Der Titel des Romans „Zwischen Grenzen und Zeiten“ umfasst „die Raum-Zeit-Koordinaten“ (Wittstock, Joachim/ Sienerth, Stefan (Hrsg): Die rumäniendeutsche Literatur in den Jahren 1918-1944. Beiträge zur Geschichte der rumäniendeutschen Dichtung. Bukarest, Kriterion Verlag, 1992, S.244) während der ersten zwei Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts.
Der Hauptheld Lutz Rheindt, das alter ego Zillichs (Myss, Walter: Fazit nach achthundert Jahren. Verlag des Südostdeutschen Kulturwerks, München,1968, S.92) wuchs in einer Siedlung in der Nähe von Kronstadt auf, wo sein Vater Direktor der neugegründeten Zuckerfabrik war. Schon in seinen Kinderjahren erfuhr er, dass es in Siebenbürgen mehrere Völker gibt, die zusammenleben: „Ich sah als Kind die Eigenart jedes der Völker, die das Schicksal beinander leben hieß, erkannte ihre Werte und Schwächen, erkannte auch, dass sich in solchem Lande, wo verschiedene Völker seit Jahrhunderten gemeinsam unter der Geschichte stehen, unabhängig von ihrem politischen Willen und ihrer zeitlichen Macht oder Unterlegenheit, eine Weisheit des Miteinanderlebens ausbildet.“ ( Zillich, Heinrich: Heimat und Ahnen. In: Klingsor. 3/1937, S. 94)
Der Schauplatz der Handlung ist sowohl als Ausmaß beschränkt, im Falle der Fabrikssiedlung und deren Umgebung, als auch ausgedehnt, wenn vom Ersten Weltkrieg die Rede ist, da er sich dann über weite Gebiete der österreichisch-ungarischen Monarchie erstreckt. Im Roman ist eine bestimmte Bewegung zu finden. Diese wird durch den ständigen Perspektivenwechsel Enge-Weite des dargestellten Raums, Leben in der Heimat – Leben in der Welt erzeugt.
Die Voraussetzungen für das Erleben weiterer Lebensbereiche ist im Falle des Haupthelden - so St. Sienerth - die Fabrikssiedlung, das Burzenland und Kronstadt. Diese Orte helfen Lutz dabei, sich in der Fremde anzupassen und das ohne besondere Schwierigkeiten, da er von klein an darauf orientiert war, die sprachliche, nationale, konfessionelle und psychische Verschiedenartigkeit der Menschen wahrzunehmen.
Das beste Beispiel des Miteinanderlebens, des Füreinanderdaseins zeigt die Episode, in der vom Lehrer Bingerbrück gesagt wird, dass er: „am Montag die katholischen Kinder nach dem allgemeinen Unterricht zurückbehielt und ihnen den römischen Glauben vermittelte, aber am Dienstag die evangelischen aus ihrem Religionsbuch lehrte, am Mittwoch die orthodoxen in die erste Bank setzte und ihnen Gottes östliche Offenbarung eintrichterte, am Donnerstag den Reformierten ihre Seligkeitsfibel beibrachte, am Freitag die Unitarier ihren Halleluja-Weg schreiten ließ, und dann war der Sonnabend da, der eigentlich Hirsch gehört hätte, aber aus Bingerbrücks katholischem Schlauch rann wohl jeder Ketzerwein, nur der mosaische nicht, und so machte Hirsch das beste Geschäft, um das ihn alle beneideten, die katholischen, die evangelischen, die unitarischen, die reformierten und die orthodoxen Kinder.“ (Zillich, Heinrich: Zwischen Grenzen und Zeiten. Albert Langen-Georg Müller Verlag, München, 1937, S.58)
Im selben Sinn kann auch das Zusammenhalten des halbwüchsigen Lutz Rheindt und dessen rumänischem Freund Nicolae betrachtet werden, da die aus der Kindheit befreundeten Jungen sich nicht entfremden lassen, obwohl es nationale und politische Gegensätze gab. Lutz bemerkt ständig die Unterschiede, die es unter den verschiedenen im Burzenland lebenden Menschen gibt: „Wir Sachsen sind die einzigen Deutschen Ungarns, die sich noch wehren. Und Wien macht so, als begriffe es nichts von dem, was hier geschieht. Und Berlin erst, Berlin! ......Der Knabe fragte vielerlei: Wer hat die große Kirchenburg in Tartlau gebaut? Die Bauern! Warum haben die Rumänen keine Burgen gebaut? Warum die Ungarn nicht? Warum errichten Rumänen und Ungarn nicht auch so große Häuser wie die Sachsen? Als der Vater auf die Bartholomäer Kirche zeigte, erzählt er Lutz, es sei eins von „unseren Kir-chen…Was klar und groß gefügt war…ist deutsch; das gilt für Menschen, Pferde, Wagen, Kirchen, Häuser, Tische, Truhen, Pflüge und Ochsen.“
