Noch bis zum Spätherbst will die Regierung bekanntlich die angestrebte tiefgreifende Verfassungsnovelle durchziehen und danach womöglich bis Jahresende auch mit einer Verwaltungsreform nachlegen. Über diese im Eiltempo zu erfüllenden Vorhaben sowie die jüngsten Entwicklungen im Bereich Justiz und Rechtsstaatlichkeit sprach ADZ-Redakteurin Lilo Millitz-Stoica mit Thorsten Geissler, Leiter des Rechtsstaatsprogramms für Südosteuropa der Konrad Adenauer-Stiftung (KAS).
Herr Geissler, wie ist es aus Ihrer Sicht derzeit, genau ein Jahr nach Ausbruch der schweren Staatskrise, um die Rechtsstaatlichkeit in Rumänien bestellt?
Das Thema Rechtsstaatlichkeit in Rumänien darf nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Staatskrise des vergangenen Sommers betrachtet werden. Vergessen wir nicht, dass die EU-Kommission Rumänien in zwei Fortschrittsberichten im Jahr 2011 und einem im ersten Halbjahr 2012 durchaus Fortschritte im Justizbereich attestiert hatte, allerdings auch weiterhin bestehende Defizite aufzeigte. Die Staatskrise des vergangenen Sommers hat die letzten EU-Berichte völlig überlagert, weil ernsthafte Zweifel entstanden, ob Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit in Rumänien zur Disposition standen. Die Lage hat sich beruhigt, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit werden wieder respektiert und ich hoffe, dass dies dauerhaft der Fall sein wird. Mit Sorge erfüllt mich, dass ein Teil der Richter und Staatsanwälte immer noch über politischen Druck auf die Justiz klagt. Auch werden z. B. Entscheidungen der Nationalen Integritätsbehörde ANI nicht so respektiert, wie es geboten wäre.
Kamen die innenpolitischen Turbulenzen des letzten Sommers für Sie überraschend oder waren sie Ihrer Meinung nach absehbar? Was hat Sie dabei als Leiter eines Rechtsstaatsprogramms am meisten geschockt?
Die Ereignisse des vergangenen Sommers waren wohl für alle Ausländer, die aus Demokratien westlichen Typs kommen, ein Schock. Eine solche Aneinanderkettung von politischen Maßnahmen, die rechtsstaatliche Grundsätze verletzen, wäre dort nicht denkbar gewesen. Am meisten geschockt hat mich der Versuch, die Kompetenzen des Verfassungsgerichts per Eilverordnung zu beschneiden, die Abwahl des Ombudsmanns mit dem Ziel, eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Eilverordnungen zu verhindern, und der Versuch, das für eine Absetzung des Präsidenten erforderliche Quorum im laufenden Verfahren per Eilverordnung abzuschaffen. Die Venedig-Kommission des Europarates hat hierzu in ihrer Stellungnahme deutliche Worte gefunden. Das Ergebnis des Referendums vom 29. Juli 2012 war eindeutig – das erforderliche Quorum war verfehlt worden. Dass dennoch versucht wurde, das „gewünschte Ergebnis“ zu erzielen, war ein denkwürdiger Vorgang. Letztlich haben aber alle politischen Akteure die Entscheidung des Verfassungsgerichts respektiert, die das Scheitern des Referendums festgestellt hatte. Dass das Verfassungsgericht die Feuerprobe im vergangenen Jahr bestanden hat, ist im Übrigen äußerst positiv zu bewerten.
Regierung und Präsidentschaft heben dieser Tage oft und gerne hervor, dass die politische Stabilität des Landes inzwischen wieder gewährleistet sei. Stimmt das aus Ihrer Sicht?
Es ist zu begrüßen, dass Präsident und Premierminister ein Abkommen getroffen haben, das eine institutionelle Form der Zusammenarbeit ermöglicht – ich hoffe, dies ist von Dauer. In einer Demokratie gilt der Grundsatz, dass Staatsorgane respektvoll miteinander umzugehen haben – dies trägt auch zu ihrem Ansehen in der Bevölkerung bei. Nicht nur in Rumänien wäre es für manche Politiker ratsam, verbal abzurüsten, denn eine politische Kultur erlaubt zwar den scharfen, auch leidenschaftlichen Kampf um die Sache mit Argumenten, nicht aber die Verunglimpfung des politischen Gegners.
Das Rechtsstaatsprogramm der KAS für Südosteuropa visiert, neben den EU-Staaten Rumänien, Bulgarien und das künftige EU-Mitglied Kroatien, hauptsächlich Länder außerhalb des EU-Raumes: Albanien, Bosnien-Herzegowina, das Kosovo, Mazedonien, Montenegro, die Republik Moldau und Serbien. Eigentlich kein sehr schmeichelhaftes Zeugnis für Rumänien, sieben Jahre nach EU-Beitritt immer noch Nachhilfe in puncto Rechtsstaatlichkeit erhalten zu müssen ... Wo sehen Sie gegenwärtig den größten Nachholbedarf, welches sind die Schwerpunkte des Rechtsstaatsprogramms für Rumänien?
