angehörigen“.

Maria Muraru aus Keglewitschhausen berichtet über ihre Rückkehr aus Österreich mit dem Zug: „Wir bekamen einen Güterwaggon, den wir uns mit Leuten aus Sarafol teilen sollten. Die Heimreise begann.“ Unterwegs wurden sie mehrmals abgekoppelt und tagelang auf Nebengleisen stehengelassen. „Drei Wochen ging das so. Wir hatten Hunger, waren voller Läuse. In Bahnhöfen bettelten wir um Essen. Oft sind wir auf den Abstellgleisen überfallen und ausgeraubt worden.“ Was mag es da noch gegeben haben, das sich zu stehlen lohnte? Dann die ernüchternde Ankunft zuhause: Das Haus war besetzt, sie wurden einfach nicht hereingelassen. „Gute Nachbarn haben uns aufgenommen.“ Erst nach sechs Monaten zogen die Hausbesetzer fort, nicht ohne gründlich zu plündern. „Da saßen wir nun, mit hängenden Köpfen, in leeren Räumen, und wussten nicht, was mit uns und unserer Heimat anzufangen.“

Die langfristigen Folgen

Elfriede Müller hat „Gelesenes und Gehörtes“ über die deutsche Gemeinde in ihrem Heimatort zusammengetragen: 114 Leute aus Tschanad gefallen oder vermisst, 34 in Russland gestorben, 14 im Bărăgan, zwischen 1940 und 1970 verlor die Gemeinde 1358 Personen durch Tod oder Flucht, wenige durch Familienzusammenführung, später 1400 als Aussiedler oder Spätaussiedler. 

Aus den 1990er Jahren erinnert sie sich an einen Spaziergang mit ihrer Mutter im Tierpark von München. Ein Studienkollege aus Moskau, ebenfalls mit seiner Mutter unterwegs, hatte sie gesichtet und wollte zu einem kleinen Plausch aufholen. „Als die beiden 2-3 Schritte hinter uns waren, konnte man verstehen, dass sie Russisch  sprachen. Meine Mutter wurde bleich, blieb wie zur Salzsäule erstarrt stehen und sagte nur: Russen.“


Flucht 1944

Die Flucht wiederholt sich,
wie Hunderte hinterein-ander
fahrende Wagengespanne,
schlüpft täglich durch die Wurmlöcher
der Pendeluhr,
wenn die Großmutter betet und
von ihrem toten Kind erzählt,
das allein zurück blieb,
im Bombentrichter 
des Tieffliegers.

(Anton Sterbling, August 2024)