Obwohl diese deutlichen Unterschiede schon vom Kind bemerkt werden, sind alle nationalen Gegensätze in den meisten Fällen überbrückt worden. Es wird sogar oft deutlich, dass die Rumänen aus den anderen Landesteilen eben anders sind, als jene aus Siebenbürgen:
„Dort aber … dort sitzen die rumänischen Knechte und Pächter heute als Bauern und haben von uns gelernt seit Jahrhunderten. Sie tragen Stiefel wie unsere Bauern, haben Stahlpflüge wie die unseren. In anderen Gegenden gehen sie oft noch in Bundschuhen und verwenden Holzpflüge.“
Klaus Popa bezeichnet Siebenbürgen als Raum in dem „zahlreiche Völkerschaften seit Jahrhunderten neben-und miteinander, manchmal auch gegenei-nander lebten und leben.“ (Popa, Klaus: Wo saß der Feind eigentlich? Gedanken über das siebenbürgische Gegeneinander der ersten Jahrhunderthälfte. In: Dossier Heinrich Zillich Teil I (1898-1988). S.1/ unter www.halbjahresschrift. homepage.t-online.de, am 15.03.2011). Er richtet seine Aufmerksamkeit auf den Geist des „Gegeneinan-der“ und das „stereotype Feindbild“. K.Popa spricht davon, dass die Siebenbürger Sachsen sich als „zivilisatorischer und Kulturfaktor“ in Siebenbürgen gesehen haben. Das siebenbürgisch-sächsische Selbstbild ist ein Überlegenheitsgefühl, welches „in literarischem wie kulturellem Kontext zuweilen in Überheblichkeit, Vermessenheit, selbst Arroganz ausartet“. Für ihn ist der Geist des Gegeneinander viel stärker vorhanden als jener des Füreinander.
Am 24. Mai 1936 erschien ein Fragment aus dem Roman „Zwischen Grenzen und Zeiten“ unter dem Titel „Die Zinnenschlacht. Eine Geschichte aus der Vorkriegszeit Siebenbürgens“, darin wird eine regelrechte Schlacht zwischen sächsischen und ungarischen Jungen dargestellt. Die sächsischen Jungen können mit Unterstützung der rumänischen Jungen den ungarischen standhalten.
Es erscheint die Gestalt eines Kronstädter Königsrichters, Traugott Zaminer, der die Sachsen mit nationalistischen Zurufen anfeuert:
„Seid ihr auch so dumm wie eure Väter? Taktisiert ihr euch auch in Niederlagen hinein? Flankendeckung! Haut sie, schmeißt mit Steinen - Wisst ihr, was sie uns genommen haben? Ihr wisst es nicht, niemand weiß es mehr. Das sächsische Freitum, den Königsboden, die Herrschaft!“
Die Zeitungen stellten am nächsten Tag die Ereignisse ganz unterschiedlich dar:
„... die Kronstädter Zeitung schrieb, es sei tief bedauerlich, dass das unschuldige Spiel sächsischer Kinder von aufgehetzten ungarischen Schülern in gemeiner Weise gestört worden sei.“ Die ‚Brassoi Lapok’ erwähnte, sächsische und rumänische Schüler hätten die ungarische Nation unflätig beschimpft. (...) Die rumänische Wochenzeitung ‚Gazeta Transilvaniei’ brachte ein Gedicht auf die Fürsten der Donautiefe, die im Mittelalter siegreich durch die Pässe eingedrungen waren und die Ungarn geschlagen hatten.“
Die Beziehung, in der sich die sächsischen Jungen den ungarischen gegenüberstehen, ist eindeutig eine „Freund-Feindbeziehung“, man kann sogar behaupten, die Ungarn seien „zum Todfeind der Siebenbürger Sachsen stilisiert“ .