Alle Staaten in Südosteuropa standen nach den Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 vor gewaltigen Aufgaben. Der Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens und einer unabhängigen und unparteiischen Justiz ist nicht einfach, insbesondere dann, wenn ein Elitenwechsel nur schrittweise erfolgt. Rumänien und Bulgarien haben sich im Zuge des EU-Beitrittsverfahrens verpflichtet, eingeleitete Reformen im Bereich der Justiz fortzusetzen, dabei ist die EU behilflich. Das Rechtsstaatsprogramm der KAS leistet keine „Nachhilfe“, sondern unterstützt und berät, wenn Partner in Rumänien oder anderen Programmländern dies wünschen. Bereits im vierten Jahr führen wir in Rumänien ein Förderprogramm für hochqualifizierte Nachwuchsjuristen durch, wir unterstützen Korruptionsprävention und -bekämpfung, werben für den Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten, unterstützen Fortbildungsmaßnahmen z. B. für Bewährungshelfer und stärken regionale Netzwerke von Institutionen und Fachleuten. Die geplante Verfassungsreform werden wir gern beratend begleiten.
Staatschef Traian Băsescu erklärte unlängst, mit EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy eine „Strategie zur Beendigung“ des laufenden Kooperations- und Kontrollmechanismus zum Stand der Justizreform und Korruptionsbekämpfung (CVM) erörtert zu haben. Es ist nicht zum ersten Mal, dass der Präsident auf eine Aufhebung des CVM drängt. Ist Rumänien Ihrer Meinung nach soweit bzw. reichen die bisher erzielten Fortschritte?
Der Kooperations- und Verifikationsmechanismus für Rumänien und Bulgarien tritt außer Kraft, sobald die Benchmarks erreicht sind, und es ist in aller Interesse, darauf hinzuwirken, dass dies möglichst schnell der Fall sein wird. Natürlich könnte der Mechanismus auch vorzeitig beendet werden, aber wäre dies wirklich im Interesse Rumäniens und Bulgariens? Ich sehe den Mechanismus als eine wichtige und wirksame Hilfestellung an – wichtig ist dabei, dass die EU-Kommission weiterhin nicht nur auf Verifikation, sondern gleichzeitig auf Kooperation setzt.
Im Übrigen unterliegt die Leistungsfähigkeit der Justiz aller EU-Mitglieder seit diesem Jahr einem Monitoring. Im März dieses Jahres veröffentlichte die EU-Kommission zum ersten Mal ein EU Justice Scoreboard. Dieses Monitoring kann den Kooperations- und Verifikationsmechanismus mit Rumänien und Bulgarien wohl ergänzen, nicht aber auch ersetzen.
Was halten Sie vom jüngsten Ernennungsverfahren der Chefermittler? Ist es richtig, den Generalstaatsanwalt des Landes und den Leiter der Antikorruptionsbehörde DNA aufgrund politischer Absprachen, ohne ein transparentes Auswahlverfahren zu ernennen, selbst wenn die geltenden Regelungen dies ermöglichen?
Das Verfahren bei der Besetzung der Stellen des Generalstaatsanwaltes und der Leiterin der DNA ist nicht in jeder Hinsicht so verlaufen, wie von der Kommission vorgeschlagen – dies hat die EU-Kommission verständlicherweise kritisiert. Nach der Nominierung von Tiberiu Niţu und Laura Codruţa Kövesi hat die Kommission jedoch auch erklärt, es komme jetzt darauf an, nach vorne und nicht zurückzublicken. Der neue Generalstaatsanwalt und die neue Leiterin der DNA stehen vor großen Herausforderungen, sie werden an ihren Leistungen zu messen sein und sollten eine faire Chance erhalten.
Die EU-Kommission hatte bezüglich dieser Ernennungen äußerst klare Empfehlungen abgegeben. Was sollte Ihrer Meinung nach nun in den folgenden Monaten geschehen, um dieses Manko aus der Welt zu schaffen?
Die Empfehlungen der EU waren sachgerecht. Dennoch bin auch ich der Auffassung, dass es jetzt darauf ankommt, nach vorne zu blicken. Die Arbeit der DNA ist von der EU-Kommission in den vergangenen Jahren sehr gewürdigt worden, hier gilt es, an Erfolge anzuknüpfen. Auch der neue Generalstaatsanwalt wird schwierige Aufgaben zu bewältigen haben, er muss u. a. darauf hinwirken, dass die Bevölkerung Vertrauen in die Arbeit der Staatsanwaltschaft schöpft. Es ist beunruhigend, dass nach einer jüngst veröffentlichten Meinungsumfrage nur 42,8 Prozent der Rumänen ein solches Vertrauen haben.
Die Regierungskoalition will bekanntlich bis Jahresende eine Verfassungsnovelle durchziehen. Zurzeit arbeitet der damit beauftragte Parlamentsausschuss hinter geschlossenen Türen, gegen diese Vorgangsweise protestierten bereits ein Dutzend rumänische NGOs, darunter SAR, Active Watch und APADOR-CH. Ist Geheimniskrämerei in einer derartigen Angelegenheit aus Ihrer Sicht berechtigt?
Es ist nicht zu beanstanden, wenn Vorarbeiten nicht öffentlich geleistet werden. Der eigentliche Prozess der Verfassungsreform muss jedoch in einem geordneten und transparenten Prozess und ohne unangemessenen Zeitdruck erfolgen. Auch ist es wichtig, dass die Opposition eingebunden wird und in der künftigen Verfassung angemessene Rechte erhält. Das ist auch im Interesse der Regierung, denn eine starke Opposition trägt immer ungewollt zur Optimierung der Regierungsarbeit bei, indem sie z. B. auf Probleme hinweist, die dann von der Regierung gelöst werden können, oder indem sie Konzepte entwirft, die von der Regierung verwertet werden können.
Auch die geplante Regionalisierung ist ein ambitioniertes Vorhaben, hier gibt es die unterschiedlichsten Modelle. Eine für Rumänien angemessene Lösung zu finden, die klare Vorteile gegenüber dem bisherigen System mit sich bringt, kann nicht über Nacht gelingen. Ich kann nicht empfehlen, irgendetwas „mit der heißen Nadel“ zu stricken.
In dem mit der Verfassungsnovelle beauftragten Parlamentsausschuss sitzt kein einziger Verfassungsrechtler. Wie stehen Sie dazu, bietet das Anlass zur Sorge?
Nein, aber umso wichtiger ist es, dass sich Parlamentarier umfassend von in- und ausländischen Verfassungsrechtlern beraten lassen. Es geht darum, ein ausgewogenes Institutionengefüge zu gewährleisten, Kompetenzen der Staatsorgane sind klar abzugrenzen, Widersprüche müssen vermieden werden, dem Grundsatz der Normenklarheit ist Rechnung zu tragen. Da sich auch Verfassungsrechtler selten einig sind, ist dies ein komplizierter Prozess.
Was halten Sie von den Plänen der Machthaber, die Schwelle für das Referendum zur Annahme der Verfassungsänderungen zu senken? Verfassungsrechtler streiten ja bereits darüber, ob die Reform einer per 50-Prozent-Schwelle angenommenen Verfassung nun mit lediglich 30 Prozent der abgegebenen Stimmen abgesegnet werden darf ...
Es wundert mich, dass eine so wichtige Frage, welches Quorum bei einem Referendum über eine Verfassungsänderung für dessen Gültigkeit erforderlich ist, nicht durch die Verfassung beantwortet wurde, sondern durch ein Schwerpunktgesetz geregelt ist. In jedem Fall stärkt ein hohes Quorum die Legitimation einer Verfassung. Andererseits hat die Venedig-Kommission darauf hingewiesen, dass Quoren in europäischen Ländern, deren Verfassungen Referenden vorsehen, eher eine Ausnahme darstellen. Ich sehe daher mehr eine rechtspolitische als eine verfassungsrechtliche Problemstellung.
Im Fall eines Referendums über die Abwahl eines Präsidenten gebe ich jedoch zu bedenken, dass ein hohes Quorum sinnvoll sein kann. Gute Politiker können nicht dauerhaft populär sein, sie müssen gelegentlich unpopuläre Entscheidungen treffen. Ein niedriges Quorum versieht die Träger unpopulärer, gleichwohl aber notwendiger Entscheidungen mit einem höheren Abwahlrisiko – das kann eine Gesellschaft teuer zu stehen kommen. Zugleich gefährdet es die Stabilität von Verfassungsorganen.
Abschließend: Wie angeschlagen ist das Image des rumänischen Rechtsstaates derzeit noch in Deutschland? Oder hat der politische Waffenstillstand in Bukarest die Besorgnis der deutschen Politiker inzwischen restlos zerstreuen können?
Rumänien und Deutschland sind Partner auf vielen Gebieten, zudem verbindet beide Länder ein über zwanzig Jahre alter Freundschaftsvertrag. Die Ereignisse des vergangenen Sommers haben dem Ansehen Rumäniens nicht nur in Deutschland Schaden zugefügt, aber dies ändert nichts daran, dass Deutschland Rumänien wohlgesonnen bleibt. Daher muss es Ziel sein, dass alle noch verbliebenen Zweifel und Besorgnisse in Deutschland und anderen EU-Ländern ausgeräumt werden. Eine geordnete und überzeugende Verfassungsreform kann zur Erreichung dieses Ziels sehr dienlich sein. Ich setze voraus, dass diese Verfassung dann von allen respektiert und Rumänien auch weitere Fortschritte bei Reformen im Justizbereich machen wird. Es besteht für mich kein Zweifel, dass dies dann in Deutschland und den anderen EU-Ländern angemessen gewürdigt werden wird.
Besten Dank für Ihre Ausführungen.