Für Klaus Popa ist aber auch das Rumänenbild von Vorurteilen geprägt, da in dem Abschnitt aus dem Roman, in dem Lutz den Glauben an den Weihnachtsmann, er nennt ihn aber Nikolaus, verliert, eben weil dieser ein Rumäne gewesen sein soll. Diese Episode sei – laut K. Popa – auch von Vorurteilen geprägt. Der Grund für den Verlust soll ein rumänischer Hirte, namens Nicolae, gewesen sein, der am Weihnachtsabend mit einem Esel erschien, der Lutzens Weihnachtsgeschenk war. Beide stehen irgendwie unter Schock: einerseits Lutz, der wie gelähmt dasteht, andererseits der Hirte, der wie verzaubert vor dem Weihnachtsbaum stehen bleibt: „Der Nikolaus blickte den Baum an und sagte nichts. Er sah hinauf zur Tanne. Die Lichter in seinen Augen schienen vertausendfacht.“ Alle Anwesenden blieben nun gebannt stehen, da der Hirt in rumänischer Sprache zu beten anfing, so dass das Kind zu einer einzigen Schlussfolgerung gelangen konnte: der Nikolaus sei ein Rumäne. „Der Hirte schlug das Kreuz und begann zu beten. Fremd und unheimlich klangen seine Worte, die sie schon gehört haben mochten, aber niemals vor dem Christbaum. Er betete rumänisch. (…) Es verrückte ihm beinahe den Verstand: Der Nikolaus war ein Rumäne.“
Hans Bergel sieht diese Geschichte anders, denn Zillichs weihnachtliche Prosastücke gehören – laut Bergel – zum Besten, was diesem Schriftsteller je gelang. An diesem Erinnerungsstück wird deutlich, wo die Beispielhaftigkeit dieser Erzählkunst liegt: im Zusammenklang von Wirklichkeit und Geheimnis, das heißt, in der Spannung, die aus deren Gegensätzlichkeit erwächst, und in der Überlegenheit, mit welcher dichterisches Vermögen das Unvereinbarte vereinbart.
Ich finde Bergels Vergleich von Zillichs Werk mit der Ilias, die das untergegangene Troja wieder lebendig werden lässt, einleuchtend. Gleiches hat Zillich mit seinen Erzählungen, Novellen, Gedichten, Romanen und theoretischen Schriften in diesem südöstlichen Teil Europas auch erreicht:
Seit eh und jeh liegt hier einer der stärksten Antriebe des künstlerischen Schrifttums vor – in unserem Zusammenhang verwirklicht von einigen Schriftstellern, die uns damit jene „Ilias“ in die Hand gaben, mit deren Hilfe das untergegangene südostdeutsche Troja dermaleinst wird wiederentdeckt werden kann. (Bergel, Hans: Nachwort zu Wälder und Laternenschein. a.a.O., S.376)
Dass die Heimatstadt Heinrich Zillich geprägt hat ist eindeutig klar, er gesteht es selber ein, in seinem Aufsatz „Vom Wesen Kronstadts“: Diese Stadt ist ein Teil meines Geistes und ich bin ein Teil ihrer Art – in solcher Versponnenheit des Lebensgrundes stehe ich zu ihr. Sie ist meine Heimat. Und Heimat bleibt sich nicht immer gleich. Sie wandelt sich, indem wir uns wandeln, und wir wandeln uns, wenn sie sich in eine neue Phase ihres Daseins rüstet. (Zillich, Heinrich: Vom Wesen Kronstadts, Sonderdruck aus dem Siebenbürgisch-deutschen Tagesblatt. Hermannstadt, 1927, S.1)
Die Sendung als Dichter seines Volkes ist für Zillich das Wichtigste gewesen, was ich für das volle Verständnis seiner Persönlichkeit als unentbehrlich halte. Er behauptet nämlich, die Aufgabe der Dichtung ist, (...), dass sie verdichte und das Leben bedeutend und ausdeutend so vor uns hinstelle, dass wir es in seiner Macht und vor allem in seinem Sinn begreifen und von ihm überwältigt werden. (Zillich, Heinrich: Über den Leser. In: Klingsor. 11-12/1938, S.411). Es muss ja etwas Wahres daran sein, dass das Werk bleibt, auch wenn die Zeiten vergehen. Diese Worte Zillichs möchte ich erwähnen, damit wir uns auf die Bedeutung seines Wirkens und seines Werkes konzentrieren können: Stärker als alles ist die Dichtung, denn sie bleibt, wenn die verwirrend vielen Äußerungen eines Jahrhunderts verklingen, und hebt sich, letztgültige Sinnschrift des Gewesenen, voll dauernden Lebens über Millionen Gräber. (Zillich, Heinrich: Über den Leser. a.a.O, S.